25 Juni 2012

Die Fiskalunion, das Grundgesetz und der Ruf nach einem deutschen Europa-Referendum

Bald wohl ein Auslaufmodell.
Plötzlich ist die Idee wieder in aller Munde: Warum sollte nicht auch Deutschland mal ein europapolitisches Referendum durchführen? Horst Seehofer (CSU/EVP) ist sowieso dafür, Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) geht davon aus, „dass es schneller kommen könnte, als ich es noch vor wenigen Monaten gedacht hätte“, Peer Steinbrück (SPD/SPE) nennt die nächsten zwei Jahre als möglichen Zeithorizont. Und das, obwohl nirgendwo im deutschen Grundgesetz nationale Volksabstimmungen vorgesehen sind.

Thema des Referendums, so viel ist auch klar, sollten massive Kompetenzübertragungen von der nationalen auf die europäische Ebene sein. Die Euro-Krise hat deutlich gemacht, dass aufgrund der großen zwischenstaatlichen Verflechtung insbesondere in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nationale Vetos und Alleingänge ungeheuren Schaden anrichten können und wir ohne eine echte Fiskalunion (also gemeinsame Entscheidungen und gemeinsame Haftung – plus einen Transfermechanismus zum Ausgleich asymmetrischer Schocks) nicht weiterkommen. Das aber bedeutet auch, dass Steuerpolitik künftig nicht mehr allein national, sondern nur gesamteuropäisch gestaltet werden kann. Und das ist nicht nur sehr wünschenswert, sondern auch von großer verfassungsrechtlicher Brisanz: denn das deutsche Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, dass ein solcher Schritt mit dem gegenwärtigen Grundgesetz nicht möglich ist.

Hintergrund: Das Lissabon-Urteil

Das Urteil zum Vertrag von Lissabon jedenfalls ist diesbezüglich verhältnismäßig eindeutig. In einer viel kritisierten Passage beschäftigte sich das Verfassungsgericht damals statt mit dem Vertrag selbst mit einer Reihe von hypothetischen künftigen Integrationsschritten und definierte mehrere „integrationsfeste“ Politikbereiche, darunter „die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand“ sowie „die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen“. Dabei argumentierte das Gericht, für Laien etwas überraschend, mit Art. 38 GG, der die allgemeinen Modalitäten der Bundestagswahl festlegt. Die Verfassungsrichter lesen daraus, dass das in Art. 20 GG festgeschriebene Demokratieprinzip nur dann erfüllt ist, wenn der Bundestag (und nicht etwa das Europäische Parlament) die zentralen Entscheidungen in der deutschen Politik trifft. Und da die Grundsätze in Art. 20 GG der „Ewigkeitsgarantie“ in Art. 79 Abs. 3 GG unterliegen, kann es eine echte budgetpolitische Integration nur geben, wenn das bisherige Grundgesetz durch eine neue Verfassung ersetzt wird.

Dieser verfassungsrechtliche Hintergrund mag eines der Motive sein, weshalb die deutsche Bundesregierung sich in der Euro-Krise so defensiv verhält und allenfalls die Simulation einer Fiskalunion, nicht aber einen gemeinsamen europäischen Haushalt selbst akzeptieren will. Die Notkredite für Griechenland und der Rettungsschirm EFSF jedenfalls wurden vom Verfassungsgericht akzeptiert. Doch im Moment steht in Frage, ob nicht auch schon der Fiskalpakt und der Europäische Stabilitätsmechanismus die Vorgaben des Lissabon-Urteils verletzen – so jedenfalls argumentieren die Fraktion der Linkspartei (EL) und die frühere Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD/SPE), die gegen diese Beschlüsse Verfassungsklage eingereicht haben. Und da das Gericht das anscheinend nicht vollkommen abwegig findet, mehren sich jetzt wieder die Spekulationen über ein neues Grundgesetz.

Referendumsagenda des Verfassungsgerichts?

Bemerkenswerterweise scheinen diese Spekulationen auch den Verfassungsrichtern selbst keineswegs unangenehm zu sein. Denn die Abschaffung des Grundgesetzes ist im Grundgesetz selbst vorgesehen – nämlich „an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“ (Art. 146 GG). Im Lauf der letzten Jahre haben verschiedene Mitglieder des Verfassungsgerichts (etwa Andreas Voßkuhle und Peter-Michael Huber) auf diese Möglichkeit hingewiesen. Zugleich wurde auch deutlich, wie sich die Richter eine solche neue Verfassungsgebung vorstellen: nämlich in Form eines Referendums.

Womöglich war das umstrittene Lissabon-Urteil also keineswegs ein europapolitischer Blockadeversuch, sondern eher ein rechtspolitischer Trick, um für die Zukunft nationale Volksabstimmungen über größere EU-Vertragsreformen einzuführen. In Irland gibt es diese schon längst, im deutschen Grundgesetz sind sie bislang nicht vorgesehen. Will man das Vorgehen der Richter also freundlich deuten, so könnte man ihre Verdienste um die europapolitische Debatte loben: Schließlich sorgen Referenden in aller Regel für eine sehr viel höhere öffentliche Aufmerksamkeit als rein parlamentarische Abstimmungen, die dann auch noch im Konsens aller großen Parteien getroffen werden.

Nationale Referenden generieren nationale Debatten

Doch stimmt das wirklich? Wie ich hier vor einigen Monaten schon einmal geschrieben habe, bedeutet eine Zunahme nationaler Europa-Diskussionen noch keine europäische Öffentlichkeit. Die Frage, wer an einer Entscheidung beteiligt ist, hat immer auch Auswirkungen darauf, welche Argumente in der Auseinandersetzung über diese Entscheidung vorgebracht werden: Was aus europäischer Perspektive eine notwendige Bündelung von Kompetenzen ist, ist aus einzelstaatlicher Sicht ein Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte – und während sich wohl die meisten Deutschen in einer gemeinsamen Debatte mit Italienern, Franzosen und Finnen schnell darüber einig wären, dass eine Harmonisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik in Europa notwendig ist, wird es bei einer rein nationalen Diskussion viel schwerer zu erklären sein, weshalb Beschlüsse über „unsere“ Finanzen künftig im ach-so-fernen Brüssel getroffen werden sollen.

Auch wenn es irrational erscheint: Bei Entscheidungen, die in einem supranational-europäischen Rahmen getroffen werden, verstehen sich die meisten Menschen als europäische Bürger. Bei europapolitischen Beschlüssen, die auf nationaler (oder auch intergouvernementaler) Ebene gefasst werden, wird der Rest der EU jedoch schnell zum „Ausland“. In der öffentlichen Debatte dominieren dann außenpolitische Paradigmen: nationale Interessen und nationale Souveränität. Und ist das wirklich das Vorzeichen, unter dem wir die notwendigen nächsten Schritte bei der Vertiefung der Europäischen Union diskutieren wollen?

Max Steinbeis hat das vor einigen Monaten im Verfassungsblog sehr treffend ausgedrückt, als er die enge Verbindung zwischen der Debatte über ein neues Grundgesetz und einen neuen EU-Vertrag beschrieb:
Wenn wir tatsächlich die deutsche Nation neu konstitutionalisieren wollten, dann würde das darauf hinauslaufen, dass wir in Wahrheit eine Debatte darüber führen, wie wir Europa neu konstitutionalisieren. Ich bin sehr dafür, dass wir diese Debatte führen, aber das können wir nicht alleine tun. Das ist nicht etwas, das wir Deutschen mit uns selbst ausmachen könnten. Das müsste als gesamteuropäischer Verfassungsgebungsprozess geschehen. Und den werden wir nicht bekommen.

 Alternative: Eine verfassunggebende Versammlung

Wenn nun also aus europapolitischen Gründen ein neues Grundgesetz unausweichlich ist, zugleich aber ein nationales Referendum ein ungeeigneter Weg dafür ist, bleibt vor allem eine Alternative: die Einberufung einer Nationalversammlung, die beispielsweise 2013 zusammen mit dem Bundestag gewählt werden könnte und dann das neue Grundgesetz verabschieden würde. Diese Möglichkeit entspräche der deutschen Verfassungstradition (die Paulskirchenverfassung von 1848, die Weimarer Verfassung von 1919 und das Grundgesetz von 1949 wurden ebenfalls von verfassunggebenden Versammlungen ausgearbeitet) und wurde auch von Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle als gangbarer Weg beschrieben.

Um einen möglichst breiten Konsens zu gewährleisten, sollten die Beschlüsse in einer solchen Nationalversammlung nur mit superqualifizierten Mehrheiten getroffen werden können: etwa drei Viertel oder vier Fünftel, was die Zustimmung mindestens der beiden großen und einer kleineren Partei erforderlich machen würde. Wenn sich die Parteien dann möglichst schon im Voraus darauf verständigen, die Änderungen am Grundgesetz auf die europapolitisch notwendigen Reformen zu begrenzen, könnte die Verfassungsgebung am Ende zu einem recht unspektakulären Ereignis werden – jedenfalls nicht spektakulärer, als es zuletzt die Verhandlungen über die Ratifikation des Fiskalpakts waren.

Wenn Referendum, dann europäisch

Aber was würde dann aus dem Wunsch nach einer breiten öffentlichen Debatte, die sich die Befürworter eines Referendums zu Recht erhoffen? Nun, die würde durch eine Verfassungsgebung qua Nationalversammlung natürlich nicht befördert. Aber über das neue Grundgesetz hinaus würde die Einrichtung einer echten europäischen Wirtschafts- und Fiskalunion ja auch eine Änderung der EU-Verträge notwendig machen. Und warum sollte man über eine so gravierende Reform der europäischen Finanzverfassung nicht ein gesamteuropäisches Referendum durchführen?

Eine solche EU-weite Volksabstimmung wurde bereits im Vorfeld des 2005 gescheiterten Verfassungsvertrags von verschiedenen Seiten vorgeschlagen – in Deutschland etwa von Grünen (EGP) und CSU (EVP), in Österreich von Bundespräsident Heinz Fischer (SPÖ/SPE) und Europaparlamentarier Othmar Karas (ÖVP/EVP). Eines der wichtigsten Hindernisse war damals das deutsche Grundgesetz, das eben keine Referenden auf höherer als regionaler Ebene vorsieht. Aber wenn man das Grundgesetz schon reformiert und europapolitisch öffnet, dann gäbe es auch die Möglichkeit, für die Zukunft gesamteuropäische Volksentscheide zu erlauben.

Für deren genaue Ausgestaltung gäbe es dann verschiedene Optionen. Wenn man auf nationale Sicherungsmechanismen nicht verzichten will, so könnte man als Bedingung für das Inkrafttreten der EU-Vertragsreform eine Abstimmungsmehrheit sowohl der europäischen Bevölkerung als auch der Mitgliedstaaten fordern. Und man könnte den Ländern, in denen die Mehrheit der nationalen Bevölkerung gegen die Vertragsreform gestimmt hat, die Möglichkeit zum Austritt aus der Union geben – etwa in Form einer Zusatzfrage zum Referendum.

Jedenfalls aber wäre ein gesamteuropäischer Volksentscheid mindestens ebenso demokratisch und ebenso gut zur Förderung der öffentlichen Debatte geeignet wie ein nationaler. Und anders als dieser würde er der Diskussion über genuin europäische Fragen wie die Fiskalunion nicht von vornherein ein nationales Framing verpassen, sondern es den europäischen Bürgern ermöglichen, sich auch politisch als solche zu erleben.

Bild: kruxmux [CC-BY-NC-2.0], via Flickr.

5 Kommentare:

  1. Verfassungsbeschwerde der Prof.Hankel et.al + Kundgebung am 30.06. in Karlsruhe

    am Samstag, 30. Juni 2012 werden die Beschwerdeführer Prof. Dr. Wilhelm Hankel, Prof. Wilhelm Nölling, Prof. Dr. KA Schachtschneider und Dr. Bandulet (Prof. Spethmann nimmt krankheitsbedingt nicht teil) eine Verfassungsbeschwerde gegen ESM um 11:20h beim BVerfG (medienwirksam) übergeben.

    Im Anschluss (ab 12:00h) findet am Friedrichsplatz in Karlsruhe eine Kundgebung, organisiert durch den Landesverband BW der FREIEN WÄHLER statt.

    Dort werden die Beschwerdeführer ihre Positionen in kurzen Vorträgen erläutern und Publikumsfragen beantworten.

    Als weiteres Highlight darf der Auftritt von RA Dr. Wolfgang Philipp (langjähriger Syndikus der ehemaligen Dresdner Bank AG) bewertet werden.

    Zusammen mit Prof. Hankel hat er den vorliegenden ESM-Vertrag eingehend analysiert und kommt zu der Feststellung, dass dieses Konstrukt NICHT emissionsfähig sei (!)

    Klingt alles nach einer spannenden Veranstaltung!

    zur Presse-Erklärung der Freien Wähler:

    http://fortunanetz-forum.xobor.de/t85f2-Verfassungsbeschwerden-gegen-EFSF-und-ESM.html#msg1152

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  2. "Spannende Veranstaltung", nur weil eine Verfassungsbeschwerde "medienwirksam übergeben" wird? Na, ich weiß nicht. Die Herren Hankel, Nölling, Schachtschneider & Co. haben schon gegen so viele europäische Verträge geklagt, dass ich persönlich ihre immer gleichen Argumente nicht mehr besonders interessant finde...

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  3. Nur eine kleine Bemerkung mit Fragezeichen zu Deiner These, dass GG sehe keine nationalen Volksabstimmungen vor: Was ist mit Art. 20 Abs. 2 GG? Dort soll die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt werden.

    Die Frage ist nur ein „Abfallprodukt“ unserer Diskussion auf dem Theorieblog. Schade, dass ich Dich nicht früher wahrgenommen habe. Wir arbeiten zu ähnlichen Themen...

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    1. Stimmt, das war ungenau formuliert. Ich wollte nicht sagen, dass das Grundgesetz bundesweite Volksabstimmungen ausschließen würde, sondern nur, dass es solche Volksabstimmungen (anders als z.B. die irische Verfassung) nicht verpflichtend vorschreibt.

      Und was das gegenseitige Wahrnehmen betrifft, haben wir uns ja immerhin jetzt gefunden ;-)

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