27 September 2022

Was bedeutet die italienische Wahl für Europa? (2): Die Folgen für die Europapolitik

Wahlplakat mit dem Gesicht von Giorgia Meloni und der Aufschrift 'Pronti a risollevare l'Italia'
Im Wahlkampf versprach Giorgia Meloni, Italien wieder aufzurichten. Mit Europa hat sie weniger am Hut.

Italien hat gewählt, und eine Rechtskoalition unter Giorgia Meloni (FdI/EKR) wird die Regierung übernehmen. Im letzten Blogartikel ging es darum, wie stabil dieses Bündnis ist und wie weit es das Land wirklich nach rechts ziehen kann. Aber natürlich ist die nationale Regierung eines EU-Mitgliedstaats nicht nur für das Land selbst von Bedeutung, sondern bestimmt über den Rat auch die europäische Politik mit. Wie problematisch wird der Aufstieg der extremen Rechten in Italien für die EU?

Die Europäische Kommission reagierte auf die Wahl erst einmal mit dem ihr eigenen Phlegma gegenüber innerstaatlichen demokratischen Prozessen: Man kommentiere die Ergebnisse nationaler Wahlen grundsätzlich nicht, ließ ein Pressesprecher gestern wissen, und hoffe mit jeder gewählten Regierung konstruktiv zusammenzuarbeiten.

Das Rechtsaußen-Lager in der EU wird stärker

Ganz unbesorgt dürfte aber kaum eine Europafreund:in sein, wenn nach Polen und Tschechien künftig ein dritter Mitgliedstaat von einer Regierungschef:in der Europäischen Konservativen und Reformern (EKR) regiert wird und das Rechtsaußen-Lager in den europäischen Institutionen an Gewicht gewinnt. Und haben die drei Anführer:innen des italienischen Rechtsbündnisses – Meloni, Matteo Salvini (Lega/ID) und Silvio Berlusconi (FI/EVP) – nicht alle in der Vergangenheit schon mit der Idee eines Euro-Austritts sympathisiert?

Im Folgenden einige Sorgen, die die EU mit dem italienischen Rechtsruck verbindet – und wie realistisch sie tatsächlich sind.

Ein Euro-Austritt steht nicht auf der Agenda

Um gleich mit dem weitreichendsten Grusel-Szenario anzufangen: Die Wahrscheinlichkeit, dass Italien in den nächsten Jahren aus dem Euro oder gar der EU austritt, liegt nahe bei Null. Sicher: Italien gehörte während der europäischen „Polykrise“ um Euro, Asylpolitik und Coronapandemie in den letzten fünfzehn Jahren immer wieder zu den besonders stark betroffenen Ländern, und das Gefühl, von den anderen Mitgliedstaaten im Stich gelassen worden zu sein, ist weit verbreitet. Mit einem Euro-Austritt zu flirten, war für rechtspopulistische Oppositionsparteien eine einfache Strategie, um verbitterte und von Europa enttäuschte Wähler:innen zu erreichen.

Doch sobald die italienischen Rechtsparteien auch nur in die Nähe der Macht kamen, ließen sie diese Rhetorik immer sehr schnell wieder fallen. Denn natürlich wäre ein Euro-Austritt für eine so stark transnational verflochtene Wirtschaft wie die italienische fatal, und insbesondere FI und Lega zählen zu ihrer Wählerbasis auch zahlreiche mittelständische Unternehmer:innen, die an derlei Experimenten wenig Interesse haben. Tatsächlich reden vom Euro-Austritt in Italien derzeit nur noch Splitterparteien, von denen keine einen Sitz im Parlament errungen hat.

Routine-Reibereien in der Wirtschaftspolitik

Zudem ist Italien zwar ein europäisches Nettozahler-Land – aber auch einer der Hauptgewinner des Corona-Wiederaufbaufonds NextGenerationEU. Auch dass die Märkte der Draghi-Regierung vertrauten, kam der italienischen Wirtschaft zugute. Abrupte wirtschaftspolitische Kurswechsel wären für die Rechtsregierung deshalb mit großen Risiken verbunden. Der unmittelbar nach der Wahl sprunghaft angestiegene Spread auf italienische Staatsanleihen war in dieser Hinsicht ein erstes Warnsignal.

Ganz ohne Reibereien dürfte es zwischen der neuen Regierung und der EU in der Wirtschaftspolitik freilich auch nicht abgehen. Das Wahlprogramm der Rechtskoalition sieht zahlreiche Steuersenkungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Renten und der familienpolitischen Sozialausgaben vor – was wohl kaum ohne neue Haushaltsdefizite möglich wäre. Zudem will die neue Regierung den NextGenerationEU-Wiederaufbauplan nachverhandeln. Aber Streitigkeiten über Ausgabenprioritäten und Defizite sind Brüsseler Routine. Im Moment ist nicht absehbar, dass die Regierung Meloni gerade in diesem Bereich zu einem besonderen Problemfall für die EU würde.

Russland-Sanktionen: Uneinigkeit in der Koalition

Schon begründeter ist die Sorge, wie sich Italien hinsichtlich der EU-Sanktionen gegen Russland verhalten wird. Die italienische Wirtschaft ist energiepolitisch ähnlich abhängig von Russland wie die deutsche, und italienische Medien zeigten sich während der letzten Monate sehr anfällig für russische Desinformationskampagnen. Zudem stehen sowohl Berlusconi als auch Salvini der Putin-Regierung traditionell nahe, was Berlusconi in den letzten Wahlkampftagen durch öffentliche Verharmlosungen der russischen Aggression noch einmal eindrucksvoll unterstrich. Und auch Salvini schlingerte im Wahlkampf in Sachen Sanktionen auffällig hin und her.

Auf der anderen Seite legt Giorgia Meloni jedoch großen Wert darauf, sich im russisch-ukrainischen Krieg als Teil des Westens zu präsentieren – durchaus auf einer Linie mit ihren polnischen EKR-Partnerpartei PiS. Die Russland-Frage könnte damit zu einem ersten internen Stresstest der italienischen Rechtskoalition werden.

Angesichts der hohen internationalen Aufmerksamkeit scheint es unwahrscheinlich, dass die neue Regierung hier einen Politikwechsel vollzieht, der die Kritik der westlichen Verbündeten offen herausfordern würde. Durchaus möglich ist allerdings, dass sie bei künftigen Entscheidungen über EU-Sanktionen eher die Füße schleifen lassen wird, als die Draghi-Regierung es tat – und damit indirekt dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán (Fidesz/–) in seinem Kampf für ein Ende der Sanktionen den Rücken stärkt.

Rechtsstaatlichkeit: Angriffe auf das Justizsystem

Zum Problem dürfte die italienische Rechtsregierung auch in der europäischen Rechtsstaats- und Rechtsgemeinschaftskrise werden – also dem Doppelkonflikt zwischen der EU und einigen Mitgliedstaaten, speziell Ungarn und Polen, um die Unabhängigkeit der nationalen Justiz einerseits und den Vorrang des Europarechts andererseits.

In Italien befindet sich das nationale Justizsystem schon seit Jahren immer wieder im Blickpunkt der politischen Debatte, wobei vor allem überlange und ineffiziente Verfahren in der Kritik stehen. Erst in diesem Sommer brachte die Draghi-Regierung deshalb eine Justizreform auf den Weg. Gleichzeitig ist die italienische Justiz aber auch für ihre starke politische Unabhängigkeit bekannt: In den 1990er Jahren legten Staatsanwält:innen und Richter:innen in den Mani-pulite-Verfahren Korruption in allen großen Parteien offen, in den 2000ern verfolgten sie zahlreiche kleinere und größere Rechtsverstöße des damaligen Regierungschefs Berlusconi.

Ein neuer Verbündeter für Polen und Ungarn?

Angriffe auf das angeblich linke Justizsystem (die sogenannten „toghe rosse“) gehören deshalb zur traditionellen Rhetorik der italienischen Rechten. Sollte die neue Regierung die Justiz als Hindernis für ein „Durchregieren“ wahrnehmen, besteht die ernsthafte Gefahr, dass es hier dem ungarisch-polnischen Vorbild folgt. Zwar hat das Rechtsbündnis bei der Wahl eine Zweidrittelmehrheit verpasst, die ihr Verfassungsänderungen auch ohne Volksabstimmung ermöglicht hätte. Aber eine Justiz- und Verwaltungsreform steht jedenfalls im Wahlprogramm der Koalition.

Und auch schon kurzfristig könnte der italienische Regierungswechsel dazu führen, dass die Regierungen von Polen und Ungarn im Rechtsstaatsstreit Italien als neuen Verbündeten gewinnen. Dass der Rat sich entschlossen für die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit in allen Mitgliedstaaten einsetzt, wird damit noch ein wenig unwahrscheinlicher.

Nationale Souveränität statt europäischer Rechtsgemeinschaft

Und auch die Forderung nach einem Vorrang des nationalen gegenüber dem europäischen Recht gehört schon seit längerem zu den Standardforderungen der italienischen Rechten. Meloni selbst brachte schon 2018 im italienischen Parlament einen Gesetzesantrag ein, um die Klausel in der italienischen Verfassung zu streichen, nach der die nationalen Institutionen nur im Rahmen der „aus der gemeinschaftlichen Rechtsordnung und aus den internationalen Verpflichtungen erwachsenden Einschränkungen“ Gesetze erlassen können. Stattdessen sollten die EU-Verträge „nur insofern anwendbar sein, als sie mit den Prinzipien der Souveränität […] vereinbar sind“.

In diesem Wahlkampf griff Meloni diese Idee, dass der Vorrang des Europarechts die nationale Souveränität begrenze, erneut wiederholt auf. Und auch die Lega hatte sich bereits 2018 in ihrem Koalitionsvertrag mit dem M5S für einen Vorrang des nationalen Rechts ausgesprochen.

Im Extremfall könnte Italien in Sachen Rechtsstaatlichkeit also tatsächlich zu einem zweiten Polen werden. Sehr schnell wird es nicht dazu kommen, gerade weil die italienische Verfassung recht explizite Bindungen an das Europarecht enthält und von der neuen Regierung ohne eine Zweidrittelmehrheit im Parlament allenfalls per Referendum geändert werden könnte. Doch in welche Richtung Meloni in dieser Frage strebt, ist klar – und da Angriffe auf den Rechtsstaat und die europäische Rechtsgemeinschaft ohnehin meist schleichend erfolgen, ist es wichtig, dass die EU hier von Beginn an aufmerksam ist.

Institutionelle Reformen: Mehr Intergouvernementalismus

Und noch in einem weiteren Bereich wird sich der italienische Regierungswechsel wohl nicht mit einem großen Knall bemerkbar machen, aber umso bitterer zu spüren sein: In der Diskussion um institutionelle Reformen zur Demokratisierung der EU war Italien über viele Jahrzehnte hinweg ein zentraler Akteur.

Kaum ein Land hat eine so starke europaföderalistische Bewegung, kaum ein Land eine (wenigstens bis zur Eurokrise) so europafreundliche Öffentlichkeit. Entsprechend nahm Italien beim Einsatz für ein stärkeres Europäisches Parlament, für gesamteuropäische Europawahllisten, für eine Abschaffung von nationalen Vetorechten oder für einen größeren EU-Haushalt aus neuen Eigenmitteln immer eine Führungsrolle ein. Erst Anfang Mai sprach Mario Draghi davon, dass die EU einen „pragmatischen Föderalismus“ benötige, und forderte die Einsetzung eines Konvents zur Vertragsreform.

Von einer Regierung Meloni wird man derartige Forderungen nicht zu hören bekommen. Im Wahlprogramm verspricht die Rechtskoalition zwar ein „vollständiges Eintreten für den europäischen Integrationsprozess, mit der Aussicht auf eine politischere und weniger bürokratische EU“. Aber das dürfte vor allem als ein Code für mehr Intergouvernementalismus und eine schwächere Kommission zu verstehen sein.

Eine proeuropäische Stimme im Rat verstummt

Erst im Mai bezeichnete Meloni die Konferenz zur Zukunft Europas als „Farce“, da diese föderalistischen Ideen gefolgt sei, statt die „Basis für ein Europa zu legen, das die nationalen Identitäten mehr respektiert“. Statt sich für eine stärkere, demokratischere EU einzusetzen, dürfte die italienische Regierung wohl einem Prima-gli-italiani-Ansatz folgen und vermehrt auf die eigenen Vetorechte pochen, um das Maximum für sich selbst herauszuholen.

Kurzfristig wird die Rechtsregierung unter Giorgia Meloni für die EU wohl keinen Schock bringen. Sie wird mit sich arbeiten lassen, in konkreten Policy-Fragen wie der Migrationspolitik ihre weit rechten Positionen zu „normalisieren“ versuchen und allzu offene Konflikte vermeiden. Mittel- und langfristig aber wird dieser Regierungswechsel für den Fortschritt zur europäischen Integration zur großen Bürde werden – denn mit ihm verstummt eine der wichtigsten proeuropäischen Stimmen, die sich bis jetzt im Rat für eine demokratischere und solidarischere EU eingesetzt hat.


Was bedeutet die italienische Wahl für Europa?

  1. Die neue Regierung
  2. Die Folgen für die Europapolitik

Am Mittwoch, 28.9.2022, 18.00-19.30 Uhr, organisiert die Europa-Union Deutschland einen Online-Bürgerdialog zum Thema „Parlamentswahl in Italien – Rechtsruck als Vorbote für die Europawahl 2024?“.

Podiumsgäste sind die italienischen Senatorinnen Laura Garavini (IV/EDP) und Julia Unterberger (SVP/EVP) sowie der deutsche Bundestagsabgeordnete Axel Schäfer (SPD/SPE). Ich selbst werde moderieren.

Alle Informationen und Anmeldung hier.


Bild: Wahlplakat Giorgia Meloni: Manuel Müller.

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