- Europäischer Ententest: Wenn es aussieht wie eine Fiskalunion, schwimmt wie eine Fiskalunion und schnattert wie eine Fiskalunion...
Vor einer Woche habe ich
an dieser Stelle einen Plan beschrieben, von dem ich denke,
dass er einige der drängendsten Probleme der europäischen
Währungsunion lösen könnte: Eurobonds, um die Schuldenkrise zu
überwinden und den Krisenstaaten wieder Zugang zu bezahlbaren Krediten zu verschaffen. Der Fiskalpakt, um zu vermeiden, dass die Eurobonds zu
Moral Hazard führen, also dem Anreiz, immer mehr öffentliche
Kredite aufzunehmen und dann die Haftung auf die anderen
Mitgliedstaaten abzuwälzen. Und eine Goldene Regel, die
trotz Schuldenbremse staatliche Investitionen in wenigstens manche Branchen gestattet, um die Konjunktur nicht vollständig abzuwürgen und eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft zu ermöglichen.
Dieses Modell könnte
funktionieren. Aber natürlich wäre es, wie so oft in der
europäischen Politik, eine ausgefeilte Kombination von ineinander
greifenden Regeln, die zuletzt kaum noch jemand ganz verstehen würde.
Deshalb sollte man nicht vergessen, dass es auch eine einfache
Alternative dazu gibt – nämlich die Einrichtung einer echten
Fiskalunion, mit einem EU-Haushalt, der so groß wäre, dass daraus
ein wesentlicher Teil der europäischen öffentlichen Ausgaben
bestritten werden könnte.
Eine gemeinsame Währung verlangt eine Fiskalunion
Die
Bedingungen, unter denen eine gemeinsame Währung funktionieren kann,
werden in der Wirtschaftswissenschaft seit Jahrzehnten diskutiert (für
einen Überblick über die „Theorie optimaler Währungsräume“
siehe hier).
Eines der wichtigsten Probleme ist dabei die Anfälligkeit einer
Währungsunion für asymmetrische Schocks, also
unvorhergesehene ökonomische Ereignisse, die bestimmten Ländern
stärker schaden als anderen. Bei Staaten mit
unterschiedlicher Währung werden solche asymmetrischen Schocks durch
die Wechselkurse absorbiert: Die Währung des härter getroffenen
Staates wertet ab, was seine Importe verteuert und Exporte
verbilligt, daher seine Konjunktur anregt und die Wirtschaft ins
Gleichgewicht zurückbringt. In einer Währungsunion funktioniert
dieser Mechanismus nicht, sodass andere Mittel notwendig sind.
Eines
dieser Mittel ist, wie der Ökonom Peter Kenen 1969 beschrieb, die
fiskalische Integration: Ein gemeinsamer öffentlicher Haushalt, also ein gemeinsames Steuer- und Sozialsystem, wirkt als automatischer
Stabilisator und kann deshalb asymmetrische Schocks auffangen. Auf
nationaler Ebene lässt sich das regelmäßig beobachten: Gerät eine
Region stärker in die Krise als andere, so steigen dort die
Sozialausgaben (etwa die Arbeitslosenhilfe), während zugleich die
Steuereinnahmen sinken. Da Steuern und Sozialausgaben aber aus einem
gesamtstaatlichen Haushalt finanziert werden, kommt es zu einem
Finanztransfer von den stabileren zu den schwächeren Regionen. Dies
wiederum belebt die Konjunktur der Krisenregionen und sorgt so für
eine Wiederherstellung des Gleichgewichts.
Der Unterschied zu den
USA
In
der jüngsten Wirtschaftskrise wurden deshalb immer wieder Vergleiche
zwischen der Eurozone und anderen, nationalen Währungsunionen
gezogen: etwa zwischen Griechenland und Wales
oder zwischen Spanien und Florida.
Tatsächlich geht derzeit niemand davon aus, dass das Pfund oder der
Dollar in nächster Zeit zerbrechen könnte – obwohl Wales und
Florida von Art und Ausmaß her teilweise ganz ähnlich Probleme
haben wie die südeuropäischen Länder. Der Unterschied aber ist,
dass sowohl Großbritannien als auch die USA eine Fiskalunion sind:
Beide verfügen über große, nationale Haushalte, die Unterschiede
zwischen den verschiedenen Regionen ausbalancieren können.
In
der Eurozone dagegen gibt es keinen großen gemeinsamen Haushalt; das
Budget der Europäischen Union beträgt kaum mehr als ein Prozent des
europäischen Bruttoinlandsprodukts. Im Haushaltsplan 2010 verfügte
die EU insgesamt über rund 140 Milliarden Euro, während sich der
Etat allein der Bundesrepublik Deutschland, deren Einwohnerzahl weniger als ein Sechstel davon beträgt, auf fast 320 Milliarden
Euro belief. Entsprechend fallen auch die europäischen
Transfermechanismen (im Wesentlichen die Strukturfonds) relativ
bescheiden aus und sind nicht in der Lage, plötzliche asymmetrische
Schocks zu absorbieren. Die wichtigsten automatischen Stabilisatoren
– progressive Einkommensteuer und Sozialsystem – gibt es ohnehin
nur auf nationaler Ebene, nicht für die Eurozone insgesamt.
Vorteile
eines gemeinsamen Budgets
Doch
nicht nur die ausbleibenden Transfers sind ein Problem; die fehlende
Fiskalunion schafft noch eine Reihe weiterer Schwierigkeiten. So gibt
es in einer Fiskalunion wie den USA jeweils nur einen relevanten
Zinssatz für Staatsanleihen, nämlich den der Zentralregierung.
Kommt es nun zu einem asymmetrischen Schock, der einzelne
Gliedstaaten hart trifft, so mag dieser Zins vorübergehend
ansteigen. Im Wesentlichen jedoch bleibt er stabil, da für die
Kreditwürdigkeit der Zentralregierung die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit der USA insgesamt entscheidend ist – also
einschließlich der wirtschaftlich stabilen Regionen. Anders die
Eurozone: Da Irland und die südeuropäischen Staaten von der
Finanzkrise 2008 härter getroffen wurden als der Rest, fürchteten
die Investoren einen Staatsbankrott dieser Länder. Während die
Zinsen auf deutsche Staatsanleihen in den Keller gingen, stiegen die
Risikoaufschläge für Irland, Spanien und Italien rapide an, und es
kam zur großen Schuldenkrise.
Zugleich
stellt sich bei einem gemeinsamen Budget das Problem des Moral Hazard
nicht: Der einzige relevante Haushalt einer Fiskalunion ist derjenige
des Zentralstaats, und die Höhe der Staatsverschuldung wird durch
die Politik des gemeinsam gewählten Parlaments bestimmt. Von dem
Problem der Generationengerechtigkeit abgesehen kann es deshalb nicht
zu der Situation kommen, dass einer Schulden macht, die ein anderer
bezahlen muss: Für Einnahmen wie Ausgaben ist jeweils die
Gesamtbevölkerung verantwortlich.
Und
schließlich erfolgen in einer Fiskalunion auch die wichtigsten
staatlichen Investitionen aus dem gemeinsamen Haushalt, sodass die
Zentralregierung eine einheitliche, kohärente Wirtschaftspolitik
führen kann. In der Eurozone dagegen betreibt bislang jeder Staat
seine Investitionen aus dem eigenen nationalen Etat und nach den
eigenen nationalen Vorstellungen. Das aber erhöht die Anfälligkeit
für asymmetrische Schocks, da die Widerstandsfähigkeit der Staaten
gegenüber bestimmten Ereignissen auch davon abhängig ist, auf
welche Branchen sie jeweils gesetzt haben. Dass Spanien von der
Immobilienkrise so viel härter getroffen wurde als Deutschland,
liegt eben auch daran, dass dort viel mehr in den Bausektor und viel
weniger in Forschung und Entwicklung investiert wurde.
Eurobonds & Co. sollen die Erhöhung des EU-Etats ersetzen
Mit
einer echten Fiskalunion – die Bündelung der vielen nationalen
Etats in einem gemeinsamen europäischen Budget – wären die
meisten der Probleme, an denen die Eurozone derzeit leidet, also gar
nicht erst aufgetreten. Dennoch weigern sich die europäischen
Regierungen nach wie vor, den Haushalt der EU zu erhöhen; selbst die
recht bescheidenen Wünsche der Kommission und des Europäischen
Parlaments stoßen auf heftigen Widerstand
der Mitgliedstaaten. Das hat teilweise machtpolitische Motive
(natürlich wollen die Regierungen auch künftig lieber selbst
Millionen verteilen, als sie der Kommission zu überlassen),
teilweise auch verfassungsrechtliche (dem Lissabon-Urteil des
Bundesverfassungsgerichts zufolge wäre die deutsche
„Verfassungsidentität“ verletzt, „wenn
die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben
in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde“). Und das ist
der einzige Grund, weshalb wir uns überhaupt Gedanken über
Eurobonds, Fiskalpakt & Co. machen müssen.
Denn
letztlich läuft das Konstrukt, das ich oben beschrieben habe, auf
die Simulation einer Fiskalunion hinaus: auf den Versuch, die Effekte
einer Fiskalunion zu erzielen, ohne wirklich ein ausreichendes
EU-Budget einzurichten. In einer Fiskalunion gibt es einen
einheitlichen Zinssatz auf Staatsanleihen, sodass ein asymmetrischer
Schock nicht zu einer Schuldenkrise führt? Auch Eurobonds
garantieren einen gemeinsamen Zinssatz! In einer Fiskalunion wird die
Höhe der Staatsverschuldung von der Bevölkerung gemeinsam
festgelegt? Der Fiskalpakt schafft ebenfalls ein einheitliches
Defizit! In einer Fiskalunion gibt es eine kohärente
Investitionspolitik? Wenn wir die Goldene Regel jeweils nur für
bestimmte, von der Kommission festzulegende Branchen anwenden, dann
können wir auch in Europa die Richtung der öffentlichen
Investitionen künftig zentral steuern!
Wie
gesagt: Das könnte
funktionieren. Womöglich
übersehen wir auch etwas – irgendeinen positiven Effekt eines
gemeinsamen Haushalts, der sich in unserer europäischen Simulation
nicht wiederfindet – und lösen damit die nächste große Krise aus. Aber
immerhin würde niemand sagen können, wir hätten keinen juristischen
und politischen Innovationsgeist gezeigt. Mit einem gewaltigen
Aufwand an Kreativität hätten wir die erste Fiskalunion ohne ein
gemeinsames Budget geschaffen, zusammengezurrt aus zwei, drei, vier
verschiedenen Verträgen und einer Vielzahl von Verordnungen,
Richtlinien und Durchführungsbestimmungen. Jeder leidenschaftliche
Technokrat wird das lieben.
Aber wäre es nicht vielleicht am Ende
doch etwas einfacher, allgemeinverständlicher und, nun ja, demokratischer, wenn wir stattdessen den
direkten Weg gehen und die Europäische Union so bald wie möglich mit einem angemessenen
Budget ausstatten?
PS
Nur
damit es keine Missverständnisse gibt: In der Rhetorik der deutschen Bundesregierung wird
das Wort „Fiskalunion“ seit einiger Zeit synonym mit dem
Fiskalpakt gebraucht – ganz als ob man die Effekte eines
gemeinsamen Haushalts schon allein durch eine allgemeine
Schuldenbremse erreichen könnte. Dass das nicht funktionieren wird,
ist ziemlich offensichtlich. Ohne wenigstens indirekte Mechanismen
zur Abfederung asymmetrischer Schocks, etwa in Form von Eurobonds, wird es immer wieder zu Krisen
wie der jetzigen kommen können. Oder, um es in den Worten von Kevin O'Rourke zu sagen:
Describing this as a “fiscal union,” as some have done, constitutes a near-Orwellian abuse of language.
Bild: By Fizykaa (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.
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