- Der Euro muss stabiler werden. Der Europäische Rat setzt deshalb auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus.
Je schneller die
Stellungnahme, desto kürzer ihre Halbwertszeit, aber ein paar Worte
will ich doch verlieren über die gestern Nacht erzielten Einigungen
bei der Tagung des Europäischen Rates (hier das Kommuniqué).
Die entscheidende Frage war ja, ob sich der Gipfel nur zu einem
einmaligen Wachstumspaket durchringen würden, das die Staats- und
Regierungschefs der vier größten Euro-Staaten schon Anfang der
Woche angekündigt hatten, oder ob es darüber hinaus auch
grundsätzliche Reformen der europäischen Finanzverfassung geben
würde. Diese sind nötig, um erstens den investitionshemmenden
Austeritäts-Bias des Fiskalpakts auszugleichen und um zweitens
Mechanismen zu schaffen, die der Eurozone eine Reaktion auf
asymmetrische Schocks ermöglichen.
In den letzten Wochen
wurden, auch in diesem Blog,
verschiedene Maßnahmen zu diesen Zwecken diskutiert: die Goldene Regel (zum Erhalt öffentlicher Investitionen), Eurobonds (gegen
asymmetrische Schocks bei der Staatsfinanzierung), eine gemeinsame Einlagensicherung der europäischen Banken (gegen asymmetrische Schocks im Finanzsystem) – jeweils begleitet von einer Übertragung
von Aufsichts- und Kontrollrechten an die europäische Ebene, um
Moral Hazard zu verhindern. Mit Ausnahme der Goldenen Regel fanden
sich diese Ideen auch in den Vorschlägen wieder,
die die vier Präsidenten der Europäischen Kommission, des
Europäischen Rates, der Europäischen Zentralbank und der Eurogruppe
kurz vor dem Gipfel präsentierten (Wortlaut).
Der Europäische Rat
setzt auf den ESM
Nachdem die deutsche
Bundesregierung sich jedoch scharf gegen diese Pläne ausgesprochen hatte, schlug der Gipfel einen anderen Weg ein und
verzichtete sowohl auf Eurobonds als auch auf die gemeinsame
Einlagensicherung. Stattdessen scheint er voll auf den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) zu setzen – den neuen 500 Milliarden schweren Fonds, der in den Medien als
„Euro-Rettungsschirm“ bekannt ist. Ziel dieses Fonds war es
ursprünglich, Euro-Staaten Kredite zu gewähren, wenn ansonsten die
Stabilität der Eurozone insgesamt gefährdet wäre. Im Ausgleich
müssten die geretteten Staaten jeweils strikte Reform-, d.h.
Sparprogramme durchführen.
Die Beschlüsse des
Gipfels laufen nun erstens darauf hinaus, dass solche Rettungskredite
auch ohne zusätzliche Sparprogramme gewährt werden können, sofern
die Krisenstaaten zuvor alle Vorgaben des Stabilitätspakts erfüllt
haben. Damit wird der Europäische Rat der Tatsache gerecht, dass ein
Staat auch ohne eigenes Verschulden in eine Finanzkrise geraten kann
– eben wenn er von einem exogenen Wirtschaftsschock getroffen wird,
den er mangels eigener Währung nicht durch Abwertung ausgleichen
kann.
Zweitens soll der ESM
künftig auch direkt zur Sanierung von angeschlagenen Banken
verwendet werden können. Mittelbar kann er damit die gemeinsame
Einlagensicherung ersetzen: Diese sollte ja vor allem die Sorgen der
Investoren abbauen, dass bei einer Bankenpleite ihre Einlagen in den
Krisenländern schlechter abgesichert sind als in den stabilen
Staaten. Wenn nun der ESM einschreiten kann, um solche Pleiten zu
verhindern, kann das auch das Vertrauen in den spanischen,
italienischen oder irischen Bankensektor wiederherstellen.
Je flexibler der ESM, desto ähnlicher ist er einem gemeinsamen Haushalt
In
einiger Hinsicht also bieten die gestern getroffenen Beschlüsse
gangbare Ansätze für wichtige Herausforderungen der Eurozone. Ich
habe hier vor einigen Wochen geschrieben,
dass die eigentliche Lösung der europäischen Finanzschwierigkeiten
in der Einrichtung eines großen EU-Haushaltes bestünde – und dass
die verschiedenen Modelle, die zur Überwindung der Eurokrise diskutiert
werden, am besten als der Versuch verstanden werden können, dessen
nützlichen Effekte zu simulieren. Je flexibler nun die
ESM-Regelungen gestaltet werden, desto mehr Ähnlichkeit bekommt der
Fonds mit einem solchen gemeinsamen Haushalt.
Etliche
Probleme jedoch bleiben auch ungelöst. Erstens kann der ESM nach wie
vor nur Kredite vergeben. Zwar kann auch ein niedrig verzinster
Kredit eine indirekte Form des Transfers sein – dennoch ist nicht
sicher, ob das schon genügt, um größere Asymmetrien in der
Eurozone hinreichend ausbalancieren zu können. Zweitens bietet der
ESM keine Lösung für das Problem, dass die Schuldenbremse
öffentliche Investitionen abwürgen wird (wobei hier die ebenfalls
auf dem Gipfel zu beschließende Kapitalaufstockung der Europäischen
Investitionsbank einen Lösungsansatz bieten mag). Und drittens ist
der ESM für einen echten gemeinsamen Haushalt viel zu klein; je mehr
Aufgaben ihm nun übertragen werden, desto eher wird auch seine
finanzielle Kraft irgendwann erschöpft sein. Um eine glaubwürdige
Garantie für die Stabilität der Eurozone zu bieten, müsste man
deshalb sicherstellen, dass er gegebenenfalls an weiteres Geld
gelangen kann – etwa durch eine unbegrenzte Nachschusspflicht der
Mitgliedstaaten. Dies aber käme einer EU-Steuer gleich und würde
deshalb von zahlreichen Regierungen (darunter der deutschen) sicher
abgelehnt.
Hauptproblem: Die Entscheidungsverfahren des ESM
Das
Hauptproblem des ESM jedoch liegt in seinen Entscheidungsverfahren:
Das zentrale Beschlussgremium des neuen Fonds ist sein
Gouverneursrat, der sich aus den Finanzministern der
Euro-Mitgliedstaaten zusammensetzt und in allen wichtigen Fragen nur
einstimmig entscheiden kann. Das schmälert zum einen seine
Glaubwürdigkeit auf den Finanzmärkten, da immer zu fürchten sein
wird, dass in einer Krisensituation eine einzelne Regierung mit ihrem
Veto alle Rettungsmaßnahmen blockieren kann. Und zweitens ist diese
Entscheidungsstruktur natürlich reichlich undemokratisch, da sie
keine Parlamentsbeteiligung vorsieht. In vielen Ländern wurde nun
durch die nationale Gesetzgebung sichergestellt, dass die
Finanzminister ihre Entscheidungen im Gouverneursrat nur nach der
vorherigen Zustimmung ihres jeweiligen nationalen Parlaments treffen
können. Aber sollte die Stabilität der Währungsunion nicht
eigentlich auch eine Angelegenheit des Europäischen Parlaments sein?
Es
gab in der Geschichte der europäischen Integration über Jahrzehnte
hinweg eine skurrile Aufteilung des EU-Haushalts in „obligatorische“
und „nicht-obligatorische Ausgaben“. Während Letztere einer
gemeinsamen Kompetenz des Rates und des Europäischen Parlaments
unterlagen, entschied über Erstere der Rat allein. Erst durch den
Vertrag von Lissabon wurde diese Trennung aufgegeben; das Europäische
Parlament ist seitdem als Haushaltsbehörde für alle Bereiche des
regulären EU-Etats mit dem Rat gleichberechtigt.
Nun
aber droht ein Rückfall in diese alten Zeiten, in denen die
Finanzierung mancher Politikbereiche (in diesem Fall die
Stabilisierung der Eurozone) allein dem Rat (bzw. hier den
Finanzministern der Eurogruppe) überlassen wird. Ein Effizienzgewinn
ist dadurch nicht zu erwarten – im Gegenteil war der Kern der alten
„obligatorischen Ausgaben“ gerade das Budget für die Gemeinsame
Agrarpolitik, der mit Abstand teuerste und ineffizienteste
Politikbereich der EU. Und demokratischer ist eine Entscheidung ohne
das Europäische Parlament erst recht nicht.
Wenn
der ESM nun also zum neuen EU-Schattenhaushalt werden soll, dann muss
man auch seine Entscheidungsverfahren reformieren: Wie wäre
es, wenn auch hier künftig nur eine Mehrheit der Staatenvertreter
erforderlich wäre und dafür die Europaabgeordneten ein
Mitspracherecht erhielten? De facto würde das bedeuten, den neuen
Fonds in den regulären EU-Haushalt einzugliedern. Aber das wäre
zuletzt ohnehin die sauberste Lösung.
Bild: By Adrian Petty (Own work) [CC-BY-SA-3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons.
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