30 Januar 2018

Sieben Vorschläge für eine Große Koalition, die den „neuen Aufbruch für Europa“ ernst meint

Die neue Große Koalition will die Europapolitik in den Mittelpunkt stellen. Aber dafür müsste sie inhaltlich konkreter werden.
Als die Unterhändler von CDU/CSU (EVP) und SPD (SPE) Mitte Januar die Ergebnisse ihrer Koalitionssondierungen vorlegten, stießen sie bei vielen Proeuropäern auf positive Reaktionen: Von Pulse of Europe bis zu den Jungen Europäischen Föderalisten, von Henrik Enderlein über Ulrike Guérot bis Christian Moos war die Zustimmung zu den europapolitischen Ankündigungen im Sondierungspapier groß. Und auch SPD-Chef Martin Schulz betonte auf dem umkämpften Parteitag am 21. Januar den „Paradigmenwechsel in der Europapolitik“, den seine Partei in den Sondierungen erreicht habe. Ein „Deutschland, das sich seiner Verantwortung für Europa bewusst ist und entschieden handelt“, sei für ihn ein entscheidendes Argument für die Beteiligung der SPD an einer Großen Koalition.

Von Gemeinplätzen durchtränkt

Wirft man einen genaueren Blick auf das Sondierungspapier (Wortlaut), findet sich für diesen Enthusiasmus allerdings nicht allzu viel Anlass. Gewiss, auf symbolischer Ebene setzten die GroKo-Verhandler deutliche Signale: Das Kapitel zur Europapolitik steht im Papier gleich an erster Stelle und verspricht nicht weniger als einen „neuen Aufbruch für Europa“. Danach folgen drei Seiten mit gemeinsamen Zielsetzungen – deutlich mehr als in dem europapolitisch dürren letzten Sondierungsstand der Jamaika-Verhandler im November.

Doch auch bei der Großen Koalition bleiben viele dieser europapolitischen Ankündigungen ausgesprochen vage. Das Sondierungspapier ist durchtränkt von Gemeinplätzen („Wir wollen Europa bürgernäher und transparenter machen“, „Wir wollen eine offene und faire Handelspolitik, die allen zugutekommt“) und rhetorischen Redundanzen („Europa muss ein Kontinent der Chancen sein, besonders für junge Menschen. Sie sind Europas Zukunft. Wir wollen, dass junge Menschen ihre Hoffnungen auf Europa setzen können“). Bei vielen Vorhaben bleibt unklar, mit welchen Mitteln sie erreicht werden sollen („Die demokratischen und rechtsstaatlichen Werte [der EU] müssen noch konsequenter als bisher […] durchgesetzt werden“).

Und einige Formulierungen im Sondierungspapier sind gar so verschwurbelt, dass sich ihre Tragweite nur schwer abschätzen lässt. Wenn die Verhandler die Weiterentwicklung des Europäischen Stabilitätsmechanismus zu einem „parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds“ fordern, so könnte das durchaus bedeutend sein – nämlich dann, wenn die immensen Mittel des ESM künftig der Budgetkompetenz des Europäischen Parlaments unterstellt würden. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die nationalen Parlamente gemeint sind, was gegenüber dem Status quo kein nennenswerter demokratischer Fortschritt wäre.

Bislang bleibt vieles konventionell

Wirklich auffällig an dem Sondierungspapier ist nur die unzweideutige Bereitschaft zu „höheren Beiträgen Deutschlands zum EU-Haushalt“. Die Verhandler von CDU/CSU und SPD versprechen damit eine konstruktive Haltung in den bald anstehenden Gesprächen zum mehrjährigen Finanzrahmen der EU ab 2021. Gerade angesichts der Haushaltslücke, die durch den Austritt des bisherigen Nettozahlers Großbritannien entstehen wird, ist das sehr zu begrüßen.

Ansonsten aber sind die konkreten Vorhaben des Sondierungspapiers eher konventionell: Vollendung des digitalen Binnenmarkts, mehr europäische Investitionen nach Vorbild des Juncker-Plans, mehr Geld für Erasmus Plus, mehr „faire Mobilität“ (aber keine „missbräuchliche Zuwanderung in die Systeme der sozialen Sicherheit“), bessere Vergleichbarkeit von Bildungsstandards, eine „kohärente Afrika-Strategie“. Das mag man alles schön und gut finden – aber ein „Paradigmenwechsel“ der deutschen Europapolitik ist dahinter beim besten Willen nicht zu erkennen. Bei keinem einzigen der großen Themen, die die Debatte über eine EU-Reform in den letzten Jahren geprägt haben, schlägt das Sondierungspapier eine besonders fortschrittliche Linie ein. Vielen Fragen geht es vollständig aus dem Weg.

Was bringt der Koalitionsvertrag?

Allerdings: Noch handelt es sich ja nur um ein Sondierungspapier, und die Verhandlungen für den finalen Koalitionsvertrag haben gerade erst begonnen. Es besteht deshalb guter Grund zur Hoffnung, dass die Koalitionspartner einige vage Versprechen noch mit konkreten Inhalten füllen werden. Wie aber müssten diese Inhalte aussehen, damit die nächste deutsche Bundesregierung tatsächlich wieder an der Spitze der europapolitischen Debatte stünde?

Im Folgenden sollen hier sieben Vorschläge vorgestellt werden, die sich eine Koalition, die es mit dem „neuen Aufbruch für Europa“ ernst meint, zum Ziel setzen könnte. Diese Vorschläge sind zwar ambitioniert, aber nicht utopisch: Sie alle werden bereits von wichtigen anderen europapolitischen Akteuren unterstützt oder könnten von der Großen Koalition auch einseitig umgesetzt werden.

1. Bekenntnis zum Spitzenkandidaten-Verfahren

Bei der Europawahl 2014 stellten die europäischen Parteien erstmals Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten auf – ein demokratischer Fortschritt, der aber gegen starke Widerstände im Europäischen Rat erkämpft werden musste. Und auch später weigerten sich die nationalen Regierungen, sich eindeutig zu dem neuen Verfahren zu bekennen. Am Ergebnis wird das zwar nichts ändern: Die europäischen Parteien und das Europäische Parlament sind entschlossen und stark genug, um das Spitzenkandidaten-Verfahren auch bei der nächsten Europawahl 2019 durchzusetzen, wie der konservative Fraktionschef Manfred Weber (CSU/EVP) erst vor wenigen Tagen noch einmal unterstrichen hat. Aber der Unwillen der nationalen Regierungen sorgt für eine institutionelle Unsicherheit, die dem Europawahlkampf nicht gut tun kann.

Ein klares Bekenntnis zu den Spitzenkandidaten – eine öffentliche Erklärung, dass Deutschland im Europäischen Rat nur solche Kandidaten für die Kommissionspräsidentschaft unterstützen wird, die auch eine klare Aussicht auf eine Mehrheit im Europäischen Parlament haben – ist deshalb das Mindeste, was man von einer ernsthaft europafreundlichen Bundesregierung erwarten darf. Bedeutend wäre dieser Schritt vor allem als Signal an die Medien, die europäischen Spitzenkandidaten und ihren Wahlkampf 2019 von Anfang an wichtig zu nehmen.

2. Gesamteuropäische Listen

Europäische Spitzenkandidaten sind allerdings nur der erste Schritt: Einen echten Durchbruch für eine Europäisierung der Europawahl brächten gesamteuropäische Listen, deren wichtigste Vorteile ich hier und hier beschrieben habe. Konkrete Vorschläge dafür liegen bereits auf dem Tisch: Erst vor wenigen Tagen stimmte der Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments dafür, den Europäischen Rat zu einer entsprechenden Änderung des europäischen Direktwahlakts aufzufordern. Und auch zahlreiche nationale Regierungen – unter anderem Frankreich, Italien und Spanien – unterstützen diesen Ansatz.

Gewiss: Eine Umsetzung bis zur Europawahl 2019 ist inzwischen schon aus Zeitgründen eher unwahrscheinlich, umso mehr, als die vier Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) gesamteuropäische Listen derzeit offen ablehnen. Doch die Debatte wird weitergehen – und wenn der Großen Koalition das „Europa der Demokratie“ so wichtig ist, wie es im Sondierungspapier heißt, sollte sie hier zusammen mit den anderen proeuropäischen Regierungen im Rat eine Führungsrolle übernehmen.

3. Abschaffung nationaler Vetorechte

Ein wichtiges Problem der Europäischen Union sind die nationalen Vetorechte, die es bei vielen europäischen Entscheidungen – zum Beispiel in der Außen-, Steuer- und Sozialpolitik, aber auch bei der Verabschiedung des mehrjährigen Finanzrahmens – bis heute gibt. Diese Vetorechte machen die EU nicht nur schwerfällig; der übermäßige Konsenszwang schadet auch der europäischen Demokratie.

Erfreulicherweise enthält der EU-Vertrag (vor allem durch die Brückenklausel in Art. 48 Abs. 7 EUV) die Möglichkeit, in Bereichen, in denen jetzt noch einstimmige Entscheidungen nötig sind, zu Mehrheitsverfahren überzugehen. Im Brok/Bresso-Bericht von 2017 forderte das Europäische Parlament den Europäischen Rat dazu auf, diesen überfälligen Schritt endlich zu tun. Passiert ist seitdem jedoch nichts: Viele nationalen Regierungen sind offenbar nicht dazu bereit, auf ihre Vetorechte zu verzichten. Die nächste Bundesregierung sollte hier deutlich machen, dass sie nicht zu den Blockierern zählt und zu einer Aktivierung der Brückenklausel bereit ist.

4. Europäische Steuern statt „nationaler Beiträge“

In dem Sondierungspapier erklären sich die GroKo-Verhandler dazu bereit, den deutschen Beitrag zum EU-Haushalt zu erhöhen. Auf eine andere Schlüsselfrage der europäischen Budgetverhandlungen gehen sie jedoch überhaupt nicht ein: nämlich den Vorschlag, bei der Finanzierung der EU künftig generell weniger auf „nationale Mitgliedsbeiträge“ und mehr auf europäische Unternehmens- und Ökosteuern zu setzen.

Die Hintergründe dieser Debatte habe ich hier ausführlicher beschrieben – kurz gefasst geht es darum, den EU-Einnahmen eine politische Steuerungswirkung zu geben und zugleich die Logik der nationalen Nettozahler/Nettoempfänger-Debatten zu durchbrechen. Grundsätzliche Überlegungen dazu hat eine Arbeitsgruppe um Mario Monti bereits Ende 2016 vorgelegt; vor wenigen Wochen nannte Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU/EVP) als spezifischen Vorschlag unter anderem eine europäische Plastiksteuer. Eine europafreundliche Bundesregierung sollte diese Entwicklung nachdrücklich unterstützen.

5. Automatische Stabilisatoren für die Eurozone

Wie die Eurokrise zeigte, krankt die europäische Währungsunion an ihrer Anfälligkeit für asymmetrische Schocks: Wenn in einem Teil der Eurozone die Konjunktur abstürzt, während sie in anderen Ländern stabil bleibt, kann das leicht zu einer desaströsen Spirale führen. Um das zu verhindern, sind finanzielle Transfers in die Krisenstaaten nötig – eine Erkenntnis, der auch die GroKo-Sondierer grundsätzlich Rechnung tragen, wenn sie „spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung […] in der Eurozone“ fordern.

Allerdings scheinen die Sondierer dabei bis jetzt nur diskretionäre Mittel im Blick zu haben – also einen Fonds, über dessen Verwendung die Eurogruppe in jeder Krise jeweils neu politisch entscheiden müsste. Dies ist aus zwei Gründen problematisch: Zum einen zeigt die Erfahrung, dass solche Entscheidungen in der Krise meist zu spät erfolgen, um optimal zu wirken. Und zum anderen besteht immer die Gefahr, dass sie politisch instrumentalisiert werden. Sinnvoller wäre deshalb die Einführung automatischer Stabilisatoren in der Eurozone – konjunkturabhängiger, zyklischer Finanztransfers zwischen den Mitgliedstaaten, die nach einem vorher festgeschriebenen Mechanismus ausgelöst werden.

Das beste Modell dafür wäre eine europäische Arbeitslosenversicherung, wie sie 2014 auch der damalige EU-Sozialkommissar László Andor (MSZP/SPE) ins Spiel brachte. Die deutsche Bundesregierung bügelte den Vorschlag damals jedoch brüsk ab. Erst vor einigen Monaten machte der italienische Finanzminister Pier Carlo Padoan (PD/SPE) nun einen neuen Vorstoß. Im Sinne eines „neuen Aufbruchs für Europa“ sollte die Große Koalition diese Chance nutzen und ihre bisherige Blockadehaltung korrigieren.

6. Europäische Einlagensicherung

Ein wichtiger Brandbeschleuniger in der Eurokrise war die Konkurrenz zwischen den nationalen Einlagensicherungssystemen für Banken: In den Panikwochen im September 2008 überboten sich die Mitgliedstaaten mit nationalen Anlegergarantien – mit dem Ergebnis einer Kapitalflucht aus dem schwächeren Irland in das stärkere Deutschland.

Die Europäische Kommission hat deshalb bereits 2015 einen Vorschlag für eine gesamteuropäische Einlagensicherung vorgelegt, der seitdem jedoch vor allem wegen des Widerstands der deutschen Bundesregierung im Ministerrat auf Eis liegt. Ende 2017 schwächte die Kommission ihren Vorschlag deshalb bereits ab. Die deutsche Bankenlobby (für die das derzeitige Ungleichgewicht zwischen den nationalen Einlagensicherungen natürlich auch ein Wettbewerbsvorteil ist) bleibt jedoch bei ihrem kategorischen Nein. Auch hier sollten die GroKo-Verhandler ihre nationalen Scheuklappen ablegen und im Koalitionsvertrag einen konstruktiveren Umgang mit dem Vorschlag der Kommission ankündigen.

7. Allgemeines Wahlrecht für Unionsbürger

Wer als Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat lebt, darf dort an Europa- und Kommunalwahlen teilnehmen. Die Teilnahme an Landtags- und Bundestagswahlen ist den rund 4,3 Millionen nicht-deutschen EU-Bürgern in Deutschland jedoch verwehrt – ein demokratisch unbefriedigender Zustand, der nicht zuletzt die politische Integration der europäischen Gesellschaften erschwert.

Die beste Lösung für dieses Problem wäre natürlich eine EU-Vertragsreform, um die in Art. 20 AEUV verankerten Unionsbürgerrechte auf nationale und regionale Parlamentswahlen zu erweitern. Doch auch wenn eine solche Vertragsreform wegen des Widerstands anderer Regierungen kurzfristig nicht zu erreichen ist, könnte eine europafreundliche Große Koalition Unionsbürgern wenigstens in Deutschland das volle Wahlrecht zugestehen – gegebenenfalls auf Gegenseitigkeit in Form von bi- oder multilateralen Verträgen mit anderen Staaten.

Für eine solche Wahlrechtsreform wäre (nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1990) eine Grundgesetzänderung nötig, doch die dafür nötigen Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat sollte die Große Koalition mit Unterstützung der europafreundlichen Oppositionsparteien durchaus erreichen können. Was könnte besser geeignet sein, um dem im Sondierungspapier geäußerten Wunsch nach einem „Europa der Demokratie“ mit einem „lebendigen Parlamentarismus auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene“ gerecht zu werden?

Schöne Worte sind nicht genug

Ist es sinnvoll, wenn sich die beiden großen Parteien der Mitte zu einer gemeinsamen Regierung zusammentun, oder verleihen sie damit nur den Populisten am Rand des politischen Spektrums Auftrieb? Wie ich hier vor einem Jahr geschrieben habe, kommt es wesentlich darauf an, was die Pro-Europäer aus ihrer Zusammenarbeit machen: Grundsätzlich bringt eine Große Koalition immer die Gefahr mit sich, dass die Unterschiede zwischen den Parteien verwischen, sodass die Populisten als einzige „echte Alternative“ auftreten können. Sie kann jedoch auch zum Erfolg werden – nämlich dann, wenn es ihr gelingt, die Funktionsweise des politischen Systems selbst zu verändern, sodass eine neue, demokratischere Europapolitik den Populisten ihr Protestpotenzial nimmt.

Wenn die Große Koalition es also ernst meint mit dem „neuen Aufbruch für Europa“, so ist ihr damit Erfolg zu wünschen. Doch schöne Worte und symbolische Gesten, wie das Sondierungspapier sie bietet, werden dafür nicht genügen. Der Koalitionsvertrag wird zeigen, ob CDU/CSU und SPD auch zu konkreten Maßnahmen für eine stärkere und demokratischere EU bereit sind.

Bild: © European Union 2012 EP / Pietro Naj-Oleari [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

23 Januar 2018

Nicht nur Polen und Ungarn: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen in vielen EU-Ländern unter Druck

Bei Angriffen auf die Werte der Union waren Beata Szydło und Viktor Orbán bislang die aktivsten Mitglieder des Europäischen Rates. Aber nicht die einzigen.
Am Mittwoch vor Weihnachten eskalierte der Konflikt: Im Rechtsstreitverfahren mit der polnischen Regierung löste die Europäische Kommission – zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte der EU – ein Verfahren nach Artikel 7 EUV aus, mit dem Verstöße der Mitgliedstaaten gegen die „Werte der Union“ (unter anderem Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde) geahndet werden können. Die Kommission reagierte damit auf die Reformen, mit denen die Regierung unter Beata Szydło (PiS/AKRE) die polnische Justiz unter Kontrolle ihrer Parlamentsmehrheit gebracht hatte.

Bereits kurz vor dem Schritt der Kommission war Ministerpräsidentin Szydło allerdings auf Druck des Parteichefs Jarosław Kaczyński zurückgetreten und durch Mateusz Morawiecki (PiS/AKRE) ersetzt worden. Anfang Januar nahm dieser eine Kabinettsumbildung vor, die allgemein als Entspannungssignal an Brüssel gedeutet wurde. Auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) äußerte ein paar höfliche Worte an Morawiecki. An der konkreten rechtlichen Lage in Polen hat sich jedoch nichts geändert, und so wird das Artikel-7-Verfahren in den nächsten Wochen und Monaten seinen Gang nehmen.

Ungarn: Viktor Orbáns Solidarisierung mit der PiS

Allzu viel befürchten muss die polnische Regierung dabei allerdings nicht: Damit die EU tatsächlich Maßnahmen gegen sie ergreifen könnte, wäre zunächst eine einstimmige Entscheidung aller übrigen Regierungen im Europäischen Rat notwendig. Und der ungarische Regierungschef Viktor Orbán (Fidesz/EVP) hat wiederholt angekündigt, gegen eine solche Entscheidung sein Veto einzulegen.

Orbáns Motivation ist dabei recht einfach zu durchschauen: Schließlich hat seine eigene Fidesz-Regierung in Ungarn bereits lange, bevor die PiS-Regierung in Polen die Herrschaft übernahm, einen ähnlichen Demokratieabbau eingeleitet. Die EU-Institutionen ließen ihn dabei jedoch gewähren – wohl in der Hoffnung, dass sich das Problem irgendwie von selbst lösen würde. Zugute kam Orbán auch die Mitgliedschaft der Fidesz in der christdemokratischen Europäischen Volkspartei, die die ungarische Regierung immer wieder in Schutz nahm und dafür auch einige Kritik in Kauf nahm.

Mit seiner Unterstützung für die polnische Regierung ist Orbán nun doppelt abgesichert: Selbst wenn die EVP-Vertreter im Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission sich darauf einließen, auch gegen ihn ein Artikel-7-Verfahren einzuleiten, könnten die polnische und die ungarische Regierung sich im Europäischen Rat wechselseitig Deckung geben und Sanktionsmaßnahmen verhindern. (Jedenfalls wenn man auf eine kreative Auslegung des Artikels 7 verzichtet, nach der die EU ein Doppelverfahren gegen beide Regierungen gleichzeitig eröffnen und ihnen so das Vetorecht nehmen könnte.)

Polen und Ungarn sind nicht allein

Tatsächlich verzichtete die Europäische Kommission bislang allerdings darauf, Sanktionen gegen Polen vorzuschlagen. Auch bei dem Schritt im Dezember ging es nur um ein Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 EUV – das lediglich darauf abzielt, die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Werte der Union festzustellen. Diese Feststellung hätte keine operativen Folgen, sondern vor allem symbolische Bedeutung, weil die Regierungen der übrigen Mitgliedstaaten damit offen gegen die Vorgänge in Polen Stellung beziehen und dem Konflikt damit eine neue Sichtbarkeit und politische Relevanz geben würden.

Notwendig für eine solche Feststellung ist eine Vier-Fünftel-Mehrheit im Ministerrat: 22 der 27 Regierungen (ohne Polen selbst). Die ungarische Fidesz-Regierung hätte hier also kein Vetorecht. Und dennoch ist es derzeit keine Selbstverständlichkeit, dass die Abstimmung im Rat erfolgreich ist – denn außer den beiden offensichtlichsten Fällen Polen und Ungarn gibt es in der EU derzeit noch eine ganze Reihe weiterer Regierungen, die in der ein oder anderen Weise Probleme mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben und deshalb eher nicht daran interessiert sein dürften, das Artikel-7-Verfahren zu einer tatsächlich anwendbaren Werkzeug zu machen.

Im Folgenden deshalb ein kurzer Überblick über Regierungen, die in den letzten Monaten wegen Verstößen gegen die Werte der Union in die Kritik geraten sind. Nicht all diese Fälle haben dieselbe Tragweite, und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass sich all diese Regierungen mit der polnischen Regierung solidarisieren würden. Aber ihre schiere Zahl zeigt, dass es für die EU-Institutionen keineswegs einfach sein wird, Morawiecki und Orbán im Europäischen Rat zu isolieren.

Rumänien: Angriff auf Unabhängigkeit der Justiz

Die Debatte über die Rechtsstaatlichkeit in Rumänien dauert nun bereits fast ebenso lang wie die über die Demokratie in Ungarn – allerdings mit umgekehrtem parteipolitischem Vorzeichen. Bereits 2012 geriet der damalige sozialdemokratische Premierminister Victor Ponta (PSD/SPE) in heftige Kritik, als er die Kompetenzen des nationalen Verfassungsgerichts einzuschränken versuchte, um ein Amtsenthebungsverfahren gegen den konservativen Staatspräsidenten Trajan Băsescu zu erleichtern. Nach großem internationalem Druck musste Ponta jedoch zurückstecken und Băsescu blieb im Amt. Pontas Karriere endete drei Jahre später, als er nach Massenprotesten über öffentliche Korruption im Baugewerbe zurücktrat.

Bei der Parlamentswahl 2016 gewann der PSD allerdings erneut einen Erdrutschsieg, und schon wenig später machten sich die Sozialdemokraten an die Ausarbeitung einer umstrittenen Justizreform, die die Unabhängigkeit der Judikative und der Antikorruptionsbehörden angreifen würde. Als der Drahtzieher dieser Politik gilt der PSD-Parteichef Liviu Dragnea, der allerdings aufgrund einer Vorstrafe wegen Wahlbetrugs selbst kein politisches Amt ausüben darf (und zudem seit Jahren Ärger wegen Korruptionsvorwürfen hat). Trotz erneuter Massenproteste wurde die Justizreform kurz vor Weihnachten im Parlament verabschiedet. Vergangene Woche trat schließlich Ministerpräsident Mihai Tudose (PSD/SPE), der zunehmend in Gegnerschaft zu Dragnea geraten war, von seinem Amt zurück.

Wie es nun in Rumänien weitergeht, ist weitgehend offen. Die Justizreform selbst könnte noch von Staatspräsident Klaus Johannis (PNL/EVP) gebremst werden, allerdings nur für eine gewissen Zeitraum. Zudem wird schon jetzt darüber spekuliert, dass die Regierung in diesem Fall ein Amtsenthebungsverfahren gegen Johannis einleiten könnte. Unterdessen zeigte sich die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) mit Kritik an dem rumänischen PSD bislang etwa ebenso zurückhaltend wie die Europäische Volkspartei gegenüber der ungarischen Fidesz – wobei es womöglich eine Rolle spielt, dass der PSD (ebenso wie Fidesz in der EVP) zu den stärksten nationalen Mitgliedsparteien der SPE zählt. Anfang Februar wird das Europäische Parlament eine Debatte zur Situation in Rumänien halten.

Malta: Geldwäsche, Steuerhinterziehung – und ein Mord

Auch in Malta kam es in den letzten Jahren zu einer eskalierenden Debatte über Korruption und Rechtsstaatlichkeit. Auslöser war die Veröffentlichung der Panama Papers im April 2016, die den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Joseph Muscat (PL/SPE) sowie verschiedene Mitglieder seiner Regierung in Verbindung mit Briefkastenfirmen zur Steuervermeidung brachten. Auf öffentlichen Druck hin rief Muscat Neuwahlen aus, die der PL im Juni 2017 hoch gewann. Wenige Monate später wurde die Investigativjournalistin Daphne Caruana, die zu den Panama Papers recherchiert hatte, mit einer Autobombe ermordet, und trotz einiger Festnahmen im Dezember sind die Hintergründe der Tat bis jetzt nicht aufgeklärt.

Diese Entwicklungen gingen einher mit wachsender Kritik des Europäischen Parlaments an der maltesischen Regierung: Schon im Juni kam es zu einem konfrontativen Auftritt Muscats vor dem Untersuchungsausschuss des Parlaments zu den Panama Papers; im November übten alle großen Fraktionen außer Sozialdemokraten und Rechtspopulisten scharfe Kritik daran, dass die maltesische Regierung Steuerhinterziehung und Geldwäsche nicht hart genug bekämpfe, und forderten die Kommission zu einem Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Malta auf. Zudem sandte das Parlament eine dreiköpfige Sonderdelegation nach Malta, die in der vergangenen Woche einen harschen Bericht zur Lage im Land veröffentlichte.

Angeführt wurde diese Sonderdelegation von der portugiesischen Sozialdemokratin Ana Gomes (PS/SPE), die in der Folge Muscat mit Viktor Orbán verglich und eine härtere Linie auch ihrer eigenen Fraktion forderte. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Tanja Fajon (SD/SPE) wies dies allerdings zurück: Gomes spreche nur für sich selbst, nicht für die gesamte Fraktion. Und auch die Europäische Kommission verteidigte die maltesische Regierung bis jetzt gegen die Vorwürfe des Parlaments.

Kroatien: Rechtskonservative Kulturpolitiker

Ein offener Wackelkandidat in dem Artikel-7-Verfahren gegen die polnische Regierung ist auch Kroatien. Auch im jüngsten Mitgliedstaat gab es in den letzten Jahren Sorgen um die Zukunft der nationalen Demokratie, nachdem nach der Parlamentswahl Ende 2015 eine Koalition zwischen der konservativen Partei HDZ (EVP) und der bürgerlich-liberalen Most (–) die Regierung übernahm. Innerhalb weniger Wochen trieben einige nationalkonservative Minister in dieser Regierung drastische kultur- und medienpolitische Maßnahmen voran, die offenbar auf eine Rehabilitierung der faschistischen Vergangenheit des Landes und eine Ausgrenzung politisch unliebsamer Positionen zielten.

Allerdings stürzte die Koalitionsregierung bereits nach wenigen Monaten über HDZ-interne Streitigkeiten. Bei der Neuwahl im Herbst 2016 konnte die HDZ knapp den ersten Platz verteidigen und es kam zu einer Neuauflage der HDZ-Most-Koalition. Allerdings war die HDZ-Spitze inzwischen ausgetauscht worden, neuer Partei- und Regierungschef wurde der Europapolitiker Andrej Plenković, der zum gemäßigten Flügel der Partei zählt. Das Risiko für ein Abgleiten des Landes in eine „illiberale Demokratie“ nach ungarischem Vorbild ist damit zwar noch nicht endgültig gebannt, aber auch keine akute Gefahr.

Spanien: Kritik am Umgang mit Katalonien

Auch die spanische Regierung unter Mariano Rajoy (PP/EVP) sah sich Ende 2017 in der europäischen Öffentlichkeit Vorwürfen wegen ihres Demokratieverständnisses ausgesetzt. Auslöser war das Unabhängigkeitsreferendum, das das katalanische Regionalparlament für den 1. Oktober einberufen und die spanischen Behörden mit massivem Polizeieinsatz unterbunden hatten. Da die Durchführung des Referendums klar gegen die nationale Verfassung verstieß, hatte die spanische Regierung dabei das Recht auf ihrer Seite. Dennoch stieß das Vorgehen gegen eine (vordergründig) demokratische Volksabstimmung bei vielen Menschen in Europa auf Kritik; und dass es am 1. Oktober auch zu Ausbrüchen von Polizeigewalt kam, trug dazu bei, dass Spanien kurzzeitig wieder der Ruf eines „Francoland“ anhing, das seine faschistische Vergangenheit niemals ganz überwunden habe.

In der Folge geriet auch die EU unter öffentlichen Druck, in die katalanische Krise einzugreifen und härter gegenüber der spanischen Regierung aufzutreten. Die europäischen Institutionen beschränkten sich jedoch darauf, auf das geltende spanische Verfassungsrecht zu verweisen. Nach der Ausrufung neuer katalanischer Regionalwahlen durch die spanische Regierung und der Flucht des Regionalpräsidenten Carles Puigdemont (PDeCAT/ALDE) nach Belgien scheint schließlich auch die öffentliche Meinung wieder gekippt zu sein. Forderungen, dass die EU gegen die spanische Regierung vorgehen müsse, sind derzeit jedenfalls kaum noch zu hören.

Slowakei: Religiöse Diskriminierung in der Flüchtlingskrise

Neben Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehört zu den im EU-Vertrag geschützten Werten der Union unter anderem auch die „Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“, was natürlich auch die Religionsfreiheit einschließt. Entsprechend groß war die Entrüstung, als die slowakische Regierung unter dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Robert Fico (Smer/SPE) auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingskrise im Sommer 2015 ankündigte, sie werde keine muslimischen, sondern nur noch christliche Flüchtlinge aufnehmen.

In der Folge machte nicht nur die Europäische Kommission die slowakische Regierung darauf aufmerksam, dass eine solche Diskriminierung rechtswidrig wäre. Auch der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende im Europäischen Parlament, Gianni Pittella (PD/SPE), forderte eine Suspendierung der SPE-Mitgliedschaft der slowakischen Sozialdemokraten. Nach einem Gespräch zwischen Smer-Repräsentanten und dem SPE-Vorstand im Oktober 2015 wurde die ganze Angelegenheit dann jedoch als ein „Missverständnis“ deklariert. Das hielt Robert Fico allerdings nicht davon ab, auch in den folgenden Monaten wieder und wieder seine Ablehnung muslimischer Flüchtlinge öffentlich kundzutun.

In der Praxis spielte diese angekündigte Diskriminierung bis jetzt vor allem deshalb keine Rolle, weil die Slowakei ohnehin fast überhaupt keine Flüchtlinge aufnahm – ob Muslime, Christen oder Andersgläubige. Gegen den Beschluss des Ministerrates, der eine Umverteilung von Asylbewerbern nach festen Quoten vorsah, klagte die Regierung vor dem EuGH. Im vergangenen September verlor die Slowakei dieses Verfahren allerdings, sodass das Land nun doch Flüchtlinge aufnehmen müsste. Die Regierung kündigte zunächst an, das Urteil zu akzeptieren. Dennoch bleibt die Diskriminierung von Muslimen in der Slowakei ein Thema, das mit den Zugewinnen rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien bei der Parlamentswahl 2016 mit Sicherheit nicht geringer geworden ist.

Tschechien/Österreich: Misstrauen gegenüber neuen Regierungen

In zwei weiteren Ländern schließlich kamen in den letzten Monaten Parteien an die Regierung, die zuvor durch populistische und teils europafeindliche Wahlkämpfe aufgefallen waren: die liberale ANO (ALDE) um Andrej Babiš in Tschechien und die rechte FPÖ (BENF) um Heinz-Christian Strache als Juniorpartner in der Regierung von Sebastian Kurz (ÖVP/EVP) in Österreich. Aufgrund der kurzen Zeit im Amt ist bis jetzt noch unklar, was diese Parteien tatsächlich mit ihrer Regierungsmacht anfangen werden. Bei Babiš steht nach einer verlorenen Vertrauensfrage im tschechischen Parlament derzeit nicht einmal fest, ob er überhaupt Premierminister bleiben wird.

Dennoch flößen diese neuen Regierungen bei vielen Beobachtern Misstrauen ein: Immerhin war die frühere Beteiligung der FPÖ an der Regierung von Wolfgang Schüssel (ÖVP/EVP) im Jahr 2000 schon einmal Anlass für Sanktionsmaßnahmen der übrigen EU-Staaten gegen Österreich. Gianni Pittella jedenfalls warnte im Dezember, die Kurz/Strache-Koalition könnte Europa in „dunkelste Zeiten zurückführen“. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) erklärte hingegen nach einem Gespräch mit Kurz, sie sehe „wenig Trennendes“. Und Kommissionspräsident Juncker bescheinigte der österreichischen Koalition gar, eine „proeuropäische Regierung“ zu sein.

EVP und SPE machen schlechte Figur

Die Diskussion, wie die EU ihren Werten gegenüber den nationalen Regierungen ihrer Mitgliedstaaten Geltung verschaffen kann, betrifft also nicht nur Polen oder Ungarn – sondern in der ein oder anderen Form auch zahlreiche andere Mitgliedstaaten. Für die Europäische Kommission geht damit nicht zuletzt auch ein strategisches Dilemma einher: Tritt sie gegenüber anderen Regierungen zu hart auf, könnten diese sich mit der polnischen PiS solidarisieren und das jüngst eingeleitete Artikel-7-Verfahren zum Scheitern bringen. Ist sie hingegen zu lax, setzt sie sich dem Vorwurf aus, mit zweierlei Maß zu messen und durch ihr Wegschauen einem langsamen Verfall der demokratischen Kultur in Europa Vorschub zu leisten.

Wer bei all den Konflikten allerdings eine wirklich schlechte Figur macht, sind die europäischen Parteien – insbesondere die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokratische Partei Europas. Gewiss, auch deren Einfluss auf ihre problematischen nationalen Mitgliedsparteien sollte man nicht überschätzen: Ein Ausschluss der Fidesz aus der EVP oder des PSD aus der SPE würde nicht unmittelbar zu einer Lösung der Probleme in Ungarn oder Rumänien führen. Doch das Ausmaß, in dem beide großen europäischen Parteien nur die Splitter im Auge der anderen sehen, die Balken im eigenen jedoch ignorieren, sagt jedenfalls nichts Gutes darüber, wie ernst es ihnen mit der Verteidigung der Werte der Union wirklich ist.

Bild: P. Tracz / KPRM [Public Domain], via Flickr.

13 Januar 2018

Wahlgleichheit und degressive Proportionalität bei der Europawahl: Warum wir das Problem ernst nehmen sollten – und wie es sich lösen lässt

Dass jede Stimme gleich viel zählt, sollte in einer Demokratie eigentlich selbstverständlich sein.
Wenn man über das Europawahlrecht und die demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments diskutiert, kommt die Rede früher oder später unweigerlich auf die Frage der Wahlgleichheit. Darunter wird das grundlegende Prinzip verstanden, dass jeder Wähler eine gleich gute Chance haben muss, das Gesamtergebnis der Wahl zu beeinflussen. Dieses Prinzip gehört im intuitiven Verständnis der meisten Menschen zum Kern dessen, was Demokratie ausmacht. Bei der Europawahl aber ist es bis heute nicht verwirklicht – was die Frage aufwirft, ob das Europäische Parlament überhaupt legitimiert ist, als Repräsentationsorgan der EU-Bürger im Mittelpunkt einer gesamteuropäischen parlamentarischen Demokratie zu stehen.

Dabei ist der simple Grundsatz „one person, one vote“ bei der Europawahl eigentlich durchaus gewahrt: Jeder Wähler hat nur eine Stimme. Problematisch ist aber, wie diese Stimmen in Parlamentssitze umgerechnet werden: Der Stimmenanteil, den die europäischen Parteien bei der Europawahl erzielen, stimmt nicht unbedingt mit dem Sitzanteil ihrer Fraktionen im Europäischen Parlament überein. Welche Auswirkungen das bei der Europawahl 2014 im Einzelnen hatte, habe ich hier vor einigen Jahren berechnet. Der auffälligste und folgenreichste Effekt: Obwohl die Europäische Volkspartei etwas weniger Stimmen erhielt als die europäischen Sozialdemokraten, erreichte sie deutlich mehr Sitze und wurde zur stärksten Fraktion im Parlament.

Degressive Proportionalität

Die wichtigste Ursache für diese Verzerrungen ist die sogenannte „degressive Proportionalität“ bei der Größe der nationalen Sitzkontingente. Bekanntlich findet die Europawahl derzeit in Form von 28 nationalen Teilwahlen statt, bei denen die EU-Bürger in jedem Mitgliedstaat eine feste Anzahl von Europaabgeordneten wählen. Dabei werden in größeren Staaten zwar mehr Abgeordnete gewählt als in kleineren, doch die Zahl der Sitze steigt nicht in derselben Geschwindigkeit wie die Einwohnerzahl der Staaten. Kleine Staaten stellen deshalb mehr Abgeordnete pro Einwohner als große.

Durch diese degressive Proportionalität werden die Erfolgschancen der Stimmen verzerrt: Stimmen, die in kleinen Ländern abgegeben werden, wirken sich auf die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments stärker aus als Stimmen in großen Ländern. Die beiden Extreme bilden dabei Deutschland mit 96 Sitzen auf 62 Millionen Wahlberechtigte und Malta mit 6 Sitzen auf 0,3 Millionen Wahlberechtigte.

Ein weiteres Problem ist die unterschiedliche nationale Wahlbeteiligung: Durch die festen nationalen Sitzkontingente haben Stimmen, die in einem Land mit niedriger Wahlbeteiligung abgegeben werden, ein relativ größeres Gewicht als Stimmen in einem Land mit hoher Wahlbeteiligung. Was die europäischen Sozialdemokraten 2014 den Sieg kostete, war, dass sie einen großen Teil ihrer Stimmen in Italien erzielten – einem großen Land mit hoher Wahlbeteiligung, in dem die einzelne Stimme deshalb besonders wenig zählt.

Ein Kompromiss aus Bürger- und Staatengleichheit?

Nun ist das Prinzip der degressiven Proportionalität natürlich nicht vom Himmel gefallen. Vielmehr hat es seine eigene Logik, die sich aus den enormen Größenunterschieden der Mitgliedstaaten erklärt: Würden die nationalen Sitzkontingente bei der Europawahl jeweils getreu die Bevölkerungszahlen widerspiegeln, so stünden Deutschland rund 200 Mal so viele Sitze zu wie Malta, Luxemburg oder Estland. Selbst wenn die kleinsten Staaten nur jeweils einen einzelnen Europaabgeordneten wählen dürften, würde das Europäische Parlament auf über tausend Mitglieder anwachsen und wäre damit weitaus größer als jedes andere demokratische Parlament der Welt.

Die degressive Proportionalität ist deshalb der Versuch eines Kompromisses: Sie soll einerseits auch in den kleinsten Mitgliedstaaten eine bedeutungsvolle Europawahl mit mehreren konkurrierenden Parteien ermöglichen, andererseits aber verhindern, dass das Parlament insgesamt auf eine nicht mehr handlungsfähige Größe wächst. Der Philosoph Jürgen Habermas rechtfertigte dies vor einigen Jahren mit dem Argument, dass das Europawahlrecht die Idee der „Bürgergleichheit“ mit jener der „Staatengleichheit“ verknüpfe.

Die Meinung des Bundesverfassungsgerichts

Aber kann dieses Argument wirklich eine so offensichtliche Abweichung vom Prinzip der Wahlgleichheit rechtfertigen? Vor allem in Deutschland – das als größter Mitgliedstaat besonders stark von der degressiven Proportionalität betroffen ist – wird das „undemokratische“ Europawahlrecht seit langem immer wieder kritisiert. Und diese Kritik geht keineswegs nur von Europaskeptikern aus: Auch die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, Gründerin des European Democracy Lab und Aktivistin für eine „Europäische Republik“, sieht die fehlende Wahlgleichheit als eines der größten Probleme der heutigen Europäischen Union.

Besonders harsch ist auch das deutsche Bundesverfassungsgericht, das in seinem Lissabon-Urteil von 2009 (Abs. 279ff.) ebenfalls ausführlich auf die degressive Proportionalität einging. Aufgrund der fehlenden Wahlgleichheit, so befanden die Richter, „fehlt es der Europäischen Union […] an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens“. Das Europäische Parlament vertrete deshalb nicht das europäische Volk, sondern sei nur „eine Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten“ im Plural.

Daraus zog das Verfassungsgericht die Schlussfolgerung, dass eine gesamteuropäische Demokratie, die sich vor allem auf das Europäische Parlament stütze, nicht möglich sei. Und das wiederum ließ die Richter darauf beharren, dass in entscheidenden europapolitischen Fragen stets ein deutsches Vetorecht erhalten bleiben müsse – und dass „insbesondere die Bildung einer eigenständigen und mit den in Staaten üblichen Machtbefugnissen ausgestatteten Regierung aus dem [Europäischen] Parlament heraus“ abzulehnen sei. Kurz gesagt: Mit einem solch ungleichen Wahlrecht könne die EU niemals eine demokratische „Bürgerunion“ sein, sondern immer nur ein „Verbund souveräner Staaten“.

Furcht, die kleinen Staaten zu brüskieren

Angesichts dieser Argumente sollte man meinen, dass gerade die europäischen Föderalisten sich besonders vehement für europaweite Wahlgleichheit einsetzen müssten. Doch weit gefehlt: Im Programm der föderalistischen Europa-Union Deutschland spielt das Thema nur eine sehr untergeordnete Rolle; lediglich von einer „Wahl des Europäischen Parlaments auf der Grundlage eines einheitlichen Wahlrechts“ ist vage die Rede. Tatsächlich vermeidet die Europa-Union das Thema anscheinend, da sie fürchtet, dass ein solcher Vorstoß die kleineren Mitgliedstaaten brüskieren könnte. Nachdem die deutsche Bundesregierung in den letzten Jahren im Europäischen Rat eine zunehmend dominante Rolle gespielt hat, soll nicht auch noch das Europäische Parlament in den Ruf geraten, eine Institution zur Durchsetzung deutscher Interessen zu sein.

Verteidiger des Status quo verweisen deshalb gerne darauf, dass ja auch in anderen Parlamenten Verzerrungen zwischen Stimm- und Sitzanteil der Parteien durchaus üblich sind. Bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewann sowohl 2000 als auch 2016 der Kandidat mit der niedrigeren Stimmenzahl – was sicherlich zu Kontroversen führte, aber nicht zu einer Einstufung der USA als undemokratischer Staat. Und die Wahlen zum spanischen Parlament basieren auf einem System degressiver Proportionalität, das dem der Europawahl grundsätzlich gar nicht unähnlich ist – nur dass die Größenunterschiede zwischen den spanischen Provinzen nicht so krass sind wie die zwischen den EU-Mitgliedstaaten.

Die Ungleichheit beschädigt die Legitimität der EU-Organe

Was ist davon zu halten? Auch mir scheint, dass die degressive Proportionalität jedenfalls nicht die wichtigste Ursache für das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist. Der übermäßige Einfluss der nationalen Regierungen, der daraus folgende permanente Zwang zu einer großkoalitionären Zusammenarbeit und das Fehlen einer echten Opposition sind für das Funktionieren einer europäischen Demokratie weitaus größere Probleme.

Auf der anderen Seite ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die degressive Proportionalität ein enormes Maß an politischer Ungleichheit erzeugt. Und auch die Begründung des deutschen Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil ist zwar nicht in allen Punkten schlüssig. (Zum Beispiel gehen die Richter fälschlicherweise davon aus, dass das Europawahlrecht an die Staatsangehörigkeit gekoppelt sei. Schon seit 1993 dürfen Unionsbürger jedoch im Land ihres Wohnsitzes an der Europawahl teilnehmen – sodass das Europäische Parlament jedenfalls keine „Vertretung der Völker“ ist, sondern allenfalls der Einwohnerschaften der Mitgliedstaaten.) Doch sein Kernargument lässt sich nicht einfach ignorieren: Die Ungleichheit beschädigt die demokratische Legitimität der europäischen Organe.

Und auch der Habermas’sche Verweis auf die „Staatengleichheit“ kann gerade aus föderalistischer Perspektive nicht überzeugen. In einem demokratischen Mehrebenensystem mögen intergouvernementale Staatenkammern wie der Rat der EU oder der deutsche Bundesrat ihren Platz haben, um die Politik der verschiedenen Ebenen miteinander zu verflechten. Doch Staaten sind keine Individuen und „Staatengleichheit“ deshalb auch kein demokratisches Prinzip. Wenn die supranationale Ebene der EU selbst demokratisch sein soll, dann darf die Staatengleichheit bei der Zusammensetzung ihrer Organe keine ausschlaggebende Rolle spielen.

Das Verfassungsgericht ist ein Veto-Akteur

Und noch ein praktisches Argument spricht dafür, dass die europäischen Föderalisten der Wahlgleichheit etwas mehr Beachtung schenken sollten: nämlich die Machtposition des Bundesverfassungsgerichts. Die deutschen Verfassungsrichter sind de facto ein Veto-Akteur bei jeder EU-Vertragsreform, und ihre restriktive Lissabon-Rechtsprechung stellt ein wichtiges Hindernis bei vielen künftigen Integrationsschritten dar, von der Fiskalunion über die EU-Armee bis hin zur Wahl der Kommission allein durch das Parlament.

Um dieses Hindernis zu überwinden, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder eine neue deutsche Verfassung, die sich über die Bedenken des Gerichts hinwegsetzt – oder ein Meinungswechsel des Gerichts selbst, das dann in künftigen Urteilen seine frühere Rechtsprechung korrigieren und eine integrationsfreundlichere Linie einschlagen könnte. Um eine solche Kursänderung zu begründen, bräuchten die Richter jedoch Argumente: Sie müssten erklären können, warum sie Bedenken, die sie früher gegen die supranationalen Institutionen hegten, nun nicht mehr als relevant betrachten. Würde das Europäische Parlament endlich den im Lissabon-Urteil formulierten Kriterien an ein „durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenes politisches Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens“ entsprechen, könnte dies genau solch ein Argument sein.

Ein Lösungsvorschlag

Wie aber könnte ein Europawahlrecht aussehen, das dem Prinzip der Wahlgleichheit aller Bürger gerecht wird und dennoch für die Regierungen der kleineren Mitgliedstaaten (die ja ebenfalls über ein Vetorecht für jede Wahlrechtsreform verfügen) akzeptabel sein könnte? Wie ich in diesem Blog bereits an anderer Stelle beschrieben habe, scheint mir die beste Lösung ein europaweiter Verhältnisausgleich mithilfe von transnationalen Listen zu sein.

Bei diesem Modell würden die existierenden nationalen Sitzkontingente in ihrer heutigen Form erhalten bleiben. Darüber hinaus gäbe es allerdings ein weiteres, gesamteuropäisches Sitzkontingent, das über Listen der europäischen Parteien besetzt würde. Dabei erhielte jede europäische Partei so viele Sitze aus dem gesamteuropäischen Kontingent, dass ihre Gesamtsitzzahl – einschließlich der Sitze aus den nationalen Kontingenten – genau ihrem gesamteuropäischen Stimmenanteil entspricht. (Ein kleines Rechenbeispiel dazu findet sich hier.)

Gehen wir der Debatte nicht aus dem Weg!

In Bezug auf die Vertretung der Mitgliedstaaten wäre das System also weiterhin degressiv-proportional: Luxemburg und Zypern dürften weiterhin jeweils sechs Abgeordnete stellen, und niemand müsste befürchten, dass das Europäische Parlament künftig allein von den Deutschen dominiert wird. Was die politische Vertretung der europäischen Bürger betrifft, gäbe es jedoch eine europaweite Wahlgleichheit: Jede Stimme, egal ob in Italien oder der Slowakei abgegeben, hätte denselben Einfluss auf den Sitzanteil der Fraktionen im Europäischen Parlament.

Ich bin der Überzeugung, dass ein solches System sowohl für die kleinen Staaten als auch für das deutsche Bundesverfassungsgericht annehmbar sein könnte – von den anderen Vorteilen transnationaler Listen ganz zu schweigen. Auch die europäischen Föderalisten täten deshalb gut daran, der Debatte über die Wahlgleichheit nicht länger aus dem Weg zu gehen, sondern sich ihr mit eigenen Reformvorschlägen zu stellen.

Bild: Thomas Hawk [CC BY-NC 2.0 de], via Flickr.