27 September 2022

Was bedeutet die italienische Wahl für Europa? (2): Die Folgen für die Europapolitik

Wahlplakat mit dem Gesicht von Giorgia Meloni und der Aufschrift 'Pronti a risollevare l'Italia'
Im Wahlkampf versprach Giorgia Meloni, Italien wieder aufzurichten. Mit Europa hat sie weniger am Hut.

Italien hat gewählt, und eine Rechtskoalition unter Giorgia Meloni (FdI/EKR) wird die Regierung übernehmen. Im letzten Blogartikel ging es darum, wie stabil dieses Bündnis ist und wie weit es das Land wirklich nach rechts ziehen kann. Aber natürlich ist die nationale Regierung eines EU-Mitgliedstaats nicht nur für das Land selbst von Bedeutung, sondern bestimmt über den Rat auch die europäische Politik mit. Wie problematisch wird der Aufstieg der extremen Rechten in Italien für die EU?

Die Europäische Kommission reagierte auf die Wahl erst einmal mit dem ihr eigenen Phlegma gegenüber innerstaatlichen demokratischen Prozessen: Man kommentiere die Ergebnisse nationaler Wahlen grundsätzlich nicht, ließ ein Pressesprecher gestern wissen, und hoffe mit jeder gewählten Regierung konstruktiv zusammenzuarbeiten.

Das Rechtsaußen-Lager in der EU wird stärker

Ganz unbesorgt dürfte aber kaum eine Europafreund:in sein, wenn nach Polen und Tschechien künftig ein dritter Mitgliedstaat von einer Regierungschef:in der Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) regiert wird und das Rechtsaußen-Lager in den europäischen Institutionen an Gewicht gewinnt. Und haben die drei Anführer:innen des italienischen Rechtsbündnisses – Meloni, Matteo Salvini (Lega/ID) und Silvio Berlusconi (FI/EVP) – nicht alle in der Vergangenheit schon mit der Idee eines Euro-Austritts sympathisiert?

Im Folgenden einige Sorgen, die die EU mit dem italienischen Rechtsruck verbindet – und wie realistisch sie tatsächlich sind.

Ein Euro-Austritt steht nicht auf der Agenda

Um gleich mit dem weitreichendsten Grusel-Szenario anzufangen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Italien in den nächsten Jahren aus dem Euro oder gar der EU austritt, liegt nahe bei Null. Sicher: Italien gehörte während der europäischen „Polykrise“ um Euro, Asylpolitik und Coronapandemie in den letzten fünfzehn Jahren immer wieder zu den besonders stark betroffenen Ländern, und das Gefühl, von den anderen Mitgliedstaaten im Stich gelassen worden zu sein, ist weit verbreitet. Mit einem Euro-Austritt zu flirten, war für rechtspopulistische Oppositionsparteien eine einfache Strategie, um verbitterte und von Europa enttäuschte Wähler:innen zu erreichen.

Doch sobald die italienischen Rechtsparteien auch nur in die Nähe der Macht kamen, ließen sie diese Rhetorik immer sehr schnell wieder fallen. Denn natürlich wäre ein Euro-Austritt für eine so stark transnational verflochtene Wirtschaft wie die italienische fatal, und insbesondere FI und Lega zählen zu ihrer Wählerbasis auch zahlreiche mittelständische Unternehmer:innen, die an derlei Experimenten wenig Interesse haben. Tatsächlich reden vom Euro-Austritt in Italien derzeit nur noch Splitterparteien, von denen keine einen Sitz im Parlament errungen hat.

Routine-Reibereien in der Wirtschaftspolitik

Zudem ist Italien zwar ein europäisches Nettozahler-Land – aber auch einer der Hauptgewinner des Corona-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU. Auch dass die Märkte der Draghi-Regierung vertrauten, kam der italienischen Wirtschaft zugute. Abrupte wirtschaftspolitische Kurswechsel wären für die Rechtsregierung deshalb mit großen Risiken verbunden. Der unmittelbar nach der Wahl sprunghaft angestiegene Spread auf italienische Staatsanleihen war in dieser Hinsicht ein erstes Warnsignal.

Ganz ohne Reibereien dürfte es zwischen der neuen Regierung und der EU in der Wirtschaftspolitik freilich auch nicht abgehen. Das Wahlprogramm der Rechtskoalition sieht zahlreiche Steuersenkungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Renten und der familienpolitischen Sozialausgaben vor – was wohl kaum ohne neue Haushaltsdefizite möglich wäre. Zudem will die neue Regierung den NextGenerationEU-Wiederaufbauplan nachverhandeln. Aber Streitigkeiten über Ausgabenprioritäten und Defizite sind Brüsseler Routine. Im Moment ist nicht absehbar, dass die Regierung Meloni gerade in diesem Bereich zu einem besonderen Problemfall für die EU würde.

Russland-Sanktionen: Uneinigkeit in der Koalition

Schon begründeter ist die Sorge, wie sich Italien hinsichtlich der EU-Sanktionen gegen Russland verhalten wird. Die italienische Wirtschaft ist energiepolitisch ähnlich abhängig von Russland wie die deutsche, und italienische Medien zeigten sich während der letzten Monate sehr anfällig für russische Desinformationskampagnen. Zudem stehen sowohl Berlusconi als auch Salvini der Putin-Regierung traditionell nahe, was Berlusconi in den letzten Wahlkampftagen durch öffentliche Verharmlosungen der russischen Aggression noch einmal eindrucksvoll unterstrich. Und auch Salvini schlingerte im Wahlkampf in Sachen Sanktionen auffällig hin und her.

Auf der anderen Seite legt Giorgia Meloni jedoch großen Wert darauf, sich im russisch-ukrainischen Krieg als Teil des Westens zu präsentieren – durchaus auf einer Linie mit ihren polnischen EKR-Partnerpartei PiS. Die Russland-Frage könnte damit zu einem ersten internen Stresstest der italienischen Rechtskoalition werden.

Angesichts der hohen internationalen Aufmerksamkeit scheint es unwahrscheinlich, dass die neue Regierung hier einen Politikwechsel vollzieht, der die Kritik der westlichen Verbündeten offen herausfordern würde. Durchaus möglich ist allerdings, dass sie bei künftigen Entscheidungen über EU-Sanktionen eher die Füße schleifen lassen wird, als die Draghi-Regierung es tat – und damit indirekt dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán (Fidesz/–) in seinem Kampf für ein Ende der Sanktionen den Rücken stärkt.

Rechtsstaatlichkeit: Angriffe auf das Justizsystem

Zum Problem dürfte die italienische Rechtsregierung auch in der europäischen Rechtsstaats- und Rechtsgemeinschaftskrise werden – also dem Doppelkonflikt zwischen der EU und einigen Mitgliedstaaten, speziell Ungarn und Polen, um die Unabhängigkeit der nationalen Justiz einerseits und den Vorrang des Europarechts andererseits.

In Italien befindet sich das nationale Justizsystem schon seit Jahren immer wieder im Blickpunkt der politischen Debatte, wobei vor allem überlange und ineffiziente Verfahren in der Kritik stehen. Erst in diesem Sommer brachte die Draghi-Regierung deshalb eine Justizreform auf den Weg. Gleichzeitig ist die italienische Justiz aber auch für ihre starke politische Unabhängigkeit bekannt: In den 1990er Jahren legten Staatsanwält:innen und Richter:innen in den Mani-pulite-Verfahren Korruption in allen großen Parteien offen, in den 2000ern verfolgten sie zahlreiche kleinere und größere Rechtsverstöße des damaligen Regierungschefs Berlusconi.

Ein neuer Verbündeter für Polen und Ungarn?

Angriffe auf das angeblich linke Justizsystem (die sogenannten „toghe rosse“) gehören deshalb zur traditionellen Rhetorik der italienischen Rechten. Sollte die neue Regierung die Justiz als Hindernis für ein „Durchregieren“ wahrnehmen, besteht die ernsthafte Gefahr, dass es hier dem ungarisch-polnischen Vorbild folgt. Zwar hat das Rechtsbündnis bei der Wahl eine Zweidrittelmehrheit verpasst, die ihr Verfassungsänderungen auch ohne Volksabstimmung ermöglicht hätte. Aber eine Justiz- und Verwaltungsreform steht jedenfalls im Wahlprogramm der Koalition.

Und auch schon kurzfristig könnte der italienische Regierungswechsel dazu führen, dass die Regierungen von Polen und Ungarn im Rechtsstaatsstreit Italien als neuen Verbündeten gewinnen. Dass der Rat sich entschlossen für die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten einsetzt, wird damit noch ein wenig unwahrscheinlicher.

Nationale Souveränität statt europäischer Rechtsgemeinschaft

Und auch die Forderung nach einem Vorrang des nationalen gegenüber dem europäischen Recht gehört schon seit längerem zu den Standardforderungen der italienischen Rechten. Meloni selbst brachte schon 2018 im italienischen Parlament einen Gesetzesantrag ein, um die Klausel in der italienischen Verfassung zu streichen, nach der die nationalen Institutionen nur im Rahmen der „aus der gemeinschaftlichen Rechtsordnung und aus den internationalen Verpflichtungen erwachsenden Einschränkungen“ Gesetze erlassen können. Stattdessen sollten die EU-Verträge „nur insofern anwendbar sein, als sie mit den Prinzipien der Souveränität […] vereinbar sind“.

In diesem Wahlkampf griff Meloni diese Idee, dass der Vorrang des Europarechts die nationale Souveränität begrenze, erneut wiederholt auf. Und auch die Lega hatte sich bereits 2018 in ihrem Koalitionsvertrag mit dem M5S für einen Vorrang des nationalen Rechts ausgesprochen.

Im Extremfall könnte Italien in Sachen Rechtsstaatlichkeit also tatsächlich zu einem zweiten Polen werden. Sehr schnell wird es nicht dazu kommen, gerade weil die italienische Verfassung recht explizite Bindungen an das Europarecht enthält und von der neuen Regierung ohne eine Zweidrittelmehrheit im Parlament allenfalls per Referendum geändert werden könnte. Doch in welche Richtung Meloni in dieser Frage strebt, ist klar – und da Angriffe auf den Rechtsstaat und die europäische Rechtsgemeinschaft ohnehin meist schleichend erfolgen, ist es wichtig, dass die EU hier von Beginn an aufmerksam ist.

Institutionelle Reformen: Mehr Intergouvernementalismus

Und noch in einem weiteren Bereich wird sich der italienische Regierungswechsel wohl nicht mit einem großen Knall bemerkbar machen, aber umso bitterer zu spüren sein: In der Diskussion um institutionelle Reformen zur Demokratisierung der EU war Italien über viele Jahrzehnte hinweg ein zentraler Akteur.

Kaum ein Land hat eine so starke europaföderalistische Bewegung, kaum ein Land eine (wenigstens bis zur Eurokrise) so europafreundliche Öffentlichkeit. Entsprechend nahm Italien beim Einsatz für ein stärkeres Europäisches Parlament, für gesamteuropäische Europawahllisten, für eine Abschaffung von nationalen Vetorechten oder für einen größeren EU-Haushalt aus neuen Eigenmitteln immer eine Führungsrolle ein. Erst Anfang Mai sprach Mario Draghi davon, dass die EU einen „pragmatischen Föderalismus“ benötige, und forderte die Einsetzung eines Konvents zur Vertragsreform.

Von einer Regierung Meloni wird man derartige Forderungen nicht zu hören bekommen. Im Wahlprogramm verspricht die Rechtskoalition zwar ein „vollständiges Eintreten für den europäischen Integrationsprozess, mit der Aussicht auf eine politischere und weniger bürokratische EU“. Aber das dürfte vor allem als ein Code für mehr Intergouvernementalismus und eine schwächere Kommission zu verstehen sein.

Eine proeuropäische Stimme im Rat verstummt

Erst im Mai bezeichnete Meloni die Konferenz zur Zukunft Europas als „Farce“, da diese föderalistischen Ideen gefolgt sei, statt die „Basis für ein Europa zu legen, das die nationalen Identitäten mehr respektiert“. Statt sich für eine stärkere, demokratischere EU einzusetzen, dürfte die italienische Regierung wohl einem Prima-gli-italiani-Ansatz folgen und vermehrt auf die eigenen Vetorechte pochen, um das Maximum für sich selbst herauszuholen.

Kurzfristig wird die Rechtsregierung unter Giorgia Meloni für die EU wohl keinen Schock bringen. Sie wird mit sich arbeiten lassen, in konkreten Policy-Fragen wie der Migrationspolitik ihre weit rechten Positionen zu „normalisieren“ versuchen und allzu offene Konflikte vermeiden. Mittel- und langfristig aber wird dieser Regierungswechsel für den Fortschritt zur europäischen Integration zur großen Bürde werden – denn mit ihm verstummt eine der wichtigsten proeuropäischen Stimmen, die sich bis jetzt im Rat für eine demokratischere und solidarischere EU eingesetzt hat.


Was bedeutet die italienische Wahl für Europa?

  1. Die neue Regierung
  2. Die Folgen für die Europapolitik

Am Mittwoch, 28.9.2022, 18.00-19.30 Uhr, organisiert die Europa-Union Deutschland einen Online-Bürgerdialog zum Thema „Parlamentswahl in Italien – Rechtsruck als Vorbote für die Europawahl 2024?“.

Podiumsgäste sind die italienischen Senatorinnen Laura Garavini (IV/EDP) und Julia Unterberger (SVP/EVP) sowie der deutsche Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer (SPD/SPE). Ich selbst werde moderieren.

Alle Informationen und Anmeldung hier.


Bild: Wahlplakat Giorgia Meloni: Manuel Müller.

26 September 2022

Was bedeutet die italienische Wahl für Europa? (1): Die neue Regierung

Giorgia Meloni 2022 bei der CPAC 2022
Rückkehr des Faschismus oder alles halb so schlimm? Giorgia Meloni (FdI/EKR) wird wohl nächste italienische Premierministerin.

Die Ergebnisse der gestrigen Wahlen in Italien senden ihre Schockwellen durch Europa. Noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt, aber schon jetzt ist klar, dass das Rechtsbündnis aus Fratelli d’Italia (FdI/EKR), Lega (ID) und Forza Italia (FI/EVP) einen hohen Sieg eingefahren hat und die nächste Regierung wird bilden können. Zwar verdankt die Koalition der drei Parteien ihren hohen Sieg im Wesentlichen dem stark verzerrenden Wahlsystem: Seit 2017 wird in Italien ein großer Anteil der Sitze per Mehrheitsverfahren in Ein-Personen-Kreisen vergeben, sodass sich das geeint auftretende Rechtsbündnis fast überall gegen die meist einzeln antretenden Mitte- und Mitte-links-Parteien durchsetzen konnte. Zudem war die Wahlbeteiligung so niedrig wie noch nie in Italien: Die neue Regierung könnte nach absoluten Wählerstimmen eine der schwächsten sein, die das Land je hatte.

Wahlsieger Fratelli d’Italia

Doch was am Ende zählt, sind die Sitze in den beiden Kammern des italienischen Parlaments, und da zeichnet sich sowohl im Senat als auch im Abgeordnetenhaus eine deutliche Mehrheit ab. Mit Abstand der größte Gewinner sind dabei die FdI, die ihr Wahlergebnis von rund 4,4 % auf 26,0 % verbessern können und deren Chefin Giorgia Meloni voraussichtlich neue Premierministerin wird.

Im Zuge zahlreicher Umgründungen aus der postfaschistischen Partei MSI entstanden, sind die FdI heute eine moderne, europäisch vernetzte Rechtsaußenpartei, die zwar auch Mussolini-Nostalgiker:innen bedient, politisch aber mehr mit Viktor Orbán, Marine Le Pen oder Jarosław Kaczyński gemeinsam hat. Meloni selbst ist Vorsitzende der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), der unter anderem auch die polnische Regierungspartei PiS und die tschechische Regierungspartei ODS angehören.

Breites Spektrum an Einschätzungen

Aber was bedeutet das italienische Wahlergebnis für Europa in den kommenden Jahren? Liest man internationale Kommentare zur Wahl, so findet man ein sehr breites Spektrum an Einschätzungen: Auf der einen Seite finden sich Warnungen vor einer „Rückkehr der Postfaschisten“; auf der anderen Seite wird vor unnötiger „Panik“ gewarnt. Womit ist jetzt also zu rechnen?

Klar ist, dass die Agenda des neuen italienischen Regierung weit rechts außen angesiedelt sein wird. Das gemeinsame Wahlprogramm des Rechtsbündnisses war zwar betont sachlich gefasst, aber bietet deutliche Hinweise, wenn etwa von der „Verteidigung der jüdisch-christlichen Wurzeln Europas“ die Rede ist oder Einwanderung ausschließlich als ein Problem für die innere Sicherheit behandelt wird. Zudem sind alle drei Parteien (vor allem FI und FdI) intern stark autoritär strukturiert und würden gern auch den italienischen Staat per Verfassungsänderung von einem parlamentarischen in ein präsidentielles Regierungssystem umwandeln.

Checks and balances

Klar ist aber auch, dass sich die drei Parteien untereinander in vielen Fragen auch nicht einig sind, dass sie zum Teil um die gleiche Wählerschaft konkurrieren und sich über bestimmte Fragen leicht zerstreiten könnten – etwa über die politische Dezentralisierung und das Verhältnis zwischen dem reichen Norden (mit dem sich die Lega früher einmal von Italien abspalten wollte) und dem ärmeren Süden des Landes (in dem die FdI traditionell die meisten Stimmen gewinnen).

Zudem hat das italienische politische System starke checks and balances, etwa durch die relativ starke Position des Staatspräsidenten Sergio Mattarella (PD/SPE) bei der Ernennung der Regierung und durch eine unabhängige und selbstbewusste Justiz. Auch der Verwaltungsapparat (der bei den typischerweise sehr schnell wechselnden italienischen Regierungen natürlich eine wichtige Rolle für die Kontinuität der Regierungsführung spielt) ist demokratisch und proeuropäisch geprägt.

Allgemein ist Italien bekannt dafür, dass politische Reformen oft sehr lang brauchen und an vielen institutionellen Fallstricken hängen bleiben. Auch die neue Regierung dürfte deshalb kaum einfach „durchregieren“ können. Dass die italienische Demokratie schon die Regierungen unter Silvio Berlusconi überstanden hat, an denen ebenfalls FI, Lega und FdI bzw. deren Vorgängerparteien beteiligt waren, kann ein weiterer Grund für Optimismus sein.

Meloni hat ein stärkeres politisches Mandat als ihre Vorgänger

Zu viel Vertrauen sollte man in diese inhärente Langsamkeit des italienischen politischen Systems allerdings auch nicht legen, denn die neue Rechtskoalition startet in mancher Hinsicht unter anderen Voraussetzungen als ihre Vorgängerinnen. Seit über zehn Jahren wurde das Land immer von Technokratenkabinetten, breiten „nationalen Einheitsregierungen“ oder nur widerwillig geformten Koalitionen aus ideologisch sehr ungleichen Parteien geführt. Seit der Abwahl von Silvio Berlusconi Ende 2011 gab es sechs verschiedene nationale Regierungschefs – aber kein einziger von ihnen war zuvor bei einer nationalen Parlamentswahl als Spitzenkandidat angetreten.

Giorgia Meloni hingegen hat mit ihrer politisch relativ kompakten Koalition und ihrem deutlichen Wahlsieg ein klareres politisches Mandat als ihre Vorgänger. Die Tatsache, dass die Wähler:innen vor der Wahl wussten, was sie von Meloni und ihrer Koalition zu erwarten haben, wird es für Akteure wie Staatspräsident Mattarella schwerer machen, sich ihr entgegenzustellen. Und zugleich sind mit dem deutlichen Wahlsieg natürlich auch Erwartungen der rechten Wählerschaft und Parteibasis verbunden: Das Rechtsbündnis wird, wenigstens symbolisch, „liefern“ müssen, was die drei Parteien (nach außen und innen) zusammenschweißen kann.

Wie lange hält die Einheit der Rechtsparteien?

Wie lange die in den letzten Monaten demonstrierte Einheit der drei Rechtsparteien halten wird, dürfte dennoch zur Schlüsselfrage der Koalition werden. Dabei werden vor allem innerparteiliche Dynamiken eine wichtige Rolle spielen: Sowohl die Lega als auch FI haben deutlich schlechter abgeschnitten als bei der letzten Wahl 2018. Vor allem Lega-Chef Matteo Salvini könnte deshalb bei seinen eigenen Parteifreund:innen unter Druck geraten.

FI-Chef Silvio Berlusconi wiederum wird in dieser Woche 86 Jahre alt, und wie lange wird er sich gesundheitlich noch auf den Beinen halten kann, ist mehr als fraglich. Seine Nachfolge in der Partei könnte Antonio Tajani antreten, der derzeit noch Vorsitzender des Verfassungsausschusses im Europäischen Parlament ist und als möglicher neuer Verteidigungsminister gehandelt wird. Aber wird Tajani die Partei zusammenhalten können, die schon vor der Wahl viele ihrer prominentesten Mitglieder verloren hat?

Eine weitere Rolle spielt natürlich auch der genaue Wahlausgang: Während dieser Text verfasst wird, ist noch unklar, ob FdI und Lega gegebenenfalls auch ohne FI eine Mehrheit hätten – oder ob wenigstens theoretisch auch eine Regenbogen-Koalition aus PD (SPE), M5S (–), Az/IV (–/EDP), FI (EVP) und weiteren Kleinparteien denkbar wäre. All dies wird die Dynamiken innerhalb der Rechtskoalition beeinflussen  und könnte letztlich auch zu ihrem Sturz führen.

Und was bedeutet das alles für die italienische Europapolitik und die EU? Dazu demnächst mehr!


Was bedeutet die italienische Wahl für Europa?

  1. Die neue Regierung
  2. Die Folgen für die Europapolitik

Am Mittwoch, 28.9.2022, 18.00-19.30 Uhr, organisiert die Europa-Union Deutschland einen Online-Bürgerdialog zum Thema „Parlamentswahl in Italien – Rechtsruck als Vorbote für die Europawahl 2024?“.

Podiumsgäste sind die italienischen Senatorinnen Laura Garavini (IV/EDP) und Julia Unterberger (SVP/EVP) sowie der deutsche Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer (SPD/SPE). Ich selbst werde moderieren.

Alle Informationen und Anmeldung hier.


Bild: Vox España [CC0], via Wikimedia Commons.

In eigener Sache: Wissenschaftliche Mitarbeiter:in (m/w/d) gesucht

Notizblock und Kugelschreiber

Das Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen (Lehrstuhl für europäische Integration und Europapolitik) sucht ab dem 1. März 2023 ein:e wissenschaftliche Mitarbeiter:in (m/w/d) für das neue Horizon-Europe-Projekt ActEU.

Inhaltlich geht es unter anderem um politisches Vertrauen, Bürgerpartizipation und Legitimität.

Bewerbungsfrist für die Ausschreibung ist der 11. Oktober 2022.

Interessiert? Hier gibt es alle Informationen!

Bild: Universität Duisburg-Essen.

23 September 2022

EU to go: Money Money Money – neue Fiskalregeln für Europa

In der Podcastserie „EU to go – Der Podcast für Europapolitik“ präsentiert das Jacques Delors Centre kompakte Hintergründe zur aktuellen Europapolitik. Einmal im Monat analysiert Moderatorin Thu Nguyen zusammen mit Gästen ein aktuelles Thema. In 20 bis 30 Minuten erklären die Policy Fellows und Forscher:innen Zusammenhänge und stellen Lösungsansätze vor.

„EU to go – Der Podcast für Europapolitik“ wird hier im Rahmen einer Kooperation mit dem Jacques Delors Centre zweitveröffentlicht. Er ist auch auf der Homepage des Jacques Delors Centre selbst sowie auf allen bekannten Podcast-Kanälen zu finden.

„Drei Zahlen und zwei Arme“ – so beschreibt Nils Redeker die Grundpfeiler der europäischen Fiskalregeln. Diese legen fest, wie viele Schulden die EU-Mitgliedsstaaten machen dürfen. Wegen der Pandemie und der wirtschaftlichen Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine sind sie bis 2024 ausgesetzt. Doch schon im Oktober möchte die EU-Kommission einen Vorschlag präsentieren, wie es danach mit der europäischen Fiskalpolitik weitergehen soll.

Thu Nguyen diskutiert mit Philippa Sigl-Glöckner, Direktorin des Think Tanks Dezernat Zukunft, und Nils Redeker, Vizedirektor des Jacques Delors Centre, über die Reform der EU-Fiskalregeln. Warum sind die derzeitigen Regeln nicht mehr zeitgemäß und woher kommen sie eigentlich? Welche Reformvorschläge gibt es und was bedeuten sie politisch? Wie positioniert sich die deutsche Bundesregierung in dieser Frage? Beide Gäste sind sich einig: So weitermachen wie bisher ist keine Option.

15 September 2022

SOTEU 2022: Ursula von der Leyen’s third State of the European Union address

Ursula von der Leyen during the State of the European Union address 2022
Blue and yellow: Ursula von der Leyen’s State of the European Union address was strongly marked by the Russian attack on Ukraine.

Over the past twelve years, the State of the European Union address – known as SOTEU – which the Commission President delivers to the European Parliament every September, has become an well-established institution. But as Ursula von der Leyen (CDU/EPP) pointed out right at the beginning of yesterday’s speech, this time there was also a novelty: it was the first SOTEU to be held while a war was being waged on European soil. Before the speech, von der Leyen and the Parliament’s president, Roberta Metsola (PN/EPP), had their picture taken in the plenary hall with Olena Zelenska, the wife of Ukrainian President Volodymyr Zelenskyj (SN/ALDE). Von der Leyen’s blue-and-yellow dress – the colours of both the EU and Ukraine – could be understood as a further symbol of solidarity. Later on, the Russian attack on Ukraine and the European reaction to it were the main leitmotif of the speech.

But the war was of course not the only topic von der Leyen addressed in the speech. The energy crisis and the rising cost of living, climate and migration policy, the reform of the Stability Pact, the defence of democracy and the rule of law in the EU and worldwide, the results of the Conference on the Future of Europe, the enlargement and deepening of the EU and numerous other points were on the agenda as well. Overall, von der Leyen appeared combative and confident, at times almost triumphalist, when talking about the achievements of the past months and years. But the Commission President did not have equally convincing answers to all questions.

This article is a collection of short analyses on some key issues of the SOTEU, written by experts from several universities and think tanks. You can find more information from the Commission on the speech here, the original (multilingual) text here, and an English version here.

Russia and Ukraine: “This is about autocracy against democracy”

Europe is at a crossroads, that much was made clear in Commission President Ursula von der Leyen’s speech. For the first time, the annual debate took place under the conditions of war in Europe. Russia’s brutal attack is not only directed against Ukraine, but against “our energy, our economy, our values and our future,” von der Leyen stressed – a war between autocracy and democracy.

In very clear words, the President of the Commission formulated the need to stay the course on sanctions: “This is the time for us to show resolve, not appeasement.” Europe will stand with Ukraine and support it in the long term, both in the current defensive struggle against the Russian attack and afterwards, when the country will be rebuilt. The blame for Russia’s economic and industrial decline lies solely with the Kremlin, which must now pay the price.

Another lesson from the current energy crisis, according to von der Leyen, is that Europe should have listened more to those who knew Putin well – including, in particular, the Central and Eastern European member states and the Baltic countries, which had consistently warned of the risks of energy dependence on Russia and had themselves acted accordingly. Acknowledging this clearly in the speech is important because these very risks have now materialised and present enormous challenges to all of Europe.

Minna Ålander
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Energy policy: A new cross-cutting issue

“A war on our energy, our economy, our values and our future”: In Ursula von der Leyen’s speech, energy policy issues were deeply embedded in the discourse on solidarity and the internal strength of “Team Europe” in the context of the Russian attack on Ukraine. Thus, questions of energy consumption, joint energy storage and energy dependencies were dealt with as cross-cutting issues also with regard to foreign and security policy, economic policy and, of course, climate policy.

As the Commission President said, the EU is following the example of the Baltic states in working to avoid energy dependencies. By now, the share of Russian gas supplies has already fallen by 31 percentage points, from 40 % to 9 % of gas imports. For the future, new, reliable partnerships in energy supply are urgently needed – she explicitly named the USA, Algeria and Norway as suppliers. With the latter, a task force for the regulation of gas prices has already been implemented.

Ursula von der Leyen combined concrete proposals for emergency measures to help the member states reduce their electricity consumption – such as a “crisis contribution” in form of an excess profit tax on energy companies – with appeals to the solidarity of European citizens on an individual level. For example, she mentioned workers in Italian factories who had moved their shifts to the morning when electricity was cheaper. As a measure to overcome the crisis in the short to medium term, von der Leyen also announced a temporary change in European state aid regulations to allow state guarantees for energy companies in liquidity squeezes.

In the long term, she sees Europe facing even more far-reaching energy market reforms in order to decouple electricity and gas prices and overcome the dependency on fossil fuels. In addition to solar, wind and water, the Commission Presidents emphasised the green hydrogen production programme REPowerEU, the establishment of a European Hydrogen Bank and the investment of 3 billion euros in the development of a hydrogen market.

Kristina Weissenbach
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Climate policy: Hardly talking of the man on the moon any more

When Ursula von der Leyen took office, the European Green Deal was considered the Commission’s top political priority. In 2019, von der Leyen called it a “man-on-the-moon moment” for Europe. This year’s SOTEU, however, shows that political priorities are shifting and the implementation of transformation is complex. In times of soaring energy prices and serious concerns about supply security in the upcoming winter, it is not surprising that the goal of becoming the “first climate-neutral continent” by 2050 is not at the top of the political agenda. While the term “climate” was mentioned 16 times in the SOTEU 2021, the passages on the issue were much shorter this time (6 mentions).

The Commission President emphasised the expansion of renewable energies within the framework of the REPowerEU programme, which was set up to promote independence from Russian fossil resources. However, little or nothing was heard about concrete legislative projects in the field of climate policy. There was no mention of the ongoing reform of all key climate policy acts as part of the Fit for 55 package. Also the upcoming international negotiations at COP27 in Sharm el-Sheikh only came up in passing – in marked contrast to last year.

Von der Leyen did announce new initiative for hydrogen: The Commission wants to create a “Hydrogen Bank”, to be set up from Innovation Fund resources (3 billion euros) with the aim of accelerating the creation of a hydrogen market. With a view to the consequences of climate change, von der Leyen announced that the EU would double its fire-fighting capacities. Beyond that, the focus of the speech was, as expected, on energy policy. Many of the announcements in this area are of great importance for EU climate policy, too. However, in view of the energy crisis and related substantial conflicts between the member states, these climate implications did not receive much attention.

The speech did not give any clues as to whether the implementation gap with regard to the goals of the EU climate law will get bigger or smaller. What is clear, however, is that the conclusion of the Fit for 55 package will be the Commission’s next big climate policy test. It will reveal whether climate policy has only been sidelined from the big speeches or whether ambitious climate action will also have a harder time in legislation.

Felix Schenuit
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Competitiveness: Less bureaucracy, more skilled workers and raw materials

Next to climate change, Ursula von der Leyen also identified digitalisation as one of the major challenges of the century in her speech. However, she did not specifically address either digitalisation or European digital policy. Instead, she embedded the issue in a broader economic policy context: “The strength of our social market economy will drive the green and digital transition.”

To secure our “future competitiveness”, von der Leyen emphasised three points in particular: First, she promised relief for small and medium-sized enterprises, which is to result in particular from simplifying bureaucracy through the standardisation of tax regulations. To this end, the Commission intends to present its long-announced corporate tax framework BEFIT in 2023.

Secondly, the Commission President presented the shortage of skilled workers as a central challenge for the European economy. While on the one hand she praised the EU’s low unemployment rate, she also addressed what she saw as the need for immigration of foreign skilled workers and their more efficient integration into the European labour market.

Thirdly, von der Leyen emphasized the growing importance of raw materials, especially lithium and rare earths. According to her, the EU must not become dependent on individual third countries for either the supply or the processing of these materials. Taking example from the European Chips Act, she announced a new law to secure critical raw materials. In the long term, she intends to create a so-called European Sovereignty Fund to cover the financing of such projects.

Anne Goldmann
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NextGenerationEU and new fiscal rules: “Invest sustainably”

From the deepest recession to the fastest economic upswing of the post-war period: looking back at the past few years, von der Leyen was extremely satisfied with the economic development. During the Covid-19 pandemic, the EU stood together, developed the short-time work scheme SURE in “record time” and united behind the recovery instrument NextGenerationEU. This instrument, conceived two years ago, is still “exactly what Europe needs today”.

However, von der Leyen did not comment on the already ongoing debates on whether a new edition of NextGenerationEU is necessary. Instead, she emphasised that most of the money from the instrument had not been spent yet. Therefore, NextGenerationEU would continue to bring “relief for our economy” and ensure ecological “renewal” also during the coming years.

For the digital and green transformation to succeed, however, it is not only the EU that must invest, but also the member states – which brought von der Leyen to the reform of the Stability and Growth Pact and the EU’s economic governance. In October, the Commission will present new proposals on this, of which von der Leyen for the time being only revealed some slightly cryptic “basic principles”: The Commission wants to give member states more flexibility to invest, but at the same time increase accountability for the implementation of agreed targets.

In practice, this could mean that member states will be allowed to more easily incur debt, but only in order to finance investments that the EU also considers sensible. If this were to happen, it would probably not be the worst outcome.

Manuel Müller
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Migration and asylum policy: Many unresolved contradictions

During her speech, Ursula von der Leyen rightly pointed out that she witnessed “Europe at its best” when EU countries showed unprecedented solidarity to people fleeing from Ukraine. However, she was equally justified to highlight that this kind of solidarity is missing in the EU’s overall migration and asylum policy.

Despite the political agreement reached by the member states in June 2022 to start a voluntary solidarity mechanism, challenges continue to lie ahead when it comes to its implementation. Ursula von der Leyen emphasised that the solidarity shown towards refugees coming from Ukraine should not be an exception and that the EU needs a “legally binding mechanism of solidarity”. This seems to be, however, in opposition with the voluntary mechanism proposed by the European Commission in its Pact on Migration and Asylum of 2020. But von der Leyen generally remained rather brief on the topic of migration and did not offer many answers to any open questions.

Instead, during the final part of her address, von der Leyen presented to the audience two Polish women, Magdalena and Agnieszka, who had helped Ukrainian refugees at the border. The applause that the two dedicated and solidary activists received from the European Parliament – at a time in which the Polish government consciously violates asylum rights at the border to Belarus – exemplifies the many contradictions in this policy area. There are many problems to which the EU yet has to find solutions.

Vittoria Meißner
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Rule of law: The most interesting was left unsaid

Right at the beginning of her speech, von der Leyen made clear that the war in Ukraine is a war between an autocratic and a democratic model. Russia did not only attack Ukraine, but also “our values”. Despite this clear message, the speech remained rather weak when it came to the rule of law. Only towards the end of the speech, the Commission President shortly explained that “it is my Commission’s duty and most noble role to protect the rule of law.”

However, the EU Commission has missed to fulfil this duty in recent years – critical voices would even call it a failure. At the time of the speech, Hungary is no longer a democracy. In Poland, there is no independent judiciary, minorities are openly discriminated, and women’s rights have been massively curtailed. Not to mention the abysmal state of the freedom of the press in Greece, dubious emergency powers in Romania and golden visa schemes in Portugal and Malta. None of this was mentioned by von der Leyen.

In other respects, too, what the speech did not say about the rule of law was often more exciting than what it said. Hungary and Poland were not named, probably to not give the governments a chance to portray themselves as the victims of Brussels technocrats being “anti-Polish” or “anti-Hungarian”. However, her mention of the independence of the judiciary and the conditionality mechanism were clearly directed at them. Interestingly, von der Leyen did not expand on issues like civil society and freedom of the media, which still had played an important role in the SOTEU 2021.

Instead, von der Leyen chose to focus on corruption, with the announcement of a new legislative package. This choice of a topic that affects Hungary more than Poland says a lot about the Commission’s strategy: Since the Russian invasion of Ukraine, Poland has shown unwavering solidarity and acted as an important partner against Putin, whereas Hungary under Viktor Orbán has taken a pro-Russian line and often stands in the way of a united EU response.

The fact that the Commission is now focusing primarily on Hungary can be criticised. EU member states must uphold fundamental values regardless of their positioning towards Ukraine – any double standards in this regard would endanger the EU’s credibility. At the same time, it is a politically smart approach: Whereas Poland and Hungary had closely coordinated in order to block EU policy before the war, now the rift between the two countries is growing. Even if von der Leyen doesn’t talk about it.

Sophie Pornschlegel
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Citizens participation: “We now need to deliver!”

“[A]fter Europe listened to its citizens’ voice, we now need to deliver,” von der Leyen summarized the situation after the Conference on the Future of Europe. In the Letter of Intent, which she sent to the President of the European Parliament and the Presidency of the Council on the occasion of the SOTEU, she announced that the Commission’s work programme for 2023 would “be also largely inspired by the outcome of the Conference on the Future of Europe”. In this regard, the Letter of Intent lists 29 specific initiatives, 13 of which are identified as going back to the Conference. In her speech, however, von der Leyen only singled out one of them, a mental health initiative.

Just as von der Leyen’s speech only referred to the Conference recommendations by way of example, also the written report that the Commission published before the address did not highlight which of its “achievements” implemented Conference demands – even though a corresponding overview has been available since June 2022. Thus, the SOTEU address was also a missed opportunity to give the citizens an account of the progress made so far.

In any case, von der Leyen made a clear commitment that “citizens’ panels […] will now become a regular feature of our democratic life”. She kept open, however, what this will mean in concrete terms. The Conference on the Future of Europe experiment was an experiment whose value does not lie in the fact that it somehow offered a perfect model of citizens’ participation, but in the lessons that can be learned from it for the future design of citizens’ panels. This requires an informed in-depth debate, and it is to be hoped that the Commission is prepared to conduct it.

Similarly, the SOTEU did not mention the planned development of the website Have your say towards a digital citizens’ participation hub. Nor has the creation of new forms of participatory democracy been included among the Commission’s priorities in the Letter of Intent.

Julian Plottka
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Institutional reforms: European Convention Now!?

Will the European Commission support a European Convention to follow the Conference on the Future of Europe? Yes, it will! The Achievements report still explained cautiously that the Commission was “focusing on making the most of what is currently possible while being open to treaty change where it is necessary”. Now, however, von der Leyen has given up her position as a neutral broker between the European Parliament and the member states, declaring that “the moment has arrived for a European Convention.”

But will the Commission really use its political weight to strengthen the European Parliament in its fight against intergovernmental windmills? There is still a risk that von der Leyen’s committment to a Convention was only intended to score points with MEPs because she is already sure that the Convention will not come – at least not before the next European elections. After all, von der Leyen had also boldly promised the European Parliament a Conference on the Future of Europe in 2019, only to significantly lower her ambitions afterwards. And the fact that the Commission will make proposals to create a “European Political Community” but intends to present them to the European Council rather than the European Parliament is also casting doubt on how much energy the Commission will really invest in enforcing a Convention.

More important than the new commitment to a Convention is therefore probably the nexus between treaty reforms and enlargement. In his otherwise rather unambitious Prague speech, the German chancellor Olaf Scholz already had described this connection as a core problem of European integration. Von der Leyen now explicitly taking up the same argument is indicative of a new tone in the reform debate: Institutional reforms are no longer seen as just a whim of the federalists in the European Parliament, but as an indispensable prerequisite for future enlargements. One will not happen without the other. If this reading prevails, a number of national governments will have to reconsider their positions – unless they want to explain to Ukraine that the promise of accession wasn’t really meant that seriously after all.

That gives hope, but more in the medium than in the short term. But can we expect at least some smaller democratic reforms before the next European elections? At least, the new party statute found its way into the Commission’s Achievements report. Electoral law is also mentioned there, but only in the context of “mobile citizens” who should be enabled to vote in other EU member states more easily. But what about transnational lists? The lead-candidates procedure? Nothing. Neither of these reforms was mentioned in the report or in the speech.

Julian Plottka
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Foreign Policy: “Our friends in the democratic nations”

While democratic reforms were barely mentioned in the context of EU domestic policies, von der Leyen underlined the importance of cooperation with “like-minded partners” in foreign policy – that is, “our friends in every single democratic nation on this globe”. The Commission President stated that the EU should strive to “expand the core of democracies” and deepen relations between democracies in Europe and around the world. In line with the current German foreign minister Annalena Baerbock’s approach, von der Leyen seems to advocate a values-driven EU foreign policy that recognises the threats emanating from autocracies.

The implications of this approach on other fields – especially EU trade and investment policy – remain to be seen. Von der Leyen also did not explain in detail how her democracy-based approach will affect neighborhood and enlargement policy and how important democracy will be in the “European Political Community” initiative proposed by France.

Meanwhile, what is clear is that the Commission wants to arm itself against foreign influence within the EU. After the “European Action Plan for Democracy” initiated in 2020, the Commission now wants to propose a “Defence of Democracy package”. This new initiative is to be welcomed. The dangers of foreign interference within the EU are clearly visible: While Russian propaganda and electoral meddling strategies are already well-known, in her speech von der Leyen also mentioned an example of Chinese disinformation.

However, it remains to be seen to what extent the EU Commission can move forward in this area given that countries like Hungary and Poland unfortunately already seem to have left the group of “like-minded partners”.

Sophie Pornschlegel
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Enlargement: Hardly anything concrete

The EU’s enlargement policy – or, more precisely, the Western Balkans region – has so far been a compulsory part on the agenda of every single SOTEU. However, the Commission Presidents generally limited themselves to briefly underlining the “European perspective” of these candidate countries, without menioning much in the way of concrete action. Now that Ukraine had been granted candidate status in record time, one could assume for a change that Ursula von der Leyen would give this policy field a much higher priority this time.

However, this was only partly the case. Of course, Ukraine was omnipresent simply due to the presence of Olena Zelenska. But it took quite a while before von der Leyen explicitly addressed EU enlargement. Addressing the “people of the Western Balkans, of Ukraine, Moldova and Georgia” (Turkey was not mentioned in this or any other part of the speech), she claimed that they were part of the European family, that their future lied in the Union, and that the Union remained incomplete without them.

But how does the EU intend to shape its enlargement policy in the future? Apparently, it will continue as before, because von der Leyen did not say a word about possible reforms, much less the introduction of majority decisions. Instead, the Commission President took up the French proposal for a European Political Community, on which she promised to submit concrete proposals to the European Council soon. However, she also emphasised that this initiative would rather serve to reach out to other countries beyond the accession candidates. To which countries in particular, she did not say.

What became clear in the speech was the Commission President’s fundamental effort to define enlargement as a commitment to action that is not only directed outwards but also inwards. When calling on the candidate countries to strengthen their democracies, she said, corruption within the EU must also be eliminated. And just as chancellor Olaf Scholz had previously said in his Prague speech, she warned that in order to seriously envisage an enlargement of the Union, it was also necessary to seriously strive for institutional reforms.

Oliver Schwarz
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EU-UK relations: Homage to a “legend”

The global condolences after the death of Elizabeth II were immense, and also Ursula von der Leyen honored her as a constant factor in the past turbulent and eventful 70 years: The Queen was a “legend” who found “the right words for every moment in time.” Whether this is really true seems at least debatable in view of the resurgent discussions about the independence of some Commonwealth states.

Rather, it appeared as if von der Leyen tried to avoid any confrontation with the United Kingdom in her speech in order to minimize the actually existing political tensions. The group of reliable democratic partners has become smaller – and von der Leyen made unequivocally clear that an investment in the power of democracy is needed to establish new partnerships in Europe and the world.

It remains to be seen to which extent the United Kingdom can become such an important partner again with its new prime minister Liz Truss. Her populist statements about refugees and social minorities as well as her disrespectful remarks about Emmanuel Macron leave at least some skepticism. Nevertheless, as a member of the G7, the United Kingdom is part of the alliance of democratic partners that will play a decisive role in the future of the EU and in overcoming the crises that lie ahead. For this purpose, Europe is once again extending its hand to the United Kingdom.

Toralf Stark
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EU-China relations: “Shield ourselves from malign interference”

Solidarity with Ukraine in the face of Russia’s aggression was front and centre in Ursula von der Leyen’s address. Passionately, she spoke about how Europe had come together to stand against Putin’s “war on our values and […] on our future.” While no doubt international relations commentators will conflate von der Leyen’s language on the Ukraine war with China, she was herself careful not to name Russia and China in the same phrase. China nevertheless featured in the SOTEU in two ways, as an economic and as a systemic competitor.

In the economic context, the Commission President noted that China dominates global supply chains for lithium and rare earths. She flagged a new European Critical Raw Materials Act, pursuant to which the EU would identify strategic projects all along the supply chain and invest in strategic reserves. It will be interesting to observe if these measures develop into an ideological shift away from interdependence with China in global value chains, as the US is promoting, or whether they simply reflect sound risk management to diversify and secure supply chains. Von der Leyen committed to new partnerships with countries such as Australia and Chile (although she did not mention that in both countries, the world’s largest producers of lithium, the companies owning and developing the lithium are in part Chinese-owned).

The EU’s “Global Gateway”, which von der Leyen announced at last year’s SOTEU, was not discussed in terms of competition with China (as it has been in popular narratives), but rather in response to the desires of countries “near and far” to work with Europe on climate change and digitalisation. However, the Commission President will convene a meeting with US President Biden and other G7 partners to announce further implementation projects. That sounds like the EU infrastructure projects are indeed being promoted as an alternative to China’s Belt and Road Initiative.

The competition of values was where the language became more pointed towards China. Von der Leyen accused foreign autocrats of funding disinformation in the EU, saying “these lies are toxic for our democracies”. Rather than pointing the finger here at pervasive Russian disinformation, she cited a Chinese-funded research centre at the Vrije Universiteit Amsterdam that had published discredited claims that there was no forced labour in Xinjiang. That appears to be an embarrassment to the university concerned as much as it demonstrates China’s clumsy and ineffective attempts at influence in public debates.

Von der Leyen proposed legislation to shield against “malign influence”. It will be worth monitoring this trend of naming and shaming to ensure it does indeed lead to a strengthening of democracy and freedom of expression and does not lead to a new kind of McCarthyism, as swept the US and Australia in recent years.

David Morris
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David Morris is a Senior Research Fellow at the Centre for Pacific Studies of the Beijing Foreign Studies University and a Research Fellow at the Corvinus University of Budapest.

Manuel Müller is a postdoctoral researcher at the University of Duisburg-Essen and runs the blog “Der (europäische) Föderalist”.

Julian Plottka is a research associate at the Jean Monnet Chair of European Politics at the University of Passau and at the University of Bonn.


Sophie Pornschlegel is a Senior Policy Analyst at the European Policy Centre in Brussels.

Felix Schenuit is a research associate at the German Institute for International and Security Affairs (SWP) in Berlin.

Porträt Oliver Schwarz

Oliver Schwarz is a political scientist at the University of Duisburg-Essen.

Toralf Stark is a political scientist at the University of Duisburg-Essen.

Kristina Weissenbach is substitute professor for Ethics in Political Management and Society at the University of Duisburg-Essen and research coordinator of the NRW School of Governance.

The contributions reflect solely the personal opinion of the respective authors.


Translation of the contributions by Minna Ålander, Anne Goldmann, Julian Plottka, Kristina Weissenbach: Manuel Müller.
Pictures: Ursula von der Leyen during the SOTEU: European Union 2022 – European Parlament [licence], via EP; portraits Minna Ålander, Anne Goldmann, Vittoria Meißner, David Morris, Manuel Müller, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Felix Schenuit, Oliver Schwarz, Toralf Stark, Kristina Weissenbach: private [all rights reserved].

14 September 2022

SOTEU 2022: Ursula von der Leyens dritte Rede zur Lage der Europäischen Union

Ursula von der Leyen während der Rede zur Lage der Europäischen Union 2022
Ursula von der Leyes Rede zur Lage der Europäischen Union stand ganz unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Die Rede zur Lage der Europäischen Union – bekannt als State of the European Union oder kurz SOTEU –, die die Kommissionspräsident:in alljährlich im September vor dem Europäischen Parlament hält, ist seit zwölf Jahren zu einer festen Institution geworden. Doch wie Ursula von der Leyen (CDU/EVP) am heutigen Mittwoch gleich zu Beginn hervorhob, handelte es sich diesmal doch um ein Novum: Es war die erste SOTEU, die während eines Krieges auf europäischem Boden gehalten wurde. Schon vor der Rede hatten sich von der Leyen und die Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (PN/EVP) im Plenarsaal mit Olena Selenska, der Frau des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj (SN/ALDE), fotografieren lassen. Und auch später zogen sich der russische Angriff auf die Ukraine und die europäische Reaktion darauf als Leitmotiv durch die Ansprache.

Doch der Krieg war natürlich nicht das einzige Thema, mit dem sich von der Leyen in der Rede auseinandersetzte. Die Energiekrise und die steigenden Lebenshaltungskosten, die Klima- und die Migrationspolitik, die Reform des Stabilitätspakts, die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU und weltweit, die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas, die Erweiterung und die Vertiefung der EU sowie zahlreiche weitere Punkte standen ebenfalls auf der Agenda. Insgesamt gab sich von der Leyen kämpferisch und zuversichtlich, zuweilen fast triumphalistisch, wenn es um die Leistungen der letzten Monate und Jahre ging. Doch nicht zu allen Fragen hatte die Kommissionspräsidentin gleichermaßen überzeugende Antworten mitgebracht.

Dieser Artikel ist eine Sammlung von Kurzanalysen zu einigen Schlüsselthemen der SOTEU, verfasst von Expert:innen aus unterschiedlichen Universitäten und Forschungsinstituten. Mehr Informationen der Kommission zu der Rede sind hier zu finden, der originale (mehrsprachige) Wortlaut hier, eine deutsche Übersetzung hier.

Russland und Ukraine: „Hier kämpft Autokratie gegen Demokratie“

Europa befindet sich in einer Zäsur, das machte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede deutlich. Zum ersten Mal fand die jährliche Debatte unter den Bedingungen eines Krieges in Europa statt. Der brutale Angriff Russlands ist nicht nur gegen die Ukraine gerichtet, sondern gegen „unsere Energie, unsere Wirtschaft, unsere Werte und unsere Zukunft“, betonte von der Leyen – ein Krieg zwischen Autokratie und Demokratie.

In sehr deutlichen Worten hat die Kommissionspräsidentin die Notwendigkeit formuliert, jetzt mit Sanktionen weiter auf Kurs zu bleiben und nicht locker zu lassen. Europa werde mit der Ukraine stehen und sie langfristig unterstützen, sowohl im akuten Abwehrkampf gegen den russischen Angriff als auch danach, wenn das Land wiederaufgebaut wird. Die Schuld für den wirtschaftlichen und industriellen Untergang Russlands liege allein beim Kreml, der diesen Preis jetzt zahlen müsse.

Eine Lehre aus der aktuellen Energiekrise ist laut von der Leyen zudem, dass Europa mehr auf diejenigen hätte hören müssen, die Putin gut kannten – darunter insbesondere die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten sowie die baltischen Länder, die konsequent vor den Risiken von einer Abhängigkeit von Russland im Energiebereich gewarnt und selbst dementsprechend gehandelt hatten. Dies in aller Deutlichkeit in der Rede anzuerkennen ist wichtig, weil sich nun genau diese Risiken materialisiert haben und ganz Europa vor enorme Herausforderungen stellen.

Minna Ålander
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Energiepolitik: Ein neues Querschnittsthema

„Ein Krieg gegen unsere Energieversorgung, gegen unsere Wirtschaft, gegen unsere Werte und gegen unsere Zukunft“: Energiepolitische Fragen waren in Ursula von der Leyens Rede eingebettet in den Diskurs um die Solidarität und die innere Stärke des „Team Europa“ vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine. Fragen des Energieverbrauchs, der gemeinsamen Energiespeicherung und der Energieabhängigkeiten werden damit zu Querschnittsthemen für die Außen- und Sicherheitspolitik, die Wirtschaftspolitik und ohnehin die Klimapolitik.

Nach dem Vorbild der baltischen Staaten, so die Kommissionspräsidentin, arbeite die EU daran, Energieabhängigkeiten zu vermeiden. Schon jetzt sei der Anteil an russischen Gaslieferungen um 31 Prozentpunkte gesunken, von 40 % auf 9 % der Gasimporte. Für die Zukunft seien neue, verlässliche Partnerschaften in der Energieversorgung dringend nötig – als konkrete Lieferanten nannte sie die USA, Algerien und Norwegen. Mit Letzterem sei bereits eine Taskforce zur Regulierung von Gaspreisen implementiert.

Konkrete Vorschläge für Notmaßnahmen, mit denen die Mitgliedstaaten ihren Stromverbrauch senken können – wie „Krisenabgaben“ von Öl-, Gas- und Kohleunternehmen oder eine Übergewinn-Besteuerung von Energieunternehmen –, verband Ursula von der Leyen mit Appellen an die Solidarität der europäischen Bürger:innen auf individueller Eben. So hätten die Beschäftigten italienischer Fabriken ihre Arbeitsschichten in den Morgen verlegt, da dann der Strom preisgünstiger sei. Als Maßnahme zur kurz- bis mittelfristigen Krisenbewältigung kündigte von der Leyen zudem eine befristete Änderung der europäischen Beihilferegelungen an, um staatliche Garantien für Energieunternehmen in Liquiditätsengpässen zu ermöglichen.

Langfristig steht für sie Europa vor noch weitergehenden Reformen des Energiemarktes: die Entkoppelung von Strom- und Gaspreisen und die Überwindung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Neben Solar, Wind und Wasser betonte die Kommissionspräsidenten dabei das Programm zur grünen Wasserstoffproduktion REPowerEU, die Gründung einer Europäischen Wasserstoffbank und die Investition von 3 Mrd. Euro in den Aufbau eines Wasserstoff-Markts.

Kristina Weissenbach
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Klimapolitik: Vom Mann auf dem Mond ist kaum noch die Rede

Der Europäische Green Deal galt zum Amtsantritt der Kommission unter Ursula von der Leyen als ihre oberste politische Priorität. 2019 beschrieb von der Leyen ihn als „man on the moon moment“ für Europa. Ihre diesjährige Rede zeigt allerdings: Politische Prioritäten verschieben sich und die Umsetzung der Transformation ist komplex. In Zeiten der ernsthaften Sorgen um Versorgungssicherheit im bevorstehenden Winter und horrenden Energiepreisen überrascht es nicht, dass das Ziel, bis 2050 der „erste klimaneutrale Kontinent“ zu werden, nicht ganz oben auf der politischen Agenda steht. Während in der SOTEU 2021 der Begriff „Klima“ noch 16 Mal genannt wurde, fielen die Passagen dazu diesmal deutlich kürzer aus (6 Nennungen).

Zwar betonte die Kommissionspräsidentin den Ausbau der Erneuerbaren Energien im Rahmen des REPowerEU-Programms, das zur Förderung der Unabhängigkeit von russischen fossilen Ressourcen aufgesetzt wurde. Zu konkreten Gesetzgebungsvorhaben im Bereich der Klimapolitik war jedoch wenig bis nichts zu vernehmen. Die derzeit laufende Reform aller zentralen klimapolitischen Rechtsakte im Rahmen des Fit-for-55-Pakets fand keine Erwähnung; die internationalen Verhandlungen im Rahmen der COP27 in Sharm el-Sheikh wurde – im deutlichen Kontrast zu letztem Jahr – nur am Rande erwähnt.

Eine neue Initiative kündigte von der Leyen für Wasserstoff an: Die Kommission will eine „Wasserstoff-Bank“ schaffen, die aus Mitteln des Innovation Funds eingerichtet wird (3 Mrd. Euro) und die Schaffung eines Markts für Wasserstoff beschleunigen soll. Mit Blick auf die Folgen des Klimawandels will von der Leyen zudem die EU-Kapazitäten zur Brandbekämpfung verdoppeln. Darüber hinaus lag der Fokus der Rede wie zu erwarten auf der Energiepolitik. Viele der Ankündigungen in diesem Bereich sind auch für die EU-Klimapolitik von großer Bedeutung. Angesichts der Energiekrise und der damit verbundenen substanziellen Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten fanden diese klimapolitischen Implikationen jedoch keine große Beachtung.

Ob die Umsetzungslücke mit Blick auf die Ziele des EU-Klimagesetzes größer oder kleiner wird, lässt sich aus der Rede nicht herauslesen. Klar ist: Der Abschluss der Fit-for-55-Pakets wird zur nächsten klimapolitischen Bewährungsprobe der Kommission. Danach wird sichtbar sein, ob Klimapolitik nur aus den großen Reden verdrängt wurde oder auch in der Gesetzgebung vernachlässigt wird.

Felix Schenuit
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Wettbewerbsfähigkeit: Entbürokratisierung, Fachkräfte, Rohstoffe

Neben dem Klimawandel identifizierte Ursula von der Leyen in ihrer Rede auch die Digitalisierung als eine der großen Herausforderungen des Jahrhunderts. Gleichzeitig machte sie jedoch weder die Digitalisierung noch die europäische Digitalpolitik zu einem expliziten Thema. Stattdessen bettete sie die Aspekte der digitalen Transformation in einen breiteren wirtschaftspolitischen Kontext ein: Die „Stärke unserer sozialen Marktwirtschaft“ werde den „ökologischen und digitalen Wandel vorantreiben“.

Um die „Zukunft unserer Wettbewerbsfähigkeit“ zu sichern, hob von der Leyen vor allem drei Punkte hervor: Erstens stellte sie eine Entlastung für kleine und mittlere Unternehmen in Aussicht, die sich insbesondere aus bürokratischen Erleichterungen durch die Vereinheitlichung von Steuervorschriften ergeben sollen. Dafür will die Kommission 2023 ihren schon seit längerem angekündigten Unternehmensteuer-Rahmen BEFIT vorlegen.

Zweitens stellte die Kommissionspräsidentin den Fachkräftemangel als zentrale Herausforderung für die europäische Wirtschaft dar. Während sie einerseits die niedrige Arbeitslosenquote innerhalb der Union lobte, adressierte sie die aus ihrer Sicht notwendige Einwanderung ausländischer Fachkräfte und deren effizientere Integration in den europäischen Arbeitsmarkt.

Drittens stellte von der Leyen insbesondere die Bedeutung von Rohstoffen heraus und skizzierte die künftig noch bedeutendere Rolle von Lithium und seltenen Erden. Sowohl bei der Versorgung als auch bei der Verarbeitung dieser Rohstoffe dürfe die EU nicht von einzelnen Drittstaaten abhängig werden. In Anlehnung an das europäische Chip-Gesetz kündigte sie ein weiteres Gesetz zur Sicherstellung kritischer Rohstoffe an. Langfristig soll ein sogenannter Europäischer Souveränitätsfonds entstehen, der die Finanzierung derartiger Projekte abdeckt.

Anne Goldmann
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NextGenerationEU und neue Fiskalregeln: „Nachhaltig investieren“

Aus der tiefsten Rezession in den schnellsten Konjunkturaufschwung der Nachkriegszeit: Was die wirtschaftliche Entwicklung betraf, zeigte sich von der Leyen beim Blick zurück auf die letzten Jahre hochzufrieden. Während der Corona-Pandemie habe die EU zusammengestanden, in „Rekordzeit“ das Kurzarbeitsmechanismus SURE entwickelt und sich hinter dem Wiederaufbauinstrument NextGenerationEU vereinigt. Das vor zwei Jahren beschlossene Instrument sei „genau das, was Europa heute braucht“.

An den bereits anlaufenden Debatten darüber, ob eine Neuauflage für NextGenerationEU notwendig ist, beteiligte sich von der Leyen indessen nicht. Stattdessen betonte sie,  dass der größte Teil der Mittel aus dem Instrument noch gar nicht abgeflossen sei. Auch in den kommenden Jahren werde NextGenerationEU deshalb die Wirtschaft entlasten und für ökologische Erneuerung sorgen.

Damit der Wandel zu Digitalisierung und Klimaneutralität gelingt, muss aber nicht nur die EU muss investieren, sondern auch die Mitgliedstaaten – und damit war von der Leyen bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts und der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU. Im Oktober will die Kommission hierzu neue Vorschläge vorlegen, von denen von der Leyen fürs Erste nur einige etwas kryptische „Grundprinzipien“ verriet: Die Kommission will den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität für Investitionen einräumen, zugleich aber die Rechenschaftspflicht bei der Umsetzung von vereinbarten Zielen erhöhen.

In der Praxis könnte das bedeuten, dass die Mitgliedstaaten leichter Schulden machen können, aber nur, um damit Investitionen zu finanzieren, die auch die EU sinnvoll findet. Sollte es dazu kommen, wäre es wohl nicht das schlechteste Ergebnis.

Manuel Müller
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Migrations- und Asylpolitik: Viele Widersprüche ungeklärt

In ihrer Rede wies Ursula von der Leyen zu Recht darauf hin, dass sie „Europa von seiner besten Seite“ erlebt habe, als die EU-Länder eine beispiellose Solidarität mit den aus der Ukraine fliehenden Menschen gezeigt hatten. Ebenso zu Recht betonte sie aber auch, dass diese Art von Solidarität in der Migrations- und Asylpolitik der EU insgesamt noch fehlt.

Trotz der im Juni 2022 erzielten politischen Einigung zwischen den EU-Mitgliedstaaten, einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus ins Leben zu rufen, gibt es bei dessen Umsetzung noch Herausforderungen. In ihrer Rede betonte von der Leyen, dass die Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Ukraine keine Ausnahme sein dürfe und die EU einen „rechtlich verbindlichen Solidaritätsmechanismus“ benötige. Dies scheint allerdings im Gegensatz zu dem freiwilligen Mechanismus zu stehen, den die Kommission noch 2020 in ihrem Migrations- und Asylpaket vorgeschlagen hat. Generell fasste sich von der Leyen beim Thema Migration jedoch kurz und gab nicht viele Antworten auf offene Fragen.

Im letzten Teil ihrer Rede präsentierte sie ihrem Publikum dafür zwei polnische Frauen, Magdalena und Agnieszka, die ukrainischen Geflüchteten an der Grenze geholfen hatten. Der Applaus, den die beiden engagierten und solidarischen Aktivistinnen im Europäischen Parlament erhielten – in einer Zeit, in der die polnische Regierung an der Grenze zu Belarus bewusst gegen das Asylrecht verstößt –, verdeutlicht die vielen Widersprüche in diesem Politikbereich. Es gibt viele Probleme, für die die EU hier noch Lösungen finden muss.

Vittoria Meißner
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Rechtsstaatlichkeit: Spannend war vor allem das Ungesagte

Der Krieg in der Ukraine ist ein Krieg zwischen einem autokratischen und demokratischen Modell, so von der Leyen direkt am Anfang ihrer Rede: Russland greife nicht nur die Ukraine an, sondern unsere Werte. Nach diesen starken Worten blieben die Vorschläge, um Rechtsstaatlichkeit in der EU zu wahren, dann aber recht dünn. Erst gegen Ende erwähnte die Kommissionspräsidentin, dass es „die Pflicht und die vornehmste Aufgabe der Kommission“ sei, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen.

Dieser Pflicht ist die EU-Kommission in den letzten Jahren allerdings nur unzureichend nachgegangen – kritische Stimmen würden behaupten, dass die EU kläglich gescheitert ist. Zum heutigen Zeitpunkt ist Ungarn keine Demokratie mehr. In Polen gibt es keine unabhängige Justiz mehr, Minderheiten werden offen diskriminiert und Frauenrechte regelrecht zertrampelt. All das erwähnte von der Leyen jedoch nicht.

Auch sonst war das Ungesagte zum Thema Rechtsstaatlichkeit in der Rede oft spannender als das Gesagte. Um zu vermeiden, dass sich die ungarische und polnische Regierung wieder als Opfer der Brüsseler Technokraten darstellen, nannte von der Leyen die beiden Länder nicht namentlich – auch wenn die Erwähnung der unabhängigen Justiz und des Konditionalitätsmechanismus sich klar an diese Länder richtete. Ungenannt blieben auch die Zivilgesellschaft und die Medienfreiheit, die noch in der SOTEU 2021 eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Stattdessen hob von der Leyen das Thema Korruption hervor, zu dem sie ein neues Gesetzgebungspaket ankündigte. Dass sie damit ein Thema wählte, bei dem eher Ungarn als Polen im Fokus steht, sagt viel über die Strategie der Kommission aus: Seit Beginn des Krieges in der Ukraine tritt Polen als wichtiger Partner gegen Putin auf, während Ungarn unter Viktor Orbán eine pro-russische Linie fährt und einer geeinten Antwort der EU oft im Weg steht.

Dass die Kommission sich nun vor allem auf Ungarn konzentriert, kann kritisch betrachtet werden: EU-Mitgliedsländer müssen die Grundwerte unabhängig von ihrer Ukraine-Positionierung wahren – doppelte Standards in dieser Frage gefährden die Glaubwürdigkeit der EU. Gleichzeitig ist es politisch ein kluger Ansatz: Vor dem Ukraine-Krieg hatten sich beide Länder eng abgestimmt, jetzt wächst die Kluft zwischen Polen und Ungarn. Auch wenn von der Leyen darüber nicht spricht.

Sophie Pornschlegel
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Bürgerbeteiligung: „Wir müssen jetzt liefern!“

„[N]ach dem Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern zugehört hat, müssen wir jetzt Ergebnisse liefern“, so fasste von der Leyen die Lage nach der EU-Zukunftskonferenz zusammen. In der „Absichtserklärung“, die sie anlässlich der SOTEU an die Präsidentin des Europäischen Parlaments und den Vorsitz des Rates gesandt hat, kündigte sie an, dass sich das Arbeitsprogramm der Kommission 2023 „auch weitgehend an den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas orientieren“ werde. Dazu sind 29 konkrete Initiativen aufgelistet, von denen 13 als auf die Zukunftskonferenz zurückgehend ausgewiesen werden. In ihrer Rede hob von der Leyen davon jedoch allein eine Initiative zur psychischen Gesundheit hervor.

So wie von der Leyen in ihrer Rede nur exemplarisch Rückbezug auf die Empfehlungen der Zukunftskonferenz nahm, so weist auch die schriftliche Bilanz der Kommission nicht aus, welche ihrer „Erfolge“ Forderungen der Konferenz umsetzen, obwohl bereits seit Juni 2022 eine entsprechende Übersicht vorliegt. Die Rede zur Lage der Union war damit auch eine vertane Chance, den Bürger:innen Rechenschaft über die ersten Fortschritte zu geben.

Ein klares Bekenntnis legte von der Leyen jedoch dazu ab, dass „Bürgerforen […] nun zu eine[m] regulären Bestandteil unseres demokratischen Lebens werden“. Wie diese jedoch konkret aussehen werden, blieb offen. Das Experiment der Zukunftskonferenz bezieht seinen Wert nicht daraus, dass die Bürgerbeteiligung perfekt verlief, sondern dass sich daraus Lehren für die künftige Ausgestaltung von Bürgerforen ziehen lassen. Dazu bedarf es einer fundierten Debatte. Es ist zu hoffen, dass die Kommission bereit ist, diese zu führen.

Auch die geplante (und begrüßenswerte) Fortentwicklung der Website Ihre Meinung zählt zu einem digitalen Bürgerbeteiligungshub blieb in der SOTEU unerwähnt. Interessanterweise gehört die Schaffung neuer Formen der partizipativen Demokratie auch nicht zu den in der Absichtserklärung aufgeführten Prioritäten der Kommission.

Julian Plottka
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Institutionelle Reformen: Europäischer Konvent jetzt!?

Will die Europäische Kommission im Nachgang zur Zukunftskonferenz einen Europäischen Konvent? Ja, sie will! In der vor der Rede veröffentlichten Bilanz hieß es noch verhalten: Die Kommission wolle „sich auf das derzeit Machbare konzentrieren und gleichzeitig, wo nötig, offen für Vertragsänderungen bleiben“. Jetzt aber gab von der Leyen die Position als neutraler Makler zwischen Europäischem Parlament und Mitgliedstaaten auf und erklärte: „[D]ie Zeit für einen Europäischen Konvent [ist] gekommen.“

Aber wird die Kommission wirklich ihr politisches Gewicht nutzen, um das Europäische Parlament im Kampf gegen die intergouvernementalen Windmühlen zu stärken? Es bleibt die Gefahr, dass von der Leyen mit ihrem Bekenntnis zum Konvent Punkte bei den Abgeordneten sammeln wollte, weil sie sicher ist, dass der Konvent nicht kommt – zumindest nicht vor der nächsten Europawahl. Immerhin hatte von der Leyen dem Parlament auch die Zukunftskonferenz 2019 erst vollmundig versprochen, um anschließend ihre Ambitionen zu reduzieren. Und dass die Kommission zwar Vorschläge zur Schaffung einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ machen, diese aber dem Europäischen Rat und nicht dem Europäischen Parlament vorstellen will, weckt ebenfalls Zweifel daran, wie viel Energie die Kommission in die Durchsetzung eines Konvents investieren wird.

Wichtiger als das aktuelle Bekenntnis zum Konvent ist deshalb wahrscheinlich der Nexus zwischen Vertragsreformen und Erweiterung. Bereits Olaf Scholz hatte diese Verbindung in seiner europapolitisch sonst eher ambitionslosen Prager Rede als Kernproblem der EU herausgearbeitet, von der Leyen hob ihn nun noch einmal ausdrücklich hervor. Damit deutet sich ein neuer Tenor in der Reformdebatte an: Institutionelle Reformen sind nicht mehr nur der Spleen der Föderalist:innen im Parlament, sondern unabdingbare Voraussetzung für kommende Erweiterungen. Das eine wird es ohne das andere nicht geben. Setzt sich diese Lesart durch, wird eine Reihe von nationalen Regierungen ihre Positionen überdenken müssen – außer sie wollen der Ukraine erklären, dass das mit dem Beitritt doch nicht so ganz ernst gemeint war.

Das lässt hoffen, aber eher mittel- als kurzfristig. Sind denn aber wenigstens kleine demokratische Reformen vor der nächsten Europawahl zu erwarten? Immerhin fand das neue Parteienstatut Eingang in die Bilanz vor der Rede. Auch das Wahlrecht wird dort genannt, aber im Zusammenhang mit „mobilen Bürger[n]“, denen die Wahl in anderen EU-Mitgliedstaaten erleichtert werden soll. Transnationale Listen? Spitzenkandidaten-Prinzip? Fehlanzeige. Auch in der Rede wurde keine dieser Reformen angesprochen.

Julian Plottka
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Außenpolitik: „Unsere Freunde in den demokratischen Nationen“

Von demokratischen Reformen im Inneren der EU war während der Rede wenig die Rede. Allerdings unterstrich von der Leyen die Bedeutung der Zusammenarbeit mit „Gleichgesinnten“ in der Außenpolitik, also „unseren Freunden in den demokratischen Nationen auf dieser Welt“. Die Kommissionspräsidentin erklärte, dass der „demokratische Kern“ erweitert werden und die Beziehungen zwischen Demokratien weltweit und in Europa vertieft werden müssten. Von der Leyen scheint sich – ganz im Sinne der derzeitigen deutschen Außenministerin – für eine wertegeleitete EU-Außenpolitik einzusetzen, die realistisch mit den Gefahren umgeht, die von Autokratien ausgehen.

Wie genau diese Werte sich in Zukunft in der Handelspolitik oder dem Investitionsplan „Global Gateway“ ausdrücken werden, bleibt indessen eine offene Frage. Auch was der demokratie-geleitete Ansatz für die Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik bedeutet und wie wichtig Demokratie in der von Frankreich vorgeschlagenen Initiative einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ wird, führte von der Leyen nicht im Einzelnen aus.

Klar ist indessen, dass die EU-Kommission sich noch stärker gegen ausländische Einflussnahme innerhalb der EU wappnen möchte. Nach dem Ende 2020 initiierten „europäischen Aktionsplan für Demokratie“ will die Kommission nun ein „Paket zur Verteidigung der Demokratie“ und zum Kampf gegen Desinformation vorschlagen. Diese neue Initiative ist zu begrüßen. Die Gefahren, die von ausländischer Einflussnahme innerhalb der EU ausgehen, sind bereits klar sichtbar – die russische Propaganda durch Sputnik, Russia Today und dubiose Finanzierungen von Stiftungen ist bekannt; in ihrer Rede nannte von der Leyen zudem ein Beispiel chinesischer Desinformation.

Es bleibt allerdings zu sehen, inwieweit die EU-Kommission in diesem Bereich vorangehen kann, wenn Länder wie Ungarn und Polen die Gruppe der „Gleichgesinnten“ leider schon verlassen.

Sophie Pornschlegel
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Erweiterung: Wenig Konkretes

Die Erweiterungspolitik der EU – oder, besser gesagt, die Staaten des Westlichen Balkans – waren bislang pflichtschuldiger Programmpunkt jeder einzelnen SOTEU. In der Regel wurde hierbei jedoch nur kurz die „europäische Perspektive“ dieser Länder unterstrichen. Konkretes fand sich wenig. Der der Ukraine im Rekordtempo verliehene Kandidatenstatus ließ nun zur Abwechslung vermuten, dass Ursula von der Leyen diesem Politikfeld diesmal einen deutlich höheren Stellenwert einräumen würde.

Dies war jedoch nur bedingt der Fall. Selbstverständlich war die Ukraine allein durch die Anwesenheit von Olena Selenska allgegenwärtig. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis von der Leyen explizit auf die EU-Erweiterung zu sprechen kam. Die Menschen auf dem westlichen Balkan, in der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien (die Türkei wurde weder an dieser noch an irgendeiner anderen Stelle der Rede erwähnt) seien Teil der europäischen Familie. Ihre Zukunft liege in der Union, und diese bleibe ohne sie unvollständig.

Doch wie will die EU ihre Erweiterungspolitik zukünftig konkret ausgestalten? Offensichtlich weiter so wie bisher, denn über mögliche Reformen, gar die Einführung von Mehrheitsentscheidungen, verlor von der Leyen kein Wort. Stattdessen griff die Kommissionspräsidentin den französischen Vorschlag einer Europäischen Politischen Gemeinschaft auf, zu der sie dem Europäischen Rat in Kürze konkrete Vorschläge unterbreiten werde. Gleichzeitig unterstrich sie jedoch, dass dieses Projekt eher dazu diene, um über den Beitrittsprozess hinaus auf andere Länder zuzugehen. Welche Länder konkret, das ließ von der Leyen wiederum offen.

Deutlich wurde bei der Rede das grundsätzliche Bemühen der Kommissionspräsidentin, Erweiterung als einen nicht nur nach außen, sondern auch nach innen gerichteten Handlungsauftrag zu definieren. Wenn man die Beitrittskandidaten auffordere, ihre Demokratien zu stärken, müsse man auch die Korruption innerhalb der EU beseitigen. Und schließlich mahnte sie ähnlich wie zuvor Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Prager Rede: Wenn man ernsthaft eine Erweiterung der Union ins Auge fasse, müsse man sich auch ernsthaft um institutionelle Reformen bemühen.

Oliver Schwarz
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Beziehungen zu Großbritannien: Hommage an eine „Legende“

Die weltweite Anteilnahme am Tod von Elizabeth II. war enorm, und auch Ursula von der Leyen würdigte sie als eine konstante Größe in den vergangenen turbulenten und ereignisreichen 70 Jahren: Die Queen sei eine „Legende“, die „in jedem Moment die richtigen Worte“ gefunden habe. Ob das wirklich so stimmt, erscheint angesichts der wiederaufkeimenden Debatte um die Unabhängigkeit einzelner Commonwealth-Staaten zumindest diskutabel.

Vielmehr erschien es, als versuche von der Leyen in ihrer Rede jede Konfrontation mit Großbritannien zu vermeiden, um die durchaus existierenden politischen Spannungen möglichst zu minimieren. Die Gruppe der verlässlichen demokratischen Partner ist kleiner geworden – und eines machte von der Leyen unmissverständlich klar: Für die Begründung neuer Partnerschaften in Europa und der Welt bedarf es einer Investition in die Macht der Demokratie.

Inwiefern mit Liz Truss, der neuen britischen Regierungschefin, Großbritannien wieder zu einem solch wichtigen Partner werden kann, bleibt abzuwarten. Ihre populistischen Äußerungen gegenüber Flüchtlingen und gesellschaftlichen Minderheiten sowie die despektierlichen Einlassungen gegenüber Emmanuel Macron hinterlassen zumindest eine gewisse Skepsis. Dennoch, als Mitglied der G7 zählt Großbritannien zur Allianz der demokratischen Partner, die für die Zukunft der Europäischen Union und die Bewältigung der vor ihr liegenden Krisen eine entscheidende Rolle spielen werden. Europa reicht Großbritannien dafür erneut die Hand.

Toralf Stark
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EU-China-Beziehungen: Gegen „böswillige Einmischung“

Die Solidarität mit der Ukraine im Angesicht der russischen Aggression stand im Mittelpunkt der Rede von Ursula von der Leyen. Leidenschaftlich sprach sie darüber, wie Europa zusammengekommen war, um sich gegen Putins „Krieg gegen unsere Werte und […] unsere Zukunft“ zu stellen. Während Kommentator:innen von der Leyens Äußerungen zum Ukraine-Krieg sicher auch mit China in Verbindung bringen werden, war sie selbst darauf bedacht, Russland und China nicht im gleichen Satz zu nennen. Dennoch kam China in der SOTEU in zweierlei Hinsicht vor: als wirtschaftlicher und als systemischer Konkurrent.

Im wirtschaftlichen Kontext wies die Kommissionspräsidentin darauf hin, dass China die globalen Lieferketten für Lithium und seltene Erden dominiert. Sie kündigte ein neues europäisches Gesetz zu kritischen Rohstoffen an, mit dem die EU strategische Projekte entlang der gesamten Lieferkette identifizieren und in strategische Reserven investieren soll. Es wird interessant zu beobachten, ob sich diese Maßnahmen zu einer grundsätzlichen Abkehr von der Interdependenz mit China in globalen Wertschöpfungsketten entwickeln, wie sie die USA propagieren, oder ob sie einfach ein solides Risikomanagement zur Diversifizierung und Sicherung der Lieferketten widerspiegeln. Von der Leyen verpflichtete sich zu neuen Partnerschaften mit Ländern wie Australien und Chile (ohne zu erwähnen, dass in beiden Ländern, den weltweit größten Lithiumproduzenten, die Lithium fördernden und verarbeitenden Unternehmen zum Teil in chinesischem Besitz sind).

Das „Global Gateway“ der EU, das von der Leyen in der letzten SOTEU angekündigt hatte, beschrieb sie nicht im Sinne eines Wettbewerbs mit China (wie dies in populären Darstellungen oft der Fall ist), sondern als Antwort auf den Wunsch von Ländern „nah und fern“, mit Europa bei Klimapolitik und Digitalisierung zusammenzuarbeiten. Allerdings wird die Kommissionspräsidentin ein Treffen mit US-Präsident Biden und anderen G7-Partnern einberufen, um weitere Umsetzungsprojekte anzukündigen – was dann doch so klingt, als sollten die EU-Infrastrukturprojekte als Alternative zu Chinas neuer Seidenstraße darstellen.

Schärfer wurden von der Leyens Äußerungen in Richtung China, als es um den Wettbewerb der Werte ging. So warf sie ausländischen Autokratien vor, Desinformation in der EU zu finanzieren: „Solche Lügen sind Gift für unsere Demokratien.“ Anstatt dabei mit dem Finger auf die weit verbreitete russische Desinformation zu zeigen, zitierte sie ein von China finanziertes Forschungszentrum an der Freien Universität Amsterdam, das widerlegte Behauptungen verbreitet hatte, es gebe keine Zwangsarbeit in Xinjiang. Dies scheint jedoch vor allem eine Blamage für die betreffende Universität zu sein und zu zeigen, wie unbeholfen und ineffektiv China auf öffentliche Debatten Einfluss zu nehmen versucht.

Zum Schutz vor „böswilliger Einmischung“ kündigte von der Leyen ein Gesetzgebungspaket an. Es wird sich lohnen, diesen Trend des naming and shaming weiter zu beobachten, um sicherzustellen, dass er tatsächlich zu einer Stärkung der Demokratie und der Meinungsfreiheit führt – und nicht zu einer neuen Art von McCarthyismus, wie er sich in den letzten Jahren in den USA und Australien ausgebreitet hat.

David Morris
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David Morris ist Senior Research Fellow am Centre for Pacific Studies der Beijing Foreign Studies University sowie Research Fellow an der Corvinus-Universität Budapest.

Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und am Lehrstuhl für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Felix Schenuit ist Wissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Porträt Oliver Schwarz

Oliver Schwarz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen.

Toralf Stark ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen.

Kristina Weissenbach ist Vertretungsprofessorin im Arbeitsbereich „Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft“ der Universität Duisburg-Essen und Forschungskoordinatorin der NRW School of Governance.

Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.


Übersetzung der Beiträge von Vittoria Meißner und David Morris: Manuel Müller.
Bilder: Ursula von der Leyen während der SOTEU: Europäische Union 2022 – Europäisches Parlament [Lizenz], via EP; Porträts Minna Ålander, Anne Goldmann, Vittoria Meißner, David Morris, Manuel Müller, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Felix Schenuit, Oliver Schwarz, Toralf Stark, Kristina Weissenbach: privat [alle Rechte vorbehalten].