16 November 2022

Mehr EU-Mehrheitsentscheidungen – aber wie? Rechtliche Möglichkeiten und politische Kompromissoptionen

Von Julina Mintel und Nicolai von Ondarza
Screenshot der App Voting Calculator
Durch mehr Mehrheitsentscheide soll die EU handlungsfähiger werden. Aber um dorthin zu kommen, sind noch manche Kompromisse und Paketdeals nötig.

Die Forderung, Mehrheitsentscheide auszuweiten, ist ein Dauerthema in der Debatte um die Handlungsfähigkeit der EU. Das Ziel war dabei stets dasselbe: In einer Union von aktuell 27 Mitgliedstaaten soll die Ausweitung von Mehrheitsentscheiden garantieren, dass die Anzahl an Vetospielern reduziert und somit die Kompromissfindung einfacher wird. Aktuell erhält diese Debatte aus drei Richtungen neue Impulse:

  • Zum einen hat die Konferenz zur Zukunft Europas im Mai 2022 ihren Abschlussbericht vorgelegt, welcher den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in fast allen Beschlüssen des Rates vorschlägt.
  • Zum anderen hat die Debatte über Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik durch die öffentlich umstrittene Nutzung von Vetomöglichkeiten neuen Nachdruck bekommen, wie etwa Ungarns beim sechsten Sanktionspaket gegenüber Russland.
  • Schließlich ist mit dem EU-Beitrittskandidatenstatus für die Ukraine und die Republik Moldau und der Wiederbelebung des Beitrittsprozesses für die Staaten des westlichen Balkans die Vision einer EU-30+ zurückgekehrt – und damit auch die Debatte über die Handlungsfähigkeit und Aufnahmekapazität der EU.

Doch politisch unbeantwortet bleibt die Frage, wie die EU zu mehr Mehrheitsentscheidungen kommt.

Rechtliche Möglichkeiten

Ein Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat kann rechtlich auf verschiedene Weise erreicht werden. Eine Vertragsreform bedeutet in jedem Fall komplexe Anforderungen auf EU-Ebene, das heißt in der Regel einen Konvent, sowie hohe Hürden für die Ratifizierung auf nationaler Ebene. Für die Anwendung der allgemeinen Passerelle-Klausel ist das Verfahren einfacher, dennoch bestehen auf nationaler Ebene entscheidende Hürden.

Instrument Anwendungsbereiche Verfahren
auf europäischer Ebene
Erfordernisse
auf nationaler Ebene
Ordentliche Vertragsänderung:
Art. 48 (2–5) EUV
Alle Politikbereiche Abhängig von den Politikbereichen, in denen das Entscheidungsverfahren angepasst werden soll.
Teils ist ein Konvent mit anschließender Regierungskonferenz oder nur ein Beschluss der Regierungskonferenz nötig, jeweils mit Zustimmung aller Mitgliedstaaten.
Ratifizierung nach den jeweiligen nationalen verfassungsrechtlichen Vorgaben
Allgemeine Passerelle-Klausel:
Art. 48 (7) EUV
AEUV und Titel V des EUV, einschließlich auswärtiges Handeln
(außer Beschlüsse mit militärischen Bezügen)
Einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates nach Zustimmung des EP mit absoluter Mehrheit. Übermittlung der Initiative an die nationalen Parlamente. Keine Ratifizierung durch die nationalen Parlamente notwendig. Dennoch bestehen entscheidende nationale Hürden.
Passerelle-Klausel zur GASP:
Art. 31 (3) EUV
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
(außer Beschlüsse mit militärischen Bezügen)
Einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates Beide speziellen Passerelle-Klauseln:
Ebenfalls keine Ratifizierung notwendig; nationale Hürden teilweise etwas niedriger als bei allgemeiner Passerelle-Klausel
Passerelle-Klausel zur Verstärkten Zusammenarbeit:
Art. 333 AEUV
Politikbereiche, die bereits Gegenstand einer Verstärkten Zusammenarbeit sind Einstimmiger Beschluss im Rat durch die an der Verstärkten Zusammenarbeit teilnehmenden Staaten

Die Hürden zur Anwendung der allgemeinen Passerelle-Klausel sind zwar etwas niedriger als bei ordentlichen Vertragsänderungen, aber politisch weder deutlich leichter noch schneller zu nehmen. Damit etwa die deutsche Vertreter:in im Europäischen Rat einem Beschluss zur Anwendung der Passerelle-Klausel zustimmen oder sich enthalten darf, ist gemäß dem Integrationsverantwortungsgesetz ein Gesetz im Sinne des Art. 23 (1) GG mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat nötig. Auch in anderen Mitgliedstaaten, u.a. in Österreich, Dänemark, Polen, Irland, der Tschechischen Republik und Malta, ist parlamentarische Zustimmung notwendig.

Für einige wenige Politikbereiche enthält der EU-Vertrag spezielle Passerelle-Klauseln für den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen. Die auf europäischer und nationaler Ebene vorgesehenen Verfahren, um sie zu aktivieren, sind teilweise etwas einfacher als bei der allgemeinen Klausel. Seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags wurde bis dato jedoch keine der verschiedenen Passerelle-Klauseln angewendet.

Mehrheitsentscheide in der Praxis

Schaut man auf die Nutzung der seit 2010 veröffentlichten Abstimmungsprotokolle, so zeigt sich, dass sich die Mitgliedstaaten im Durchschnitt bei über 60 Prozent der Abstimmungen, bei denen eine Mehrheitsentscheidung möglich wäre, trotzdem einstimmig einigen. Nimmt man die Abstimmungen hinzu, bei denen es nur Enthaltungen, aber keine Gegenstimmen gibt, so erreicht der Rat nach unseren Berechnungen eine „Konsensquote“ von durchschnittlich knapp 82 Prozent. Die Überstimmung ganzer Gruppen von Staaten bleibt eine Seltenheit.

Trotzdem verändert die Mehrheitsregel die Dynamik von Entscheidungsprozessen in der EU. Dass Staaten nicht einfach ihr Veto nutzen können, sondern eine Sperrminorität organisieren müssen, erzwingt europäische Diplomatie und Kompromisse. Diese Verhandlungsdynamik, führt dazu, dass es bei über 80 Prozent der öffentlichen Abstimmungsergebnisse des Rates keine Gegenstimmen gibt, weil sich am Ende alle dem Kompromiss anschließen (oder sich enthalten). Mehrheitsentscheidungen sind also ein institutionelles Mittel, um leichter Kompromisse zu finden, insbesondere dann, wenn nur einzelne Mitgliedstaaten ihr Vetorecht zur Blockade nutzen.

Ein Garant für eine bessere Handlungsfähigkeit der EU sind sie jedoch nicht. Geht die Spaltung quer durch die Union, ermöglichen auch Mehrheitsentscheide keine Lösung, wie beispielsweise bei der seit 2015 de facto blockierten Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Damit die EU handlungsfähig ist, braucht es also mehr als nur Mehrheitsentscheidungen.

Legitimatorische Probleme

Der hochumstrittene Mehrheitsbeschluss von 2015 zur verpflichtenden Verteilung von Flüchtlingen, der gegen den Willen mehrerer mittel- und osteuropäischer Staaten getroffen wurde und die Spaltung der EU in der Asyl- und Migrationspolitik vertieft hat, ist auch ein Beispiel für ein weiteres Problem beim Einsatz von Mehrheitsentscheidungen: Wenn Mitgliedstaaten in Fragen von hohem nationalem Interesse überstimmt werden, kann das negative Folgen für den Zusammenhalt und die Legitimation der EU haben.

Werden Entscheidungen gegen den Willen der jeweiligen Regierung gefällt und diese rechtlich zur Umsetzung verpflichtet, liegt die alleinige politische Verantwortlichkeit bei der EU. Dies kann EU-kritische Stimmen stärken und legitimatorisch nur begrenzt durch eine Beteiligung des Europäischen Parlaments ausgeglichen werden.

Gefahr struktureller Minderheiten

Zudem können sich auch dann legitimatorische Probleme ergeben, wenn einzelne Staaten regelmäßig überstimmt werden und so strukturelle Minderheiten entstehen. Das beste Beispiel hierfür ist das Vereinigte Königreich, das seit 2010 bis zum Brexit jedes Jahr der am häufigsten überstimmte Mitgliedstaat war. Heute sind es vor allem mittel- und osteuropäische Staaten, die Mehrheitsentscheidungen ablehnen, da sie eine von Frankreich und Deutschland dominierte EU befürchten, in der die Belange kleinerer Mitglieder in der Außen- und Sicherheitspolitik übergangen werden.

Aus den öffentlichen Abstimmungsergebnissen des Rates wird ein Trend erkennbar, der Befürworter:innen von Mehrheitsentscheiden zu denken geben sollte: Seit dem britischen Austritt ist es Ungarn, das am häufigsten im Rat überstimmt wurde, 2020 gemeinsam mit Polen. 2021 waren Polen und Ungarn für 40 Prozent der Gegenstimmen im Rat verantwortlich, die Visegrád-4-Staaten gemeinsam für 52 Prozent. Zugleich fiel in dieser Zeit kein Beschluss gegen die Stimmen von Deutschland, Frankreich und Italien. (Auf längere Sicht wurde allerdings zumindest Deutschland seit 2010 regelmäßig überstimmt, insgesamt sogar öfter als Polen, und kann deshalb glaubwürdig damit auftreten, Mehrheitsentscheidungen gegen die eigene Position zu akzeptieren.)

Insgesamt ist zu beobachten, dass in der ersten Hälfte der 2010er Jahre Gegenstimmen geographisch noch gleichmäßig über die EU verteilt waren, während in den letzten Jahren zunehmend ein Ungleichgewicht zuungunsten der mittel- und osteuropäischen Staaten entstanden ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass insbesondere diese Staaten skeptisch gegenüber einer neuerlichen Ausweitung von Mehrheitsbeschlüssen sind.

Widerstand einiger Mitgliedstaaten

Die notwendige Zustimmung aller EU-Staaten und die Hürden für nationale Zustimmungsverfahren bei Anwendung der allgemeinen Passerelle-Klausel verdeutlichen, warum die Debatte über Mehrheitsentscheidungen bislang im Sande verlaufen ist. Einige EU-Staaten sind strikt gegen die Abschaffung nationaler Vetos, da sie, wie Polen und Ungarn, befürchten, regelmäßig überstimmt zu werden, oder, wie Dänemark, Vertragsänderungen und institutioneller Vertiefung allgemein skeptisch gegenüberstehen.

Auch integrationsfreundliche Staaten wie Irland, die in Einzelbereichen wie der Steuerpolitik nicht überstimmt werden möchten, gehören dazu. Je mehr der Ruf nach Mehrheitsentscheidungen damit begründet wird, im Zweifelsfall „unbequeme Partner“ überstimmen zu können, desto entschiedener wird auch deren Widerstand.

Paketlösung: Mehrheitsentscheide und Osterweiterung

Die Bundesregierung sollte die Forderung nach mehr Mehrheitsentscheiden mit der neuen Osterweiterung zu einer Paketlösung verknüpfen. Will die EU neue Mitglieder aufnehmen, muss sie selbst laut den Kopenhagener Kriterien in der Lage sein, diese erfolgreich zu integrieren, ohne die eigene Handlungsfähigkeit zu gefährden.

Eine EU mit 30 und mehr Mitgliedern, darunter etliche neue mit unter 10 Millionen Einwohnern, kann nur handlungsfähig bleiben, wenn gleichzeitig flächendeckend das Mehrheitsprinzip eingeführt wird, mit Ausnahme weniger konstitutioneller Entscheidungen. Nicht als Bremse, sondern parallel zum Beitrittsprozess sollte die EU also im Zeithorizont der nächsten Legislaturperiode (2024–29) die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen auf den Weg bringen.

Teile der nordischen, der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, die sich für einen zügigen EU-Beitritt der Ukraine stark machen, lehnen die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen ab. Eine Paketlösung könnte helfen, ihrer Sorge vor einer deutsch-französisch dominierten EU entgegenzutreten.

Da für eine qualifizierte Mehrheit 65 Prozent der EU-Bevölkerung nötig sind, haben in der EU-27 Deutschland und Frankreich (mit einem Anteil von zusammen etwa einem Drittel der EU-Bevölkerung) schnell eine Blockademinderheit organisiert. Im Gegensatz dazu kommen alle mittel- und osteuropäischen Staaten der EU‑27 gemeinsam auf knapp 23 Prozent, könnten theoretisch also auch alle zusammen überstimmt werden. In einer EU‑35 würde der deutsch-französische Anteil auf knapp unter 30 Prozent fallen, während der Anteil der mittel- und osteuropäischen Staaten gemeinsam mit den potentiellen Neumitgliedern auf etwa 32 Prozent steigen würde.

Eine „Notbremse“ für kritische Bereiche

Um den legitimen Bedenken der skeptischen Staaten Rechnung zu tragen, sollte zudem eine Balance zwischen mehr Handlungsfähigkeit, demokratischer Legitimation und dem Schutz nationaler Interessen geschaffen werden.

Hierzu sollte der Übergang zur qualifizierten Mehrheit in kritischen Bereichen mit einem neuen „Notbremse“-Mechanismus kombiniert werden. Mit diesem könnte eine politisch zu definierende kleine Anzahl von Mitgliedstaaten (z. B. 10 Prozent, sprich bei einer EU‑30+ drei bis vier Staaten) erwirken, dass ein mit qualifizierter Mehrheit gefasster Beschluss, der ihre vitalen nationalen Interessen berührt, noch einmal dem Europäischen Rat vorgelegt wird.

Der Europäische Rat sollte dann innerhalb einer Frist den betreffenden Mitgliedstaaten die Artikulation ihrer Interessen einräumen und im Konsens eine Einigung finden. Bei Nichteinigung kann nach Ablauf der Frist mit Mehrheit entschieden werden. Bis dahin sollte das Beschlussverfahren im Rat ausgesetzt werden.

EU-Handlungsfähigkeit und nationale Kerninteressen

Vergleichbare „Notbremsen“ gibt es bereits jetzt, etwa in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82/83 AEUV). In der Vergangenheit haben solche „Notbremsen“ die Sorgen der betreffenden Staaten adressiert, wurden dann aber kaum angewendet. Sollte es beim Thema Mehrheitsentscheide ähnlich kommen, würde die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt, und es wäre für Ausnahmefälle ein Schutzmechanismus für Kerninteressen vorhanden.

Eine derartige Reform wäre zwar nicht über die allgemeine Passerelle-Klausel umzusetzen, hätte aber größere Chancen, als Vorbereitung auf die nächste Erweiterung Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten zu finden.

Julina Mintel ist studentische Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Dieser Beitrag basiert auf dem SWP-Aktuell 2022/A 60 „Mehr EU-Mehrheitsentscheidungen – aber wie?“.


Bild: Screenshot der App Voting Calculator des Rates der Europäischen Union.

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