14 September 2022

SOTEU 2022: Ursula von der Leyens dritte Rede zur Lage der Europäischen Union

Ursula von der Leyen während der Rede zur Lage der Europäischen Union 2022
Ursula von der Leyes Rede zur Lage der Europäischen Union stand ganz unter dem Eindruck des russischen Angriffs auf die Ukraine.

Die Rede zur Lage der Europäischen Union – bekannt als State of the European Union oder kurz SOTEU –, die die Kommissionspräsident:in alljährlich im September vor dem Europäischen Parlament hält, ist seit zwölf Jahren zu einer festen Institution geworden. Doch wie Ursula von der Leyen (CDU/EVP) am heutigen Mittwoch gleich zu Beginn hervorhob, handelte es sich diesmal doch um ein Novum: Es war die erste SOTEU, die während eines Krieges auf europäischem Boden gehalten wurde. Schon vor der Rede hatten sich von der Leyen und die Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (PN/EVP) im Plenarsaal mit Olena Selenska, der Frau des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj (SN/ALDE), fotografieren lassen. Und auch später zogen sich der russische Angriff auf die Ukraine und die europäische Reaktion darauf als Leitmotiv durch die Ansprache.

Doch der Krieg war natürlich nicht das einzige Thema, mit dem sich von der Leyen in der Rede auseinandersetzte. Die Energiekrise und die steigenden Lebenshaltungskosten, die Klima- und die Migrationspolitik, die Reform des Stabilitätspakts, die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU und weltweit, die Ergebnisse der Konferenz zur Zukunft Europas, die Erweiterung und die Vertiefung der EU sowie zahlreiche weitere Punkte standen ebenfalls auf der Agenda. Insgesamt gab sich von der Leyen kämpferisch und zuversichtlich, zuweilen fast triumphalistisch, wenn es um die Leistungen der letzten Monate und Jahre ging. Doch nicht zu allen Fragen hatte die Kommissionspräsidentin gleichermaßen überzeugende Antworten mitgebracht.

Dieser Artikel ist eine Sammlung von Kurzanalysen zu einigen Schlüsselthemen der SOTEU, verfasst von Expert:innen aus unterschiedlichen Universitäten und Forschungsinstituten. Mehr Informationen der Kommission zu der Rede sind hier zu finden, der originale (mehrsprachige) Wortlaut hier, eine deutsche Übersetzung hier.

Russland und Ukraine: „Hier kämpft Autokratie gegen Demokratie“

Europa befindet sich in einer Zäsur, das machte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer Rede deutlich. Zum ersten Mal fand die jährliche Debatte unter den Bedingungen eines Krieges in Europa statt. Der brutale Angriff Russlands ist nicht nur gegen die Ukraine gerichtet, sondern gegen „unsere Energie, unsere Wirtschaft, unsere Werte und unsere Zukunft“, betonte von der Leyen – ein Krieg zwischen Autokratie und Demokratie.

In sehr deutlichen Worten hat die Kommissionspräsidentin die Notwendigkeit formuliert, jetzt mit Sanktionen weiter auf Kurs zu bleiben und nicht locker zu lassen. Europa werde mit der Ukraine stehen und sie langfristig unterstützen, sowohl im akuten Abwehrkampf gegen den russischen Angriff als auch danach, wenn das Land wiederaufgebaut wird. Die Schuld für den wirtschaftlichen und industriellen Untergang Russlands liege allein beim Kreml, der diesen Preis jetzt zahlen müsse.

Eine Lehre aus der aktuellen Energiekrise ist laut von der Leyen zudem, dass Europa mehr auf diejenigen hätte hören müssen, die Putin gut kannten – darunter insbesondere die mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten sowie die baltischen Länder, die konsequent vor den Risiken von einer Abhängigkeit von Russland im Energiebereich gewarnt und selbst dementsprechend gehandelt hatten. Dies in aller Deutlichkeit in der Rede anzuerkennen ist wichtig, weil sich nun genau diese Risiken materialisiert haben und ganz Europa vor enorme Herausforderungen stellen.

Minna Ålander
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Energiepolitik: Ein neues Querschnittsthema

„Ein Krieg gegen unsere Energieversorgung, gegen unsere Wirtschaft, gegen unsere Werte und gegen unsere Zukunft“: Energiepolitische Fragen waren in Ursula von der Leyens Rede eingebettet in den Diskurs um die Solidarität und die innere Stärke des „Team Europa“ vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine. Fragen des Energieverbrauchs, der gemeinsamen Energiespeicherung und der Energieabhängigkeiten werden damit zu Querschnittsthemen für die Außen- und Sicherheitspolitik, die Wirtschaftspolitik und ohnehin die Klimapolitik.

Nach dem Vorbild der baltischen Staaten, so die Kommissionspräsidentin, arbeite die EU daran, Energieabhängigkeiten zu vermeiden. Schon jetzt sei der Anteil an russischen Gaslieferungen um 31 Prozentpunkte gesunken, von 40 % auf 9 % der Gasimporte. Für die Zukunft seien neue, verlässliche Partnerschaften in der Energieversorgung dringend nötig – als konkrete Lieferanten nannte sie die USA, Algerien und Norwegen. Mit Letzterem sei bereits eine Taskforce zur Regulierung von Gaspreisen implementiert.

Konkrete Vorschläge für Notmaßnahmen, mit denen die Mitgliedstaaten ihren Stromverbrauch senken können – wie „Krisenabgaben“ von Öl-, Gas- und Kohleunternehmen oder eine Übergewinn-Besteuerung von Energieunternehmen –, verband Ursula von der Leyen mit Appellen an die Solidarität der europäischen Bürger:innen auf individueller Eben. So hätten die Beschäftigten italienischer Fabriken ihre Arbeitsschichten in den Morgen verlegt, da dann der Strom preisgünstiger sei. Als Maßnahme zur kurz- bis mittelfristigen Krisenbewältigung kündigte von der Leyen zudem eine befristete Änderung der europäischen Beihilferegelungen an, um staatliche Garantien für Energieunternehmen in Liquiditätsengpässen zu ermöglichen.

Langfristig steht für sie Europa vor noch weitergehenden Reformen des Energiemarktes: die Entkoppelung von Strom- und Gaspreisen und die Überwindung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen. Neben Solar, Wind und Wasser betonte die Kommissionspräsidenten dabei das Programm zur grünen Wasserstoffproduktion REPowerEU, die Gründung einer Europäischen Wasserstoffbank und die Investition von 3 Mrd. Euro in den Aufbau eines Wasserstoff-Markts.

Kristina Weissenbach
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Klimapolitik: Vom Mann auf dem Mond ist kaum noch die Rede

Der Europäische Green Deal galt zum Amtsantritt der Kommission unter Ursula von der Leyen als ihre oberste politische Priorität. 2019 beschrieb von der Leyen ihn als „man on the moon moment“ für Europa. Ihre diesjährige Rede zeigt allerdings: Politische Prioritäten verschieben sich und die Umsetzung der Transformation ist komplex. In Zeiten der ernsthaften Sorgen um Versorgungssicherheit im bevorstehenden Winter und horrenden Energiepreisen überrascht es nicht, dass das Ziel, bis 2050 der „erste klimaneutrale Kontinent“ zu werden, nicht ganz oben auf der politischen Agenda steht. Während in der SOTEU 2021 der Begriff „Klima“ noch 16 Mal genannt wurde, fielen die Passagen dazu diesmal deutlich kürzer aus (6 Nennungen).

Zwar betonte die Kommissionspräsidentin den Ausbau der Erneuerbaren Energien im Rahmen des REPowerEU-Programms, das zur Förderung der Unabhängigkeit von russischen fossilen Ressourcen aufgesetzt wurde. Zu konkreten Gesetzgebungsvorhaben im Bereich der Klimapolitik war jedoch wenig bis nichts zu vernehmen. Die derzeit laufende Reform aller zentralen klimapolitischen Rechtsakte im Rahmen des Fit-for-55-Pakets fand keine Erwähnung; die internationalen Verhandlungen im Rahmen der COP27 in Sharm el-Sheikh wurde – im deutlichen Kontrast zu letztem Jahr – nur am Rande erwähnt.

Eine neue Initiative kündigte von der Leyen für Wasserstoff an: Die Kommission will eine „Wasserstoff-Bank“ schaffen, die aus Mitteln des Innovation Funds eingerichtet wird (3 Mrd. Euro) und die Schaffung eines Markts für Wasserstoff beschleunigen soll. Mit Blick auf die Folgen des Klimawandels will von der Leyen zudem die EU-Kapazitäten zur Brandbekämpfung verdoppeln. Darüber hinaus lag der Fokus der Rede wie zu erwarten auf der Energiepolitik. Viele der Ankündigungen in diesem Bereich sind auch für die EU-Klimapolitik von großer Bedeutung. Angesichts der Energiekrise und der damit verbundenen substanziellen Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten fanden diese klimapolitischen Implikationen jedoch keine große Beachtung.

Ob die Umsetzungslücke mit Blick auf die Ziele des EU-Klimagesetzes größer oder kleiner wird, lässt sich aus der Rede nicht herauslesen. Klar ist: Der Abschluss der Fit-for-55-Pakets wird zur nächsten klimapolitischen Bewährungsprobe der Kommission. Danach wird sichtbar sein, ob Klimapolitik nur aus den großen Reden verdrängt wurde oder auch in der Gesetzgebung vernachlässigt wird.

Felix Schenuit
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Wettbewerbsfähigkeit: Entbürokratisierung, Fachkräfte, Rohstoffe

Neben dem Klimawandel identifizierte Ursula von der Leyen in ihrer Rede auch die Digitalisierung als eine der großen Herausforderungen des Jahrhunderts. Gleichzeitig machte sie jedoch weder die Digitalisierung noch die europäische Digitalpolitik zu einem expliziten Thema. Stattdessen bettete sie die Aspekte der digitalen Transformation in einen breiteren wirtschaftspolitischen Kontext ein: Die „Stärke unserer sozialen Marktwirtschaft“ werde den „ökologischen und digitalen Wandel vorantreiben“.

Um die „Zukunft unserer Wettbewerbsfähigkeit“ zu sichern, hob von der Leyen vor allem drei Punkte hervor: Erstens stellte sie eine Entlastung für kleine und mittlere Unternehmen in Aussicht, die sich insbesondere aus bürokratischen Erleichterungen durch die Vereinheitlichung von Steuervorschriften ergeben sollen. Dafür will die Kommission 2023 ihren schon seit längerem angekündigten Unternehmensteuer-Rahmen BEFIT vorlegen.

Zweitens stellte die Kommissionspräsidentin den Fachkräftemangel als zentrale Herausforderung für die europäische Wirtschaft dar. Während sie einerseits die niedrige Arbeitslosenquote innerhalb der Union lobte, adressierte sie die aus ihrer Sicht notwendige Einwanderung ausländischer Fachkräfte und deren effizientere Integration in den europäischen Arbeitsmarkt.

Drittens stellte von der Leyen insbesondere die Bedeutung von Rohstoffen heraus und skizzierte die künftig noch bedeutendere Rolle von Lithium und seltenen Erden. Sowohl bei der Versorgung als auch bei der Verarbeitung dieser Rohstoffe dürfe die EU nicht von einzelnen Drittstaaten abhängig werden. In Anlehnung an das europäische Chip-Gesetz kündigte sie ein weiteres Gesetz zur Sicherstellung kritischer Rohstoffe an. Langfristig soll ein sogenannter Europäischer Souveränitätsfonds entstehen, der die Finanzierung derartiger Projekte abdeckt.

Anne Goldmann
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NextGenerationEU und neue Fiskalregeln: „Nachhaltig investieren“

Aus der tiefsten Rezession in den schnellsten Konjunkturaufschwung der Nachkriegszeit: Was die wirtschaftliche Entwicklung betraf, zeigte sich von der Leyen beim Blick zurück auf die letzten Jahre hochzufrieden. Während der Corona-Pandemie habe die EU zusammengestanden, in „Rekordzeit“ das Kurzarbeitsmechanismus SURE entwickelt und sich hinter dem Wiederaufbauinstrument NextGenerationEU vereinigt. Das vor zwei Jahren beschlossene Instrument sei „genau das, was Europa heute braucht“.

An den bereits anlaufenden Debatten darüber, ob eine Neuauflage für NextGenerationEU notwendig ist, beteiligte sich von der Leyen indessen nicht. Stattdessen betonte sie,  dass der größte Teil der Mittel aus dem Instrument noch gar nicht abgeflossen sei. Auch in den kommenden Jahren werde NextGenerationEU deshalb die Wirtschaft entlasten und für ökologische Erneuerung sorgen.

Damit der Wandel zu Digitalisierung und Klimaneutralität gelingt, muss aber nicht nur die EU muss investieren, sondern auch die Mitgliedstaaten – und damit war von der Leyen bei der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts und der wirtschaftspolitischen Steuerung der EU. Im Oktober will die Kommission hierzu neue Vorschläge vorlegen, von denen von der Leyen fürs Erste nur einige etwas kryptische „Grundprinzipien“ verriet: Die Kommission will den Mitgliedstaaten mehr Flexibilität für Investitionen einräumen, zugleich aber die Rechenschaftspflicht bei der Umsetzung von vereinbarten Zielen erhöhen.

In der Praxis könnte das bedeuten, dass die Mitgliedstaaten leichter Schulden machen können, aber nur, um damit Investitionen zu finanzieren, die auch die EU sinnvoll findet. Sollte es dazu kommen, wäre es wohl nicht das schlechteste Ergebnis.

Manuel Müller
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Migrations- und Asylpolitik: Viele Widersprüche ungeklärt

In ihrer Rede wies Ursula von der Leyen zu Recht darauf hin, dass sie „Europa von seiner besten Seite“ erlebt habe, als die EU-Länder eine beispiellose Solidarität mit den aus der Ukraine fliehenden Menschen gezeigt hatten. Ebenso zu Recht betonte sie aber auch, dass diese Art von Solidarität in der Migrations- und Asylpolitik der EU insgesamt noch fehlt.

Trotz der im Juni 2022 erzielten politischen Einigung zwischen den EU-Mitgliedstaaten, einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus ins Leben zu rufen, gibt es bei dessen Umsetzung noch Herausforderungen. In ihrer Rede betonte von der Leyen, dass die Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Ukraine keine Ausnahme sein dürfe und die EU einen „rechtlich verbindlichen Solidaritätsmechanismus“ benötige. Dies scheint allerdings im Gegensatz zu dem freiwilligen Mechanismus zu stehen, den die Kommission noch 2020 in ihrem Migrations- und Asylpaket vorgeschlagen hat. Generell fasste sich von der Leyen beim Thema Migration jedoch kurz und gab nicht viele Antworten auf offene Fragen.

Im letzten Teil ihrer Rede präsentierte sie ihrem Publikum dafür zwei polnische Frauen, Magdalena und Agnieszka, die ukrainischen Geflüchteten an der Grenze geholfen hatten. Der Applaus, den die beiden engagierten und solidarischen Aktivistinnen im Europäischen Parlament erhielten – in einer Zeit, in der die polnische Regierung an der Grenze zu Belarus bewusst gegen das Asylrecht verstößt –, verdeutlicht die vielen Widersprüche in diesem Politikbereich. Es gibt viele Probleme, für die die EU hier noch Lösungen finden muss.

Vittoria Meißner
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Rechtsstaatlichkeit: Spannend war vor allem das Ungesagte

Der Krieg in der Ukraine ist ein Krieg zwischen einem autokratischen und demokratischen Modell, so von der Leyen direkt am Anfang ihrer Rede: Russland greife nicht nur die Ukraine an, sondern unsere Werte. Nach diesen starken Worten blieben die Vorschläge, um Rechtsstaatlichkeit in der EU zu wahren, dann aber recht dünn. Erst gegen Ende erwähnte die Kommissionspräsidentin, dass es „die Pflicht und die vornehmste Aufgabe der Kommission“ sei, die Rechtsstaatlichkeit zu schützen.

Dieser Pflicht ist die EU-Kommission in den letzten Jahren allerdings nur unzureichend nachgegangen – kritische Stimmen würden behaupten, dass die EU kläglich gescheitert ist. Zum heutigen Zeitpunkt ist Ungarn keine Demokratie mehr. In Polen gibt es keine unabhängige Justiz mehr, Minderheiten werden offen diskriminiert und Frauenrechte regelrecht zertrampelt. All das erwähnte von der Leyen jedoch nicht.

Auch sonst war das Ungesagte zum Thema Rechtsstaatlichkeit in der Rede oft spannender als das Gesagte. Um zu vermeiden, dass sich die ungarische und polnische Regierung wieder als Opfer der Brüsseler Technokraten darstellen, nannte von der Leyen die beiden Länder nicht namentlich – auch wenn die Erwähnung der unabhängigen Justiz und des Konditionalitätsmechanismus sich klar an diese Länder richtete. Ungenannt blieben auch die Zivilgesellschaft und die Medienfreiheit, die noch in der SOTEU 2021 eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Stattdessen hob von der Leyen das Thema Korruption hervor, zu dem sie ein neues Gesetzgebungspaket ankündigte. Dass sie damit ein Thema wählte, bei dem eher Ungarn als Polen im Fokus steht, sagt viel über die Strategie der Kommission aus: Seit Beginn des Krieges in der Ukraine tritt Polen als wichtiger Partner gegen Putin auf, während Ungarn unter Viktor Orbán eine pro-russische Linie fährt und einer geeinten Antwort der EU oft im Weg steht.

Dass die Kommission sich nun vor allem auf Ungarn konzentriert, kann kritisch betrachtet werden: EU-Mitgliedsländer müssen die Grundwerte unabhängig von ihrer Ukraine-Positionierung wahren – doppelte Standards in dieser Frage gefährden die Glaubwürdigkeit der EU. Gleichzeitig ist es politisch ein kluger Ansatz: Vor dem Ukraine-Krieg hatten sich beide Länder eng abgestimmt, jetzt wächst die Kluft zwischen Polen und Ungarn. Auch wenn von der Leyen darüber nicht spricht.

Sophie Pornschlegel
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Bürgerbeteiligung: „Wir müssen jetzt liefern!“

„[N]ach dem Europa seinen Bürgerinnen und Bürgern zugehört hat, müssen wir jetzt Ergebnisse liefern“, so fasste von der Leyen die Lage nach der EU-Zukunftskonferenz zusammen. In der „Absichtserklärung“, die sie anlässlich der SOTEU an die Präsidentin des Europäischen Parlaments und den Vorsitz des Rates gesandt hat, kündigte sie an, dass sich das Arbeitsprogramm der Kommission 2023 „auch weitgehend an den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas orientieren“ werde. Dazu sind 29 konkrete Initiativen aufgelistet, von denen 13 als auf die Zukunftskonferenz zurückgehend ausgewiesen werden. In ihrer Rede hob von der Leyen davon jedoch allein eine Initiative zur psychischen Gesundheit hervor.

So wie von der Leyen in ihrer Rede nur exemplarisch Rückbezug auf die Empfehlungen der Zukunftskonferenz nahm, so weist auch die schriftliche Bilanz der Kommission nicht aus, welche ihrer „Erfolge“ Forderungen der Konferenz umsetzen, obwohl bereits seit Juni 2022 eine entsprechende Übersicht vorliegt. Die Rede zur Lage der Union war damit auch eine vertane Chance, den Bürger:innen Rechenschaft über die ersten Fortschritte zu geben.

Ein klares Bekenntnis legte von der Leyen jedoch dazu ab, dass „Bürgerforen […] nun zu eine[m] regulären Bestandteil unseres demokratischen Lebens werden“. Wie diese jedoch konkret aussehen werden, blieb offen. Das Experiment der Zukunftskonferenz bezieht seinen Wert nicht daraus, dass die Bürgerbeteiligung perfekt verlief, sondern dass sich daraus Lehren für die künftige Ausgestaltung von Bürgerforen ziehen lassen. Dazu bedarf es einer fundierten Debatte. Es ist zu hoffen, dass die Kommission bereit ist, diese zu führen.

Auch die geplante (und begrüßenswerte) Fortentwicklung der Website Ihre Meinung zählt zu einem digitalen Bürgerbeteiligungshub blieb in der SOTEU unerwähnt. Interessanterweise gehört die Schaffung neuer Formen der partizipativen Demokratie auch nicht zu den in der Absichtserklärung aufgeführten Prioritäten der Kommission.

Julian Plottka
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Institutionelle Reformen: Europäischer Konvent jetzt!?

Will die Europäische Kommission im Nachgang zur Zukunftskonferenz einen Europäischen Konvent? Ja, sie will! In der vor der Rede veröffentlichten Bilanz hieß es noch verhalten: Die Kommission wolle „sich auf das derzeit Machbare konzentrieren und gleichzeitig, wo nötig, offen für Vertragsänderungen bleiben“. Jetzt aber gab von der Leyen die Position als neutraler Makler zwischen Europäischem Parlament und Mitgliedstaaten auf und erklärte: „[D]ie Zeit für einen Europäischen Konvent [ist] gekommen.“

Aber wird die Kommission wirklich ihr politisches Gewicht nutzen, um das Europäische Parlament im Kampf gegen die intergouvernementalen Windmühlen zu stärken? Es bleibt die Gefahr, dass von der Leyen mit ihrem Bekenntnis zum Konvent Punkte bei den Abgeordneten sammeln wollte, weil sie sicher ist, dass der Konvent nicht kommt – zumindest nicht vor der nächsten Europawahl. Immerhin hatte von der Leyen dem Parlament auch die Zukunftskonferenz 2019 erst vollmundig versprochen, um anschließend ihre Ambitionen zu reduzieren. Und dass die Kommission zwar Vorschläge zur Schaffung einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ machen, diese aber dem Europäischen Rat und nicht dem Europäischen Parlament vorstellen will, weckt ebenfalls Zweifel daran, wie viel Energie die Kommission in die Durchsetzung eines Konvents investieren wird.

Wichtiger als das aktuelle Bekenntnis zum Konvent ist deshalb wahrscheinlich der Nexus zwischen Vertragsreformen und Erweiterung. Bereits Olaf Scholz hatte diese Verbindung in seiner europapolitisch sonst eher ambitionslosen Prager Rede als Kernproblem der EU herausgearbeitet, von der Leyen hob ihn nun noch einmal ausdrücklich hervor. Damit deutet sich ein neuer Tenor in der Reformdebatte an: Institutionelle Reformen sind nicht mehr nur der Spleen der Föderalist:innen im Parlament, sondern unabdingbare Voraussetzung für kommende Erweiterungen. Das eine wird es ohne das andere nicht geben. Setzt sich diese Lesart durch, wird eine Reihe von nationalen Regierungen ihre Positionen überdenken müssen – außer sie wollen der Ukraine erklären, dass das mit dem Beitritt doch nicht so ganz ernst gemeint war.

Das lässt hoffen, aber eher mittel- als kurzfristig. Sind denn aber wenigstens kleine demokratische Reformen vor der nächsten Europawahl zu erwarten? Immerhin fand das neue Parteienstatut Eingang in die Bilanz vor der Rede. Auch das Wahlrecht wird dort genannt, aber im Zusammenhang mit „mobilen Bürger[n]“, denen die Wahl in anderen EU-Mitgliedstaaten erleichtert werden soll. Transnationale Listen? Spitzenkandidaten-Prinzip? Fehlanzeige. Auch in der Rede wurde keine dieser Reformen angesprochen.

Julian Plottka
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Außenpolitik: „Unsere Freunde in den demokratischen Nationen“

Von demokratischen Reformen im Inneren der EU war während der Rede wenig die Rede. Allerdings unterstrich von der Leyen die Bedeutung der Zusammenarbeit mit „Gleichgesinnten“ in der Außenpolitik, also „unseren Freunden in den demokratischen Nationen auf dieser Welt“. Die Kommissionspräsidentin erklärte, dass der „demokratische Kern“ erweitert werden und die Beziehungen zwischen Demokratien weltweit und in Europa vertieft werden müssten. Von der Leyen scheint sich – ganz im Sinne der derzeitigen deutschen Außenministerin – für eine wertegeleitete EU-Außenpolitik einzusetzen, die realistisch mit den Gefahren umgeht, die von Autokratien ausgehen.

Wie genau diese Werte sich in Zukunft in der Handelspolitik oder dem Investitionsplan „Global Gateway“ ausdrücken werden, bleibt indessen eine offene Frage. Auch was der demokratie-geleitete Ansatz für die Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik bedeutet und wie wichtig Demokratie in der von Frankreich vorgeschlagenen Initiative einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ wird, führte von der Leyen nicht im Einzelnen aus.

Klar ist indessen, dass die EU-Kommission sich noch stärker gegen ausländische Einflussnahme innerhalb der EU wappnen möchte. Nach dem Ende 2020 initiierten „europäischen Aktionsplan für Demokratie“ will die Kommission nun ein „Paket zur Verteidigung der Demokratie“ und zum Kampf gegen Desinformation vorschlagen. Diese neue Initiative ist zu begrüßen. Die Gefahren, die von ausländischer Einflussnahme innerhalb der EU ausgehen, sind bereits klar sichtbar – die russische Propaganda durch Sputnik, Russia Today und dubiose Finanzierungen von Stiftungen ist bekannt; in ihrer Rede nannte von der Leyen zudem ein Beispiel chinesischer Desinformation.

Es bleibt allerdings zu sehen, inwieweit die EU-Kommission in diesem Bereich vorangehen kann, wenn Länder wie Ungarn und Polen die Gruppe der „Gleichgesinnten“ leider schon verlassen.

Sophie Pornschlegel
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Erweiterung: Wenig Konkretes

Die Erweiterungspolitik der EU – oder, besser gesagt, die Staaten des Westlichen Balkans – waren bislang pflichtschuldiger Programmpunkt jeder einzelnen SOTEU. In der Regel wurde hierbei jedoch nur kurz die „europäische Perspektive“ dieser Länder unterstrichen. Konkretes fand sich wenig. Der der Ukraine im Rekordtempo verliehene Kandidatenstatus ließ nun zur Abwechslung vermuten, dass Ursula von der Leyen diesem Politikfeld diesmal einen deutlich höheren Stellenwert einräumen würde.

Dies war jedoch nur bedingt der Fall. Selbstverständlich war die Ukraine allein durch die Anwesenheit von Olena Selenska allgegenwärtig. Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis von der Leyen explizit auf die EU-Erweiterung zu sprechen kam. Die Menschen auf dem westlichen Balkan, in der Ukraine, der Republik Moldau und Georgien (die Türkei wurde weder an dieser noch an irgendeiner anderen Stelle der Rede erwähnt) seien Teil der europäischen Familie. Ihre Zukunft liege in der Union, und diese bleibe ohne sie unvollständig.

Doch wie will die EU ihre Erweiterungspolitik zukünftig konkret ausgestalten? Offensichtlich weiter so wie bisher, denn über mögliche Reformen, gar die Einführung von Mehrheitsentscheidungen, verlor von der Leyen kein Wort. Stattdessen griff die Kommissionspräsidentin den französischen Vorschlag einer Europäischen Politischen Gemeinschaft auf, zu der sie dem Europäischen Rat in Kürze konkrete Vorschläge unterbreiten werde. Gleichzeitig unterstrich sie jedoch, dass dieses Projekt eher dazu diene, um über den Beitrittsprozess hinaus auf andere Länder zuzugehen. Welche Länder konkret, das ließ von der Leyen wiederum offen.

Deutlich wurde bei der Rede das grundsätzliche Bemühen der Kommissionspräsidentin, Erweiterung als einen nicht nur nach außen, sondern auch nach innen gerichteten Handlungsauftrag zu definieren. Wenn man die Beitrittskandidaten auffordere, ihre Demokratien zu stärken, müsse man auch die Korruption innerhalb der EU beseitigen. Und schließlich mahnte sie ähnlich wie zuvor Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Prager Rede: Wenn man ernsthaft eine Erweiterung der Union ins Auge fasse, müsse man sich auch ernsthaft um institutionelle Reformen bemühen.

Oliver Schwarz
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Beziehungen zu Großbritannien: Hommage an eine „Legende“

Die weltweite Anteilnahme am Tod von Elizabeth II. war enorm, und auch Ursula von der Leyen würdigte sie als eine konstante Größe in den vergangenen turbulenten und ereignisreichen 70 Jahren: Die Queen sei eine „Legende“, die „in jedem Moment die richtigen Worte“ gefunden habe. Ob das wirklich so stimmt, erscheint angesichts der wiederaufkeimenden Debatte um die Unabhängigkeit einzelner Commonwealth-Staaten zumindest diskutabel.

Vielmehr erschien es, als versuche von der Leyen in ihrer Rede jede Konfrontation mit Großbritannien zu vermeiden, um die durchaus existierenden politischen Spannungen möglichst zu minimieren. Die Gruppe der verlässlichen demokratischen Partner ist kleiner geworden – und eines machte von der Leyen unmissverständlich klar: Für die Begründung neuer Partnerschaften in Europa und der Welt bedarf es einer Investition in die Macht der Demokratie.

Inwiefern mit Liz Truss, der neuen britischen Regierungschefin, Großbritannien wieder zu einem solch wichtigen Partner werden kann, bleibt abzuwarten. Ihre populistischen Äußerungen gegenüber Flüchtlingen und gesellschaftlichen Minderheiten sowie die despektierlichen Einlassungen gegenüber Emmanuel Macron hinterlassen zumindest eine gewisse Skepsis. Dennoch, als Mitglied der G7 zählt Großbritannien zur Allianz der demokratischen Partner, die für die Zukunft der Europäischen Union und die Bewältigung der vor ihr liegenden Krisen eine entscheidende Rolle spielen werden. Europa reicht Großbritannien dafür erneut die Hand.

Toralf Stark
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EU-China-Beziehungen: Gegen „böswillige Einmischung“

Die Solidarität mit der Ukraine im Angesicht der russischen Aggression stand im Mittelpunkt der Rede von Ursula von der Leyen. Leidenschaftlich sprach sie darüber, wie Europa zusammengekommen war, um sich gegen Putins „Krieg gegen unsere Werte und […] unsere Zukunft“ zu stellen. Während Kommentator:innen von der Leyens Äußerungen zum Ukraine-Krieg sicher auch mit China in Verbindung bringen werden, war sie selbst darauf bedacht, Russland und China nicht im gleichen Satz zu nennen. Dennoch kam China in der SOTEU in zweierlei Hinsicht vor: als wirtschaftlicher und als systemischer Konkurrent.

Im wirtschaftlichen Kontext wies die Kommissionspräsidentin darauf hin, dass China die globalen Lieferketten für Lithium und seltene Erden dominiert. Sie kündigte ein neues europäisches Gesetz zu kritischen Rohstoffen an, mit dem die EU strategische Projekte entlang der gesamten Lieferkette identifizieren und in strategische Reserven investieren soll. Es wird interessant zu beobachten, ob sich diese Maßnahmen zu einer grundsätzlichen Abkehr von der Interdependenz mit China in globalen Wertschöpfungsketten entwickeln, wie sie die USA propagieren, oder ob sie einfach ein solides Risikomanagement zur Diversifizierung und Sicherung der Lieferketten widerspiegeln. Von der Leyen verpflichtete sich zu neuen Partnerschaften mit Ländern wie Australien und Chile (ohne zu erwähnen, dass in beiden Ländern, den weltweit größten Lithiumproduzenten, die Lithium fördernden und verarbeitenden Unternehmen zum Teil in chinesischem Besitz sind).

Das „Global Gateway“ der EU, das von der Leyen in der letzten SOTEU angekündigt hatte, beschrieb sie nicht im Sinne eines Wettbewerbs mit China (wie dies in populären Darstellungen oft der Fall ist), sondern als Antwort auf den Wunsch von Ländern „nah und fern“, mit Europa bei Klimapolitik und Digitalisierung zusammenzuarbeiten. Allerdings wird die Kommissionspräsidentin ein Treffen mit US-Präsident Biden und anderen G7-Partnern einberufen, um weitere Umsetzungsprojekte anzukündigen – was dann doch so klingt, als sollten die EU-Infrastrukturprojekte als Alternative zu Chinas neuer Seidenstraße darstellen.

Schärfer wurden von der Leyens Äußerungen in Richtung China, als es um den Wettbewerb der Werte ging. So warf sie ausländischen Autokratien vor, Desinformation in der EU zu finanzieren: „Solche Lügen sind Gift für unsere Demokratien.“ Anstatt dabei mit dem Finger auf die weit verbreitete russische Desinformation zu zeigen, zitierte sie ein von China finanziertes Forschungszentrum an der Freien Universität Amsterdam, das widerlegte Behauptungen verbreitet hatte, es gebe keine Zwangsarbeit in Xinjiang. Dies scheint jedoch vor allem eine Blamage für die betreffende Universität zu sein und zu zeigen, wie unbeholfen und ineffektiv China auf öffentliche Debatten Einfluss zu nehmen versucht.

Zum Schutz vor „böswilliger Einmischung“ kündigte von der Leyen ein Gesetzgebungspaket an. Es wird sich lohnen, diesen Trend des naming and shaming weiter zu beobachten, um sicherzustellen, dass er tatsächlich zu einer Stärkung der Demokratie und der Meinungsfreiheit führt – und nicht zu einer neuen Art von McCarthyismus, wie er sich in den letzten Jahren in den USA und Australien ausgebreitet hat.

David Morris
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David Morris ist Senior Research Fellow am Centre for Pacific Studies der Beijing Foreign Studies University sowie Research Fellow an der Corvinus-Universität Budapest.

Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und am Lehrstuhl für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Felix Schenuit ist Wissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

Porträt Oliver Schwarz

Oliver Schwarz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen.

Toralf Stark ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen.

Kristina Weissenbach ist Vertretungsprofessorin im Arbeitsbereich „Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft“ der Universität Duisburg-Essen und Forschungskoordinatorin der NRW School of Governance.

Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.


Übersetzung der Beiträge von Vittoria Meißner und David Morris: Manuel Müller.
Bilder: Ursula von der Leyen während der SOTEU: Europäische Union 2022 – Europäisches Parlament [Lizenz], via EP; Porträts Minna Ålander, Anne Goldmann, Vittoria Meißner, David Morris, Manuel Müller, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Felix Schenuit, Oliver Schwarz, Toralf Stark, Kristina Weissenbach: privat [alle Rechte vorbehalten].

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