25 November 2022

EU to go: Zurück in den Abschwung – wie krisenfest ist die EU?

In der Podcastserie „EU to go – Der Podcast für Europapolitik“ präsentiert das Jacques Delors Centre kompakte Hintergründe zur aktuellen Europapolitik. Einmal im Monat analysiert Moderatorin Thu Nguyen zusammen mit Gästen ein aktuelles Thema. In 20 bis 30 Minuten erklären die Policy Fellows und Forscher:innen Zusammenhänge und stellen Lösungsansätze vor.

„EU to go – Der Podcast für Europapolitik“ erscheint hier im Rahmen einer Kooperation mit dem Jacques Delors Centre. Er ist auch auf der Homepage des Jacques Delors Centre selbst sowie auf allen bekannten Podcast-Kanälen zu finden.

Pandemie, Krieg, hohe Energiepreise und steigende Inflation: Die EU ist derzeit mit multiplen Krisen konfrontiert. Auch eine neue Finanzkrise ist nicht ausgeschlossen. Wie krisenfest die EU ist und welche Instrumente es braucht, damit sie auch in Zukunft krisensicher bleibt, darüber diskutiert Thu Nguyen mit Johannes Lindner, Co-Direktor des Jacques Delors Centres, und mit Rolf Strauch, Chefökonom beim ESM.

In einem Deep Dive schlagen die beiden Gäste einen Bogen zu vergangenen Krisen und erklären, warum die EU heute besser aufgestellt ist als noch vor zehn Jahren.

22 November 2022

Kompromissfähigkeit statt Alleingänge: Der deutsch-französische Motor muss seine Dynamik wiederfinden

Von Michel Derdevet und Stefan Seidendorf
Deutsche und französische Flagge.
In Sachen Energie und Verteidigung ist deutsch-französische Teamarbeit nötig.

In genau zwei Monaten wird der Elysée-Vertrag sechzig Jahre alt. Er ist das Symbol der Versöhnung der beiden Länder, aber auch bis heute der politische Rahmen ihrer bilateralen Zusammenarbeit. Obwohl es also Grund zum Feiern gäbe, dominieren derzeit Differenzen und Unverständnis. Spannungen zeigten sich in den letzten Wochen vor allem angesichts der Energiekrise sowie in der europäischen Verteidigungspolitik. Diese Differenzen gipfelten in einer historischen Premiere mit hoher politischer Bedeutung: der Verschiebung des deutsch-französischen Ministerrats, der ursprünglich für den 26. Oktober geplant war, auf Mitte Januar 2023.

Es ist nun höchste Zeit, die Gegensätze zwischen unseren beiden Ländern gemeinsam anzugehen und nach Kompromissen zu suchen, die Europa voranbringen. Dazu braucht es deutsch-französische Führung.

Spannungen nach nationalen Alleingängen

Die Spannungen entzündeten sich zunächst am „Alleingang“, mit dem die Bundesregierung am 29. September ihren 200-Milliarden-Euro-Schutzschild ankündigte. Die massive Unterstützung für die deutschen Haushalte und Unternehmen angesichts steigender Energiepreise hätte in der Tat vorher mit den anderen Mitgliedern des EU-Binnenmarkts abgesprochen werden können.

Aber auch der französische plan de sobriété war Ausdruck rein nationaler Politik, wo eine deutsch-französische Koordinierung sinnvoller gewesen wäre: sie hätte dem europäischen Green Deal zu mehr Substanz verholfen und die notwendigen Veränderungen im Verhalten der Europäer:innen beschleunigt.

Faktische Solidarität in der Energieversorgung

Betrachtet man nur die Spannungen, übersieht man eine Realität, die angesichts der Energiekrise im Mittelpunkt der deutsch-französischen Beziehungen stehen müsste. Seit dem 13. Oktober liefert Frankreich erstmals Gas an Deutschland und Deutschland Strom an Frankreich, um dessen derzeitige Schwierigkeiten bei der Produktion von Atomstrom auszugleichen. Faktisch besteht also eine gegenseitige Solidarität. Sie war Anfang September auch Gegenstand einer politischen Übereinkunft zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz.

Dem müsste politisch jedoch auch längerfristig Rechnung getragen werden. Zwischenstaatliche Abkommen könnten ein Schritt auf dem Weg zur Entstehung einer europäischen Energiepolitik sein, die sich um die bestehenden Abhängigkeiten und Solidaritäten zwischen den Mitgliedstaaten herum entwickelt. So könnten auch Staaten außerhalb der EU einbezogen werden, zum Beispiel im Rahmen der von Präsident Macron vorgeschlagenen Europäischen Politischen Gemeinschaft, die am 6. Oktober in Prag zum ersten Mal zusammenkam.

Die Energiepolitik über den Winter hinaus denken

Diese Form der europäisch eingebetteten bilateralen Zusammenarbeit könnte über die Gasversorgung hinaus auch auf innovative Bereiche, etwa die Entwicklung einer europäischen Wasserstoffbranche, angewandt werden. Denn über die nötige Solidarität im Hinblick auf den kommenden Winter hinaus steht die EU vor einer kopernikanischen Wende in ihrer Energiepolitik: Bis 2050 soll die Erzeugung von Strom um etwa 35 % gesteigert werden, während gleichzeitig CO2-Neutralität erreicht werden soll.

Die Umsetzung dieser Ziele, die im Green Deal der EU festgelegt wurden und zu denen sich Frankreich und Deutschland im Oktober erneut gemeinsam bekannt haben, muss die Perspektive und der Gegenstand der gemeinsamen Arbeit Frankreichs und Deutschland sein. Sie dürfen angesichts der aktuellen Differenzen unter keinen Umständen aus den Augen verloren werden. Es geht dabei um nichts weniger als die Entwicklung einer echten „Europäischen Energieunion“.

Ein geopolitisches Europa

Die aktuellen Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland konzentrieren sich außerdem auf den Verteidigungsbereich, wo die Zusammenarbeit bei der Entwicklung ambitionierter gemeinsamer Rüstungsprojekte (Kampfpanzer und Kampfflugzeug der nächsten Generation) ins Stocken geraten ist. Auch hier war die Initiative der Bundesregierung, die im Rahmen der NATO zu einer Kooperation von 15 Staaten (ohne Frankreich) bei der Entwicklung einer gemeinsamen Luftabwehr führte, Ausdruck tieferliegender Probleme. Die Entwicklung eines gemeinsamen Raketenabwehrschildes der EU-27 ist nun zunächst ausgesetzt.

Dabei gibt es auch im Verteidigungsbereich gemeinsame Interessen, die trotz aller Schwierigkeiten ein gemeinsames, abgestimmtes Handeln dringend nahelegen. Dies gilt natürlich im Hinblick auf die Solidarität mit der Ukraine. Darüber hinaus geht es darum, eine gemeinsame strategische Kultur der EU zu entwickeln, die im „Strategischen Kompass“ erst in groben Zügen angelegt ist. Dieser Prozess benötigt den gemeinsamen Willen der politischen Führung, damit sich die unterschiedlichen Ansichten über die geopolitische Rolle Europas annähern.

Ausgleich zwischen unterschiedlichen Haltungen zur NATO

Die deutsch-französische Zusammenarbeit und der Kompromiss über die unterschiedlichen Vorstellungen zur Rolle der NATO sind die Voraussetzung, damit die Entstehung einer gemeinsamen strategischen Kultur gelingen kann und „europäische Souveränität“ möglich wird. Hier noch mehr als anderswo besteht die Daseinsberechtigung des deutsch-französischen Motors darin, einen Interessenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, zuallererst zwischen Frankreich und Deutschland.

Der Kompromiss muss zwischen denjenigen EU-Mitgliedstaaten gefunden werden, die eine amerikanische Verteidigung in Europa im Rahmen der NATO fordern, und denjenigen, die in diesem Bereich eine vollwertige europäische Souveränität aufbauen wollen. Trotz des kurzfristigen Kaufs von amerikanischem Material müssen deshalb die deutsch-französischen Anstrengungen zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie weitergeführt werden. Sie tragen zur Integration im Verteidigungsbereich bei.

Gegen den Narzissmus der kleinen Differenzen!

Die derzeitige deutsch-französische Pattsituation erlaubt keine tragfähigen europäischen Antworten auf die aktuellen Herausforderungen. Wie in der Vergangenheit, zuletzt 2020 während der Covid-19-Pandemie, muss deshalb die deutsch-französische Fähigkeit zum Kompromiss wieder zum Motor der europäischen Politik werden.

Es ist dringend an der Zeit, in einen neuen Dialog zwischen unseren beiden Ländern einzutreten, um Europa einen langfristigen Kurs angesichts der existenziellen Herausforderungen des Krieges und des Klimawandels vorzuschlagen. Beenden wir also den deutsch-französischen Narzissmus der kleinen Differenzen!

Michel Derdevet ist Präsident des französischen Europa-Thinktanks Confrontations Europe.

Stefan Seidendorf ist stellvertretender Direktor und Leiter der Europaabteilung des Deutsch-Französischen Instituts Ludwigsburg.


Bild: Deutsche und französische Flagge: Oliver Abels (SBT) [CC BY-SA 3.0], via Wikipedia Commons [cropped]; Porträts Michel Derdevet, Stefan Seidendorf: privat [alle Rechte vorbehalten].

16 November 2022

Mehr EU-Mehrheitsentscheidungen – aber wie? Rechtliche Möglichkeiten und politische Kompromissoptionen

Von Julina Mintel und Nicolai von Ondarza
Screenshot der App Voting Calculator
Durch mehr Mehrheitsentscheide soll die EU handlungsfähiger werden. Aber um dorthin zu kommen, sind noch manche Kompromisse und Paketdeals nötig.

Die Forderung, Mehrheitsentscheide auszuweiten, ist ein Dauerthema in der Debatte um die Handlungsfähigkeit der EU. Das Ziel war dabei stets dasselbe: In einer Union von aktuell 27 Mitgliedstaaten soll die Ausweitung von Mehrheitsentscheiden garantieren, dass die Anzahl an Vetospielern reduziert und somit die Kompromissfindung einfacher wird. Aktuell erhält diese Debatte aus drei Richtungen neue Impulse:

  • Zum einen hat die Konferenz zur Zukunft Europas im Mai 2022 ihren Abschlussbericht vorgelegt, welcher den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in fast allen Beschlüssen des Rates vorschlägt.
  • Zum anderen hat die Debatte über Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik durch die öffentlich umstrittene Nutzung von Vetomöglichkeiten neuen Nachdruck bekommen, wie etwa Ungarns beim sechsten Sanktionspaket gegenüber Russland.
  • Schließlich ist mit dem EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine und die Republik Moldau und der Wiederbelebung des Beitrittsprozesses für die Staaten des westlichen Balkans die Vision einer EU-30+ zurückgekehrt – und damit auch die Debatte über die Handlungsfähigkeit und Aufnahmekapazität der EU.

Doch politisch unbeantwortet bleibt die Frage, wie die EU zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommt.

Rechtliche Möglichkeiten

Ein Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat kann rechtlich auf verschiedene Weise erreicht werden. Eine Vertragsreform bedeutet in jedem Fall komplexe Anforderungen auf EU-Ebene, das heißt in der Regel einen Konvent, sowie hohe Hürden für die Ratifizierung auf nationaler Ebene. Für die Anwendung der allgemeinen Passerelle-Klausel ist das Verfahren einfacher, dennoch bestehen auf nationaler Ebene entscheidende Hürden.

Instrument Anwendungsbereiche Verfahren
auf europäischer Ebene
Erfordernisse
auf nationaler Ebene
Ordentliche Vertragsänderung:
Art. 48 (2–5) EUV
Alle Politikbereiche Abhängig von den Politikbereichen, in denen das Entscheidungsverfahren angepasst werden soll.
Teils ist ein Konvent mit anschließender Regierungskonferenz oder nur ein Beschluss der Regierungskonferenz nötig, jeweils mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten.
Ratifizierung nach den jeweiligen nationalen verfassungsrechtlichen Vorgaben
Allgemeine Passerelle-Klausel:
Art. 48 (7) EUV
AEUV und Titel V des EUV, einschließlich auswärtiges Handeln
(außer Beschlüsse mit militärischen Bezügen)
Einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates nach Zustimmung des EP mit absoluter Mehrheit. Übermittlung der Initiative an die nationalen Parlamente. Keine Ratifizierung durch die nationalen Parlamente notwendig. Dennoch bestehen entscheidende nationale Hürden.
Passerelle-Klausel zur GASP:
Art. 31 (3) EUV
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
(außer Beschlüsse mit militärischen Bezügen)
Einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates Beide speziellen Passerelle-Klauseln:
Ebenfalls keine Ratifizierung notwendig; nationale Hürden teilweise etwas niedriger als bei allgemeiner Passerelle-Klausel
Passerelle-Klausel zur Verstärkten Zusammenarbeit:
Art. 333 AEUV
Politikbereiche, die bereits Gegenstand einer Verstärkten Zusammenarbeit sind Einstimmiger Beschluss im Rat durch die an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Staaten

Die Hürden zur Anwendung der allgemeinen Passerelle-Klausel sind zwar etwas niedriger als bei ordentlichen Vertragsänderungen, aber politisch weder deutlich leichter noch schneller zu nehmen. Damit etwa die deutsche Vertreter:in im Europäischen Rat einem Beschluss zur Anwendung der Passerelle-Klausel zustimmen oder sich enthalten darf, ist gemäß dem Integrationsverantwortungsgesetz ein Gesetz im Sinne des Art. 23 (1) GG mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig. Auch in anderen Mitgliedstaaten, u.a. in Österreich, Dänemark, Polen, Irland, der Tschechischen Republik und Malta, ist parlamentarische Zustimmung notwendig.

Für einige wenige Politikbereiche enthält der EU-Vertrag spezielle Passerelle-Klauseln für den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen. Die auf europäischer und nationaler Ebene vorgesehenen Verfahren, um sie zu aktivieren, sind teilweise etwas einfacher als bei der allgemeinen Klausel. Seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags wurde bis dato jedoch keine der verschiedenen Passerelle-Klauseln angewendet.

Mehrheitsentscheide in der Praxis

Schaut man auf die Nutzung der seit 2010 veröffentlichten Abstimmungsprotokolle, so zeigt sich, dass sich die Mitgliedstaaten im Durchschnitt bei über 60 Prozent der Abstimmungen, bei denen eine Mehrheitsentscheidung möglich wäre, trotzdem einstimmig einigen. Nimmt man die Abstimmungen hinzu, bei denen es nur Enthaltungen, aber keine Gegenstimmen gibt, so erreicht der Rat nach unseren Berechnungen eine „Konsensquote“ von durchschnittlich knapp 82 Prozent. Die Überstimmung ganzer Gruppen von Staaten bleibt eine Seltenheit.

Trotzdem verändert die Mehrheitsregel die Dynamik von Entscheidungsprozessen in der EU. Dass Staaten nicht einfach ihr Veto nutzen können, sondern eine Sperrminorität organisieren müssen, erzwingt europäische Diplomatie und Kompromisse. Diese Verhandlungsdynamik, führt dazu, dass es bei über 80 Prozent der öffentlichen Abstimmungsergebnisse des Rates keine Gegenstimmen gibt, weil sich am Ende alle dem Kompromiss anschließen (oder sich enthalten). Mehrheitsentscheidungen sind also ein institutionelles Mittel, um leichter Kompromisse zu finden, insbesondere dann, wenn nur einzelne Mitgliedstaaten ihr Vetorecht zur Blockade nutzen.

Ein Garant für eine bessere Handlungsfähigkeit der EU sind sie jedoch nicht. Geht die Spaltung quer durch die Union, ermöglichen auch Mehrheitsentscheide keine Lösung, wie beispielsweise bei der seit 2015 de facto blockierten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Damit die EU handlungsfähig ist, braucht es also mehr als nur Mehrheitsentscheidungen.

Legitimatorische Probleme

Der hochumstrittene Mehrheitsbeschluss von 2015 zur verpflichtenden Verteilung von Flüchtlingen, der gegen den Willen mehrerer mittel- und osteuropäischer Staaten getroffen wurde und die Spaltung der EU in der Asyl- und Migrationspolitik vertieft hat, ist auch ein Beispiel für ein weiteres Problem beim Einsatz von Mehrheitsentscheidungen: Wenn Mitgliedstaaten in Fragen von hohem nationalem Interesse überstimmt werden, kann das negative Folgen für den Zusammenhalt und die Legitimation der EU haben.

Werden Entscheidungen gegen den Willen der jeweiligen Regierung gefällt und diese rechtlich zur Umsetzung verpflichtet, liegt die alleinige politische Verantwortlichkeit bei der EU. Dies kann EU-kritische Stimmen stärken und legitimatorisch nur begrenzt durch eine Beteiligung des Europäischen Parlaments ausgeglichen werden.

Gefahr struktureller Minderheiten

Zudem können sich auch dann legitimatorische Probleme ergeben, wenn einzelne Staaten regelmäßig überstimmt werden und so strukturelle Minderheiten entstehen. Das beste Beispiel hierfür ist das Vereinigte Königreich, das seit 2010 bis zum Brexit jedes Jahr der am häufigsten überstimmte Mitgliedstaat war. Heute sind es vor allem mittel- und osteuropäische Staaten, die Mehrheitsentscheidungen ablehnen, da sie eine von Frankreich und Deutschland dominierte EU befürchten, in der die Belange kleinerer Mitglieder in der Außen- und Sicherheitspolitik übergangen werden.

Aus den öffentlichen Abstimmungsergebnissen des Rates wird ein Trend erkennbar, der Befürworter:innen von Mehrheitsentscheiden zu denken geben sollte: Seit dem britischen Austritt ist es Ungarn, das am häufigsten im Rat überstimmt wurde, 2020 gemeinsam mit Polen. 2021 waren Polen und Ungarn für 40 Prozent der Gegenstimmen im Rat verantwortlich, die Visegrád-4-Staaten gemeinsam für 52 Prozent. Zugleich fiel in dieser Zeit kein Beschluss gegen die Stimmen von Deutschland, Frankreich und Italien. (Auf längere Sicht wurde allerdings zumindest Deutschland seit 2010 regelmäßig überstimmt, insgesamt sogar öfter als Polen, und kann deshalb glaubwürdig damit auftreten, Mehrheitsentscheidungen gegen die eigene Position zu akzeptieren.)

Insgesamt ist zu beobachten, dass in der ersten Hälfte der 2010er Jahre Gegenstimmen geographisch noch gleichmäßig über die EU verteilt waren, während in den letzten Jahren zunehmend ein Ungleichgewicht zuungunsten der mittel- und osteuropäischen Staaten entstanden ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass insbesondere diese Staaten skeptisch gegenüber einer neuerlichen Ausweitung von Mehrheitsbeschlüssen sind.

Widerstand einiger Mitgliedstaaten

Die notwendige Zustimmung aller EU-Staaten und die Hürden für nationale Zustimmungsverfahren bei Anwendung der allgemeinen Passerelle-Klausel verdeutlichen, warum die Debatte über Mehrheitsentscheidungen bislang im Sande verlaufen ist. Einige EU-Staaten sind strikt gegen die Abschaffung nationaler Vetos, da sie, wie Polen und Ungarn, befürchten, regelmäßig überstimmt zu werden, oder, wie Dänemark, Vertragsänderungen und institutioneller Vertiefung allgemein skeptisch gegenüberstehen.

Auch integrationsfreundliche Staaten wie Irland, die in Einzelbereichen wie der Steuerpolitik nicht überstimmt werden möchten, gehören dazu. Je mehr der Ruf nach Mehrheitsentscheidungen damit begründet wird, im Zweifelsfall „unbequeme Partner“ überstimmen zu können, desto entschiedener wird auch deren Widerstand.

Paketlösung: Mehrheitsentscheide und Osterweiterung

Die Bundesregierung sollte die Forderung nach mehr Mehrheitsentscheiden mit der neuen Osterweiterung zu einer Paketlösung verknüpfen. Will die EU neue Mitglieder aufnehmen, muss sie selbst laut den Kopenhagener Kriterien in der Lage sein, diese erfolgreich zu integrieren, ohne die eigene Handlungsfähigkeit zu gefährden.

Eine EU mit 30 und mehr Mitgliedern, darunter etliche neue mit unter 10 Millionen Einwohnern, kann nur handlungsfähig bleiben, wenn gleichzeitig flächendeckend das Mehrheitsprinzip eingeführt wird, mit Ausnahme weniger konstitutioneller Entscheidungen. Nicht als Bremse, sondern parallel zum Beitrittsprozess sollte die EU also im Zeithorizont der nächsten Legislaturperiode (2024–29) die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen auf den Weg bringen.

Teile der nordischen, der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, die sich für einen zügigen EU-Beitritt der Ukraine stark machen, lehnen die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen ab. Eine Paketlösung könnte helfen, ihrer Sorge vor einer deutsch-französisch dominierten EU entgegenzutreten.

Da für eine qualifizierte Mehrheit 65 Prozent der EU-Bevölkerung nötig sind, haben in der EU-27 Deutschland und Frankreich (mit einem Anteil von zusammen etwa einem Drittel der EU-Bevölkerung) schnell eine Blockademinderheit organisiert. Im Gegensatz dazu kommen alle mittel- und osteuropäischen Staaten der EU‑27 gemeinsam auf knapp 23 Prozent, könnten theoretisch also auch alle zusammen überstimmt werden. In einer EU‑35 würde der deutsch-französische Anteil auf knapp unter 30 Prozent fallen, während der Anteil der mittel- und osteuropäischen Staaten gemeinsam mit den potentiellen Neumitgliedern auf etwa 32 Prozent steigen würde.

Eine „Notbremse“ für kritische Bereiche

Um den legitimen Bedenken der skeptischen Staaten Rechnung zu tragen, sollte zudem eine Balance zwischen mehr Handlungsfähigkeit, demokratischer Legitimation und dem Schutz nationaler Interessen geschaffen werden.

Hierzu sollte der Übergang zur qualifizierten Mehrheit in kritischen Bereichen mit einem neuen „Notbremse“-Mechanismus kombiniert werden. Mit diesem könnte eine politisch zu definierende kleine Anzahl von Mitgliedstaaten (z. B. 10 Prozent, sprich bei einer EU‑30+ drei bis vier Staaten) erwirken, dass ein mit qualifizierter Mehrheit gefasster Beschluss, der ihre vitalen nationalen Interessen berührt, noch einmal dem Europäischen Rat vorgelegt wird.

Der Europäische Rat sollte dann innerhalb einer Frist den betreffenden Mitgliedstaaten die Artikulation ihrer Interessen einräumen und im Konsens eine Einigung finden. Bei Nichteinigung kann nach Ablauf der Frist mit Mehrheit entschieden werden. Bis dahin sollte das Beschlussverfahren im Rat ausgesetzt werden.

EU-Handlungsfähigkeit und nationale Kerninteressen

Vergleichbare „Notbremsen“ gibt es bereits jetzt, etwa in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82/83 AEUV). In der Vergangenheit haben solche „Notbremsen“ die Sorgen der betreffenden Staaten adressiert, wurden dann aber kaum angewendet. Sollte es beim Thema Mehrheitsentscheide ähnlich kommen, würde die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt, und es wäre für Ausnahmefälle ein Schutzmechanismus für Kerninteressen vorhanden.

Eine derartige Reform wäre zwar nicht über die allgemeine Passerelle-Klausel umzusetzen, hätte aber größere Chancen, als Vorbereitung auf die nächste Erweiterung Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten zu finden.

Julina Mintel ist studentische Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Dieser Beitrag basiert auf dem SWP-Aktuell 2022/A 60 „Mehr EU-Mehrheitsentscheidungen – aber wie?“.


Bild: Screenshot der App Voting Calculator des Rates der Europäischen Union.

10 November 2022

Call for Papers: Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU

Verkehrsschild Alle Richtungen
Wie weiter mit der EU? Regierungsforschung.de und Der (europäische) Föderalist suchen Beiträge, die aktuelle Reformdebatten beleuchten.

Politik und Regierungen stehen nicht nur auf nationaler, sondern auch auf europäischer Ebene vor der Herausforderung, Vielfachkrisen wie der Covid-19-Pandemie, den Folgen des Klimawandels, der Energie- und Gas(preis)krise und dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu begegnen. Durch diese und weitere Ereignisse erhalten alte Debatten wie die der EU-Erweiterung eine neue Aktualität und Dringlichkeit und werden neue Debatten zu u.a. institutionellen Transformationen aufgeworfen. Die Konferenz zur Zukunft Europas, die 2021/22 tagte, legte umfassende institutionelle Reformideen vor, doch zur Umsetzung ihrer Vorschläge wäre ein Konvent nötig, der von zahlreichen Mitgliedstaaten abgelehnt wird. Gleichzeitig steht die EU auch intern unter wachsendem Druck: Die Rechtsstaatskrise in Ungarn und Polen gefährdet die Einheit der europäischen Rechtsgemeinschaft; seit Jahren diskutierte Änderungen des Europawahlrechts kommen nur stockend voran; auch die Rolle Deutschlands und Frankreichs als „Motor der Integration“ steht zunehmend in Frage.

Derzeit finden also viele Debatten zur Zukunft des europäischen Regierungssystems parallel statt. Die EU sucht eine neue Balance – zwischen Vertiefung und Erweiterung, zwischen Einheit und Differenzierung, zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten, zwischen Handlungsfähigkeit und Konsens, zwischen supranationalen Parteien und nationalen Regierungen, zwischen nationaler Souveränität und gemeinsamem Recht u.v.m.

Der Schwerpunkt „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie“ soll diese und andere aktuelle Debatten um institutionelle Reformen der EU und die Zukunft der Governance in Europa beleuchten. Gesucht werden Kurzanalysen und Essays. Die Beiträge des Schwerpunkts erscheinen gleichzeitig auf regierungsforschung.de und dem Blog „Der (europäische) Föderalist“. Der Schwerpunkt startet im Winter 2022/23.

Beitragsformate und -umfang

Kurzanalysen und Essays: 4-6 Seiten Text (ohne Literaturverzeichnis).

Beiträge können in deutscher oder englischer Sprache verfasst sein. Englischsprachige Beiträge werden von uns ins Deutsche übersetzt und erscheinen auf dem Blog „Der (europäische) Föderalist“ in beiden Sprachversionen, auf regierungsforschung.de in der deutschen Fassung.

Einreichung von Beitragsvorschlägen

Beitragsvorschläge sind als aussagekräftige Abstracts bzw. Beitragsskizzen von max. einer halben Seite einzureichen. Abgabetermin für die Einreichung der Abstracts bzw. Skizzen ist der 30. November 2022. Bitte senden Sie diese als Word-Datei (*.docx) an die Redaktion von regierungsforschung.de, z.Hd. Julia Rakers, E-Mail: julia.rakers@uni-due.de. Besonders freuen wir uns über Beitragsvorschläge von Nachwuchswissenschaftler:innen und Studierenden.

Auswahl der Beiträge

Als Kriterien für die Auswahl der Beiträge auf Basis der Abstracts bzw. Beitragsskizzen gelten insbesondere die inhaltliche Passung zum Schwerpunktthema, die Relevanz für die wissenschaftliche Regierungsforschung und die politische Praxis und die Aktualität des Beitragsthemas, Stringenz und Prägnanz der Darstellung und die Originalität der Idee. Die Redaktion behält sich zudem vor, bei der Auswahl der Beiträge auch die Gesamtkonzeption und inhaltliche Ausgewogenheit des Schwerpunktes zu berücksichtigen.

Die Ergebnisse des Auswahlverfahrens werden bis spätestens zum 15. Dezember 2022 bekannt gegeben. Zur konkreten zeitlichen Übermittlung der Beiträge werden, abhängig vom thematischen Schwerpunkt des Beitrags, individuelle Absprachen mit den jeweiligen Autor:innen getroffen.

Über uns

Regierungsforschung.de ist das wissenschaftliche Online-Journal der NRW School of Governance am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen in Duisburg. Mit monatlichen Zugriffszahlen von mehr als 15.000 Besuchen haben die Beiträge eine hohe Sichtbarkeit sowohl innerhalb der wissenschaftlichen Community als auch in Kreisen der Politik.

Logo Regierungsforschung

Das Blog „Der (europäische) Föderalist“ wird von Dr. Manuel Müller, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für europäische Integration der Universität Duisburg-Essen, betrieben. Ausgehend von tagesaktuellen Debatten analysiert es Aspekte der europäischen Verfassungspolitik und der supranationalen Demokratie. Es wird monatlich ebenfalls über 15.000 Mal aufgerufen und erreicht sowohl ein wissenschaftliches als auch ein politisches Publikum.

Logo Der (europäische) Föderalist

Diesen Call for Papers gibt es hier auch im PDF-Format.


Bild: Manuel Müller [alle Rechte vorbehalten].

Call for Papers: Supranational governance between diplomacy and democracy – current debates on EU reform

Traffic sign “Alle Richtungen” (“All directions”)
What next for the EU? Regierungsforschung.de and Der (europäische) Föderalist are looking for contributions that shed light on current reform debates.

Multiple crises like the pandemic, the consequences of global warming, and the Russian aggression against Ukraine are posing challenges not only to national governments, but also to the European Union. These and other transformation processes are giving fresh relevance and urgency to old questions like EU enlargement and raising new debates about the EU’s democratic structures. The 2021/22 Conference on the Future of Europe put forward comprehensive institutional reform proposals, but implementing them would require a Convention that many member states oppose. At the same time, the EU is also under growing internal pressure: the rule-of-law crisis in Hungary and Poland threatens the unity of the European legal community; changes to the European electoral law that have been discussed for years are being slowed down in the Council; and even the role of Germany and France as the “engine of integration” is increasingly called in question.

Currently, many debates on the future of the European governance system are taking place at the same time. The EU is seeking a new balance – between deepening and widening, between unity and differentiation, between small and large member states, between capacity to act and consensus requirements, between supranational parties and national governments, between national sovereignty and a common law.

The thematic series “Supranational governance between diplomacy and democracy” aims to shed light on these and other ongoing debates on EU institutional reforms and the future of European governance. The contributions will appear simultaneously on regierungsforschung.de and “Der (europäische) Föderalist”. The series will start in winter 2022/23.

Article format and length

Short analyses and essays: 4-6 pages of text (without bibliography).

Contributions can be written in German or English. English contributions will be translated into German by us and will appear in both languages on the blog “Der (europäische) Föderalist” and in the German version on regierungsforschung.de.

Submission of proposals

To propose a contribution, please submit a meaningful abstract or outline of no more than half a page until 30 November 2022. The outline should be sent as a word file (*.docx) to Julia Rakers from the editorial desk of regierungsforschung.de (e-mail: julia.rakers@uni-due.de). We particularly welcome proposals from young researchers and students.

Proposal selection

Proposals are selected based on the abstracts or outlines considering, in particular, their thematic fit to the series’ main topic, their relevance for academic research and political practice, their topicality, stringency and conciseness, and the originality of their idea. The editors reserve the right to consider the overall concept and balance of content of the thematic series when selecting contributions.

Selection results will be communicated by 15 December 2022 at the latest. Individual arrangements will then be made with the respective authors regarding the deadline for the submission of the contributions.

About us

Regierungsforschung.de is the academic online journal of the NRW School of Governance at the Institute of Political Science of the University of Duisburg-Essen. With monthly access figures of more than 15,000 visits, the articles have a high visibility both within the academic community and in policy circles.

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The blog “Der (europäische) Föderalist” is run by Manuel Müller, postdoctoral researcher in European integration at the University of Duisburg-Essen. Based on current debates, it analyses aspects of European constitutional policy and supranational democracy. It is also accessed over 15,000 times a month and reaches both an academic and a political audience.

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Picture: Manuel Müller [all rights reserved].