Plötzlich ist die Idee
wieder in aller Munde: Warum sollte nicht auch Deutschland mal
ein europapolitisches Referendum durchführen? Horst Seehofer
(CSU/EVP) ist sowieso dafür, Wolfgang Schäuble (CDU/EVP) geht davon
aus, „dass es schneller kommen könnte, als ich es noch vor wenigen
Monaten gedacht hätte“, Peer Steinbrück (SPD/SPE) nennt die
nächsten zwei Jahre als möglichen Zeithorizont. Und das, obwohl
nirgendwo im deutschen Grundgesetz nationale Volksabstimmungen
vorgesehen sind.
Thema des Referendums, so
viel ist auch klar, sollten massive Kompetenzübertragungen von der
nationalen auf die europäische Ebene sein. Die Euro-Krise hat
deutlich gemacht, dass aufgrund der großen zwischenstaatlichen
Verflechtung insbesondere in der Wirtschafts- und Finanzpolitik
nationale Vetos und Alleingänge ungeheuren Schaden anrichten können
und wir ohne eine echte Fiskalunion (also gemeinsame Entscheidungen
und gemeinsame Haftung –
plus einen Transfermechanismus zum Ausgleich asymmetrischer Schocks)
nicht weiterkommen. Das aber bedeutet auch, dass Steuerpolitik
künftig nicht mehr allein national, sondern nur gesamteuropäisch
gestaltet werden kann. Und das ist nicht nur sehr wünschenswert,
sondern auch von großer verfassungsrechtlicher Brisanz: denn das
deutsche Bundesverfassungsgericht ist der Meinung, dass ein solcher
Schritt mit dem gegenwärtigen Grundgesetz nicht möglich ist.
Hintergrund: Das Lissabon-Urteil
Das
Urteil zum Vertrag von Lissabon jedenfalls ist
diesbezüglich verhältnismäßig eindeutig. In einer viel kritisierten Passage
beschäftigte sich das Verfassungsgericht damals statt mit dem
Vertrag selbst mit einer Reihe von hypothetischen künftigen
Integrationsschritten und definierte mehrere „integrationsfeste“
Politikbereiche, darunter „die fiskalischen Grundentscheidungen
über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte –
Ausgaben der öffentlichen Hand“ sowie „die sozialstaatliche
Gestaltung von Lebensverhältnissen“. Dabei argumentierte das
Gericht, für Laien etwas überraschend, mit Art. 38 GG,
der die allgemeinen Modalitäten der Bundestagswahl festlegt. Die
Verfassungsrichter lesen daraus, dass das in Art. 20 GG
festgeschriebene Demokratieprinzip nur dann erfüllt ist, wenn der
Bundestag (und nicht etwa das Europäische Parlament) die zentralen
Entscheidungen in der deutschen Politik trifft. Und da die Grundsätze
in Art. 20 GG der „Ewigkeitsgarantie“ in Art. 79 Abs. 3 GG unterliegen,
kann es eine echte budgetpolitische Integration nur geben, wenn das
bisherige Grundgesetz durch eine neue Verfassung ersetzt wird.
Dieser
verfassungsrechtliche Hintergrund mag eines der Motive sein, weshalb
die deutsche Bundesregierung sich in der Euro-Krise so defensiv
verhält und allenfalls die Simulation einer Fiskalunion, nicht
aber einen gemeinsamen europäischen Haushalt selbst akzeptieren
will. Die Notkredite für Griechenland und der Rettungsschirm EFSF
jedenfalls wurden vom Verfassungsgericht akzeptiert. Doch im Moment
steht in Frage, ob nicht auch schon der Fiskalpakt und der
Europäische Stabilitätsmechanismus die Vorgaben des
Lissabon-Urteils verletzen – so jedenfalls argumentieren
die
Fraktion der Linkspartei (EL) und die frühere Justizministerin Herta
Däubler-Gmelin (SPD/SPE), die gegen diese Beschlüsse
Verfassungsklage eingereicht haben. Und da das Gericht das anscheinend
nicht vollkommen abwegig findet,
mehren sich jetzt wieder die Spekulationen über ein neues
Grundgesetz.
Referendumsagenda
des Verfassungsgerichts?
Bemerkenswerterweise
scheinen diese Spekulationen auch den Verfassungsrichtern selbst
keineswegs unangenehm zu sein. Denn die Abschaffung des Grundgesetzes
ist im Grundgesetz selbst vorgesehen – nämlich „an dem Tage, an dem eine
Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier
Entscheidung beschlossen worden ist“ (Art. 146 GG).
Im Lauf der letzten Jahre haben verschiedene Mitglieder des
Verfassungsgerichts (etwa Andreas Voßkuhle und
Peter-Michael Huber)
auf diese Möglichkeit hingewiesen. Zugleich wurde auch deutlich, wie
sich die Richter eine solche neue Verfassungsgebung vorstellen:
nämlich in Form eines Referendums.
Womöglich
war das umstrittene Lissabon-Urteil also keineswegs ein
europapolitischer Blockadeversuch, sondern eher ein rechtspolitischer
Trick, um für die Zukunft nationale Volksabstimmungen über größere
EU-Vertragsreformen einzuführen. In Irland gibt es diese schon
längst, im deutschen Grundgesetz sind sie bislang nicht vorgesehen.
Will man das Vorgehen der Richter also freundlich deuten,
so könnte man ihre Verdienste um die europapolitische Debatte loben:
Schließlich sorgen Referenden in aller Regel für eine sehr viel
höhere öffentliche Aufmerksamkeit als rein parlamentarische
Abstimmungen, die dann auch noch im Konsens aller großen Parteien
getroffen werden.
Nationale
Referenden generieren nationale Debatten
Doch
stimmt das wirklich? Wie ich hier vor einigen Monaten schon einmal geschrieben habe,
bedeutet eine Zunahme nationaler Europa-Diskussionen noch keine
europäische Öffentlichkeit. Die Frage, wer an einer Entscheidung
beteiligt ist, hat immer auch Auswirkungen darauf, welche Argumente
in der Auseinandersetzung über diese Entscheidung vorgebracht
werden: Was aus europäischer Perspektive eine notwendige Bündelung
von Kompetenzen ist, ist aus einzelstaatlicher Sicht ein Verzicht auf
nationale Souveränitätsrechte – und während sich wohl die
meisten Deutschen in einer gemeinsamen Debatte mit Italienern,
Franzosen und Finnen schnell darüber einig wären, dass eine
Harmonisierung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik in Europa notwendig
ist, wird es bei einer rein nationalen Diskussion viel schwerer zu
erklären sein, weshalb Beschlüsse über „unsere“ Finanzen
künftig im ach-so-fernen Brüssel getroffen werden sollen.
Auch
wenn es irrational erscheint: Bei Entscheidungen, die in einem
supranational-europäischen Rahmen getroffen werden, verstehen sich
die meisten Menschen als europäische Bürger. Bei europapolitischen
Beschlüssen, die auf nationaler (oder auch intergouvernementaler)
Ebene gefasst werden, wird der Rest der EU jedoch schnell zum
„Ausland“. In der öffentlichen Debatte dominieren dann außenpolitische Paradigmen: nationale Interessen und nationale
Souveränität. Und ist das wirklich das Vorzeichen, unter dem wir
die notwendigen nächsten Schritte bei der Vertiefung der
Europäischen Union diskutieren wollen?
Max
Steinbeis hat das vor einigen Monaten im Verfassungsblog
sehr treffend ausgedrückt, als
er die enge Verbindung zwischen der Debatte über ein neues
Grundgesetz und einen neuen EU-Vertrag beschrieb:
Wenn wir tatsächlich die deutsche Nation neu konstitutionalisieren wollten, dann würde das darauf hinauslaufen, dass wir in Wahrheit eine Debatte darüber führen, wie wir Europa neu konstitutionalisieren. Ich bin sehr dafür, dass wir diese Debatte führen, aber das können wir nicht alleine tun. Das ist nicht etwas, das wir Deutschen mit uns selbst ausmachen könnten. Das müsste als gesamteuropäischer Verfassungsgebungsprozess geschehen. Und den werden wir nicht bekommen.
Alternative:
Eine verfassunggebende Versammlung
Wenn
nun also aus europapolitischen Gründen ein neues Grundgesetz
unausweichlich ist, zugleich aber ein nationales Referendum ein
ungeeigneter Weg dafür ist, bleibt vor allem eine Alternative: die
Einberufung einer Nationalversammlung, die beispielsweise 2013
zusammen mit dem Bundestag gewählt werden könnte und dann das neue
Grundgesetz verabschieden würde. Diese Möglichkeit entspräche der
deutschen Verfassungstradition (die Paulskirchenverfassung von 1848,
die Weimarer Verfassung von 1919 und das Grundgesetz von 1949 wurden
ebenfalls von verfassunggebenden Versammlungen ausgearbeitet) und
wurde auch von Verfassungsgerichtspräsident Voßkuhle als gangbarer Weg beschrieben.
Um
einen möglichst breiten Konsens zu gewährleisten, sollten die
Beschlüsse in einer solchen Nationalversammlung nur mit
superqualifizierten Mehrheiten getroffen werden können: etwa drei
Viertel oder vier Fünftel, was die Zustimmung mindestens der beiden
großen und einer kleineren Partei erforderlich machen würde. Wenn
sich die Parteien dann möglichst schon im Voraus darauf
verständigen, die Änderungen am Grundgesetz auf die europapolitisch
notwendigen Reformen zu begrenzen, könnte die Verfassungsgebung am
Ende zu einem recht unspektakulären Ereignis werden – jedenfalls
nicht spektakulärer, als es zuletzt die Verhandlungen über die
Ratifikation des Fiskalpakts waren.
Wenn Referendum, dann europäisch
Aber
was würde dann aus dem Wunsch nach einer breiten öffentlichen
Debatte, die sich die Befürworter eines Referendums zu Recht
erhoffen? Nun, die würde durch eine Verfassungsgebung qua
Nationalversammlung natürlich nicht befördert. Aber über das neue
Grundgesetz hinaus würde die Einrichtung einer echten europäischen
Wirtschafts- und Fiskalunion ja auch eine Änderung der EU-Verträge
notwendig machen. Und warum sollte man über eine so gravierende
Reform der europäischen Finanzverfassung nicht ein
gesamteuropäisches Referendum durchführen?
Eine
solche EU-weite Volksabstimmung wurde bereits im Vorfeld des 2005
gescheiterten Verfassungsvertrags von verschiedenen Seiten
vorgeschlagen – in Deutschland etwa
von Grünen (EGP) und CSU (EVP), in Österreich
von Bundespräsident Heinz Fischer (SPÖ/SPE)
und Europaparlamentarier Othmar Karas (ÖVP/EVP). Eines der
wichtigsten Hindernisse war damals das deutsche Grundgesetz, das eben
keine Referenden auf höherer als regionaler Ebene vorsieht. Aber
wenn man das Grundgesetz schon reformiert und europapolitisch öffnet,
dann gäbe es auch die Möglichkeit, für die Zukunft
gesamteuropäische Volksentscheide zu erlauben.
Für
deren genaue Ausgestaltung gäbe es dann verschiedene Optionen. Wenn
man auf nationale Sicherungsmechanismen nicht verzichten will, so
könnte man als Bedingung für das Inkrafttreten der
EU-Vertragsreform eine Abstimmungsmehrheit sowohl der europäischen
Bevölkerung als auch der Mitgliedstaaten fordern. Und man könnte
den Ländern, in denen die Mehrheit der nationalen Bevölkerung gegen
die Vertragsreform gestimmt hat, die Möglichkeit zum Austritt aus
der Union geben – etwa in Form einer Zusatzfrage zum Referendum.
Jedenfalls
aber wäre ein gesamteuropäischer Volksentscheid mindestens ebenso
demokratisch und ebenso gut zur Förderung der öffentlichen Debatte
geeignet wie ein nationaler. Und anders als dieser würde er der
Diskussion über genuin europäische Fragen wie die Fiskalunion nicht
von vornherein ein nationales Framing verpassen, sondern es den
europäischen Bürgern ermöglichen, sich auch politisch als solche
zu erleben.
Bild: kruxmux [CC-BY-NC-2.0], via Flickr.
Verfassungsbeschwerde der Prof.Hankel et.al + Kundgebung am 30.06. in Karlsruhe
AntwortenLöschenam Samstag, 30. Juni 2012 werden die Beschwerdeführer Prof. Dr. Wilhelm Hankel, Prof. Wilhelm Nölling, Prof. Dr. KA Schachtschneider und Dr. Bandulet (Prof. Spethmann nimmt krankheitsbedingt nicht teil) eine Verfassungsbeschwerde gegen ESM um 11:20h beim BVerfG (medienwirksam) übergeben.
Im Anschluss (ab 12:00h) findet am Friedrichsplatz in Karlsruhe eine Kundgebung, organisiert durch den Landesverband BW der FREIEN WÄHLER statt.
Dort werden die Beschwerdeführer ihre Positionen in kurzen Vorträgen erläutern und Publikumsfragen beantworten.
Als weiteres Highlight darf der Auftritt von RA Dr. Wolfgang Philipp (langjähriger Syndikus der ehemaligen Dresdner Bank AG) bewertet werden.
Zusammen mit Prof. Hankel hat er den vorliegenden ESM-Vertrag eingehend analysiert und kommt zu der Feststellung, dass dieses Konstrukt NICHT emissionsfähig sei (!)
Klingt alles nach einer spannenden Veranstaltung!
zur Presse-Erklärung der Freien Wähler:
http://fortunanetz-forum.xobor.de/t85f2-Verfassungsbeschwerden-gegen-EFSF-und-ESM.html#msg1152
"Spannende Veranstaltung", nur weil eine Verfassungsbeschwerde "medienwirksam übergeben" wird? Na, ich weiß nicht. Die Herren Hankel, Nölling, Schachtschneider & Co. haben schon gegen so viele europäische Verträge geklagt, dass ich persönlich ihre immer gleichen Argumente nicht mehr besonders interessant finde...
AntwortenLöschenNur eine kleine Bemerkung mit Fragezeichen zu Deiner These, dass GG sehe keine nationalen Volksabstimmungen vor: Was ist mit Art. 20 Abs. 2 GG? Dort soll die Staatsgewalt vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt werden.
AntwortenLöschenDie Frage ist nur ein „Abfallprodukt“ unserer Diskussion auf dem Theorieblog. Schade, dass ich Dich nicht früher wahrgenommen habe. Wir arbeiten zu ähnlichen Themen...
Stimmt, das war ungenau formuliert. Ich wollte nicht sagen, dass das Grundgesetz bundesweite Volksabstimmungen ausschließen würde, sondern nur, dass es solche Volksabstimmungen (anders als z.B. die irische Verfassung) nicht verpflichtend vorschreibt.
LöschenUnd was das gegenseitige Wahrnehmen betrifft, haben wir uns ja immerhin jetzt gefunden ;-)
Sweet ;)
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