- Wo das Verfassungsgericht nicht mehr unabhängig ist, kann der Vorrang des Europarechts zum letzten Anker für den Rechtsstaat werden.
Im
Vergleich mit anderen Ereignissen wie dem Brexit hat die Krise des
polnischen Justizsystems in den letzten Wochen nur recht wenig
mediale Aufmerksamkeit erfahren – und das, obwohl sie derzeit
wahrscheinlich die existenziellste Gefahr für die EU als Werte- und
Rechtsgemeinschaft darstellt. Der lange schwelende Konflikt zwischen
dem Europäischen Gerichtshof und den nationalen
Verfassungsgerichten, wer in Verfassungsfragen im Zweifel das letzte
Wort hat, ist zum ersten Mal in aller Wucht ausgebrochen. Kurzfristig
ist das dadurch entstehende rechtliche Chaos vor allem ein polnisches Problem, aber die EU-Mitgliedstaaten sind längst viel zu eng verflochten, als dass
es nicht schon bald auf den Rest der EU übergreifen könnte. Am Ende droht, wie es vor einigen Wochen im Verfassungsblog
hieß, „das Ende der Welt, wie wir sie kennen“.
Anwendungsvorrang
des Europarechts
Zum
Hintergrund: Bereits 1964
etablierte der
Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner
Costa/ENEL-Entscheidung,
dass das Unionsrecht
einen Anwendungsvorrang
vor allen nationalen Rechtsnormen, auch
nationalem Verfassungsrecht,
haben muss. Dieser
Anwendungsvorrang des Europarechts ist
heute allgemein
anerkannt. Dennoch kam es
immer wieder vor, dass nationale Gerichte Einschränkungen dieses
Prinzips zu etablieren versuchten – allen voran das deutsche
Bundesverfassungsgericht (BVerfG), aber
zum Beispiel auch das italienische Verfassungsgericht, die bereits
seit den 1970er Jahren immer wieder neue Vorbehalte gegenüber dem
Letztentscheidungsrecht des EuGH vorbrachten.
Aus rechtlicher Sicht liegt der Kern dieses Konflikts in der Frage, wie der Anwendungsvorrang des Europarechts begründet wird. Der EuGH argumentiert dabei vor allem funktionalistisch: Hätten nationale Gesetze Vorrang, so könnten Mitgliedstaaten durch einseitige nationale Gesetzgebung die gemeinsame Rechtsgrundlage unterlaufen. Der Anwendungsvorrang muss deshalb grundsätzlich unbegrenzt sein, damit nicht die
EU als Rechtsgemeinschaft
insgesamt ihren
Sinn verliert.
Die
nationalen Verfassungsgerichte hingegen leiten den Vorrang des Europarechts in der Regel aus sogenannten Öffnungsklauseln in ihren
eigenen Verfassungen ab (etwa Art. 23
des deutschen Grundgesetzes, Art. 11 der italienischen
Verfassung). Der europarechtliche Anwendungsvorrang reicht deshalb aus ihrer Sicht nur so weit, wie diese Öffnungsklauseln es
zulassen, und wird durch einen übergeordneten „Kern der nationalen Verfassungsidentität“ begrenzt.
Verfassungspluralismus
In
der Praxis verbirgt sich hinter diesem Konflikt vor allem ein Streit um das Letztentscheidungsrecht. Geht man davon aus, dass der
Anwendungsvorrang des Europarechts unbeschränkt ist, so liegt das letzte verfassungsrechtliche Wort beim Europäischen Gerichtshof, der nach Art. 19 EUV über die Auslegung des Unionsrechts entscheidet.
Akzeptiert man hingegen die nationale „Verfassungsidentität“ als Grenze, so liegt der Ball bei den nationalen Verfassungsgerichten, die die genauen Inhalte
und Reichweite dieser Identität zu interpretieren haben.
Welche dieser Auslegungen richtig ist, lässt sich mit den Mitteln der Rechtsdogmatik allein nicht beantworten. In der Rechtswissenschaft hat sich deshalb das Konzept des „Verfassungspluralismus“ etabliert: Der Zustand, in dem wir leben, ist kein strikt geordnetes Rechtssystem, sondern ein
System mit mehreren nebeneinander existierenden Verfassungsordnungen, die in keiner Hierarchie zueinander stehen. Jede von ihnen kann für sich in Anspruch nehmen, aus sich selbst heraus gültig und keiner anderen Ordnung untergeordnet zu sein.
„Dialog
der Gerichte“: eine Lösung ganz im europäischen Geist?
In einem solchen System nebeneinander existierender Rechtsordnungen ohne ein souveränes Zentrum muss die Frage nach dem letzten Wort unbeantwortet bleiben.
Die einzige Möglichkeit, dass ein solches System
funktionieren kann, besteht in der wechselseitigen Rücksichtnahme
der Gerichte. Der EuGH fällt seine Urteile so, dass möglichst kein
Mitgliedstaat sich in seiner Verfassungsidentität angegriffen fühlt.
Und die nationalen Gerichte versuchen ihren eigenen Verfassungstext
so auszulegen, dass das Europarecht damit in Einklang steht.
Tatsächlich gibt es nicht wenige Europa- und Verfassungsrechtler,
bei denen dieser Ansatz auf einige Sympathien stößt: Denn
entspricht die Überwindung von Souveränitätskonflikten durch
Verflechtung und ständigen Dialog nicht genau dem Geist der
europäischen Integration?
Tatsächlich
brachte der „Dialog der Gerichte“ in frühen Jahren einige bemerkenswerte Ergebnisse hervor, die Grund- und Menschenrechte auf
europäischer Ebene stärkten. Vor allem die sogenannte Solange-Rechtsprechung ragt dabei als Positivbeispiel hervor: In einem Urteil von 1974 kritisierte das deutsche BVerfG das Fehlen eines europäischen Grundrechtsschutzes und behielt sich deshalb vor, europäische Rechtsakte, die den deutschen Grundrechten widersprachen, für unanwendbar zu erklären. Der EuGH reagierte
darauf, indem er in den nächsten Jahren eine eigene europäische Grundrechtssprechung entwickelte. Daraufhin revidierte das BVerfG in einem Urteil von 1986 seine frühere Linie und verzichtete auf den vorher vorgebrachten Vorbehalt.
Die Bandagen werden härter
In jüngeren Jahren nahmen diese Dialoge allerdings einen zunehmend rauen Tonfall an. Zum einen beschränkte sich das BVerfG anders als bei den Solange-Urteilen zuletzt nicht mehr nur auf die Verteidigung fundamentaler Grundrechte, sondern versuchte den EuGH 2014 beispielsweise auch
bei der Bewertung geldpolitischer Entscheidungen der EZB mithilfe
kaum verhohlener Drohungen fernzusteuern.
Zum anderen begannen die nationalen Verfassungsgerichte, auch auf einer pragmatischen Ebene von den Ergebnissen des EuGH abzuweichen. In früheren Konflikten hatten sie ihm zwar auf einer rechtsdogmatischen Ebene widersprochen, für den Einzelfall aber jeweils Argumente gefunden, um mit einer anderen Begründung doch zu demselben Ergebnis zu kommen. Als etwa das BVerfG im Solange-I-Urteil für sich in Anspruch nahm, europarechtliche Normen an den deutschen Grundrechten zu prüfen, kam es im spezifischen Fall dann eben doch zu dem Schluss, dass die inkriminierte Norm mit den deutschen Grundrechten durchaus vereinbar war.
Seit einigen Jahren wurden die Bandagen jedoch härter. Ende 2015 ging das BVerfG im Fall Europäischer Haftbefehl II einem offensichtlichen Konflikt nur dadurch aus dem Weg, dass es dem EuGH den Fall schlicht nicht vorlegte – obwohl dieser in einem ähnlich gelagerten Fall schon einmal gegenteilig entschieden hatte. Anfang 2017 weigerte sich das italienische Verfassungsgericht im Fall Taricco, ein EuGH-Urteil anzuerkennen, und legte dem Europäischen Gerichtshof den Fall erneut vor; der Schlagabtausch endete letztlich damit, dass der EuGH, wenn auch mit fundamental anderer Begründung, das vom Verfassungsgericht gewünschte Ergebnis akzeptierte. Noch drastischer verhielt sich schließlich das dänische Verfassungsgericht, das Ende 2016 im Fall Ajos ein EuGH-Urteil in Bausch und Bogen für unanwendbar erklärte.
Ein
Schönwetter-Ansatz
Schon diese Entwicklungen ließen erkennen, dass es sich beim Verfassungspluralismus – so reizvoll die Idee des „Dialogs der Gerichte“ auch ist – um einen Schönwetter-Ansatz handelt. Immerhin ging es in den genannten Fällen um Angelegenheiten, die nur einen begrenzten Personenkreis betrafen und
deren unmittelbare Tragweite für das politische Gesamtsystem sich in Grenzen hielt. Doch wie schon damals auf diesem Blog zu lesen war, schufen sie
gefährliche Präzedenzfälle:
Denn man muss sich nur vor Augen halten, dass es das nächste Mal nicht mehr um Dänemark und Italien gehen könnte, sondern um Polen und Ungarn: um Länder also, in denen die nationalen Regierungen in den letzten Jahren einiges daran gesetzt haben, um sich die nationalen Verfassungsgerichte gefügig zu machen. Die Möglichkeit, sich künftig durch den Verweis auf diesen oder jenen „Kernbestandteil der nationalen Verfassungsidentität“ vor der Einhaltung von Europarecht drücken zu können, dürfte für die Viktor Orbáns und Jarosław Kaczyńskis des Kontinents durchaus eine willkommene Perspektive sein.
Polen: Unterwerfung der Justiz durch die Regierung
Und
damit zur Lage in Polen heute. Seit die rechtskonservative PiS (EKR)
Ende 2014 die Regierungsmacht übernommen hat, versucht sie
bekanntlich mit großer Zielstrebigkeit, das Justizsystem nach ihren
Vorstellungen umzuformen. Nachdem bis 2017 das Verfassungsgericht
entmachtet und mit regierungsnahen Richtern besetzt worden war, folgten
weitere Justizreformen, um die Kontrolle über die ordentliche
Gerichtsbarkeit auszuweiten.
Insbesondere
werden die Mitglieder des Landesjustizrats, der für die Ernennung
von Richtern zuständig ist, seit März 2018 durch
das Parlament gewählt und damit parteipolitisch auf Linie gebracht.
Außerdem wurde eine neue Disziplinarkammer beim Obersten Gericht
eingerichtet, um die Richter der ordentlichen Gerichte zu überwachen.
Die Mitglieder dieser Disziplinarkammer wiederum wurden vom
Landesjustizrat nominiert und sind dadurch ebenfalls eng mit der PiS
verbunden.
Der
EuGH kommt ins Spiel
Diese
Maßnahmen stießen allerdings auf Gegenwehr in den übrigen Kammern
des Obersten Gerichts, dessen Richter größtenteils noch vor der
Machtübernahme der PiS ernannt wurden und nun um ihre Unabhängigkeit
fürchten. Sie wandten sich deshalb an den EuGH, der in einer
Vorabentscheidung die Europarechtmäßigkeit der Disziplinarkammer
überprüfen sollte.
Im
November 2019 fällte dieser ein Urteil (Zusammenfassung,
Wortlaut),
das es in sich hatte. Er
bekräftigte darin zunächst, dass die Verfahren zur Ernennung von
Richtern zwar grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten seien, diese
dabei aber eine europarechtliche Pflicht haben, die Unabhängigkeit
und Unparteilichkeit der Gerichte sicherzustellen (Rn. 114ff.). Ob
diese Unabhängigkeit im Fall der Disziplinarkammer gegeben ist,
beantwortete der EuGH selbst nicht, schon weil das
Vorabentscheidungsverfahren ihm nur eine verbindliche Auslegung des
Unionsrechts, kein Urteil im Einzelfall erlaubt (Rn. 132).
Unabhängigkeit
der Gerichte als europarechtliche Pflicht
Die formale Überprüfung des Einzelfalls blieb deshalb dem polnischen Obersten Gericht überlassen, das den Fall vorgelegt hatte. Allerdings entwickelte der EuGH eine Reihe von Kriterien, woran sich die Unabhängigkeit eines Gerichts messen lässt – und ließ wenig Zweifel offen, dass die polnische Disziplinarkammer diese Kriterien nicht erfüllte (Rn. 142ff.). Um auch wirklich keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, führte der EuGH abschließend noch einmal explizit aus, dass das Prinzip der gerichtlichen Unabhängigkeit vom Vorrang des Unionsrechts gedeckt ist (Rn. 155ff.). Eine nationale Vorschrift, die eine Rechtssache einem nicht-unabhängigen Gericht überträgt, ist deshalb nicht anwendbar, und jedes andere nationale Gericht hat die europarechtliche Pflicht, das im Rahmen seiner eigenen Befugnisse sicherzustellen (Rn. 164ff.).
Das polnische Oberste Gericht kam dieser Pflicht bereitwillig nach: In einem Beschluss
vom 23. Januar 2020 stellte es fest, dass der Landesjustizrat nicht politisch unabhängig ist. Sämtliche Urteile von Richtern, die vom Landesjustizrat ernannt wurden, könnten deshalb aufgehoben werden, wenn das Ernennungsverfahren Zweifel an der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Gerichts aufkommen
lasse. Die neue Disziplinarkammer aber sei insgesamt kein unabhängiges Gericht und von ihr verhängte Urteile von vornherein nichtig.
Das
„Maulkorb-Gesetz“
Gegen diesen Beschluss des Obersten Gerichts wandte sich die Disziplinarkammer an das (regierungshörige) Verfassungsgericht, das den Beschluss mit einer einstweiligen Verfügung als verfassungswidrig aussetzte. Eine endgültige Entscheidung soll am 19. Februar fallen. Bis dahin bleibt die Disziplinarkammer erst einmal aktiv: Am 4. Februar verhängte sie Sanktionsmaßnahmen gegen Paweł Juszczyszyn, der zuvor als Richter in einem Berufungsverfahren unter Verweis auf das EuGH-Urteil die Unabhängigkeit des Richters der ersten Instanz angezweifelt hatte, da dieser vom neuen Landesjustizrat ernannt worden war.
Und auch auf politischer Ebene blieb die PiS nicht untätig. Begleitet von heftigen verbalen Ausfällen – im Januar erklärte Staatspräsident Andrzej Duda, die EU versuche „uns in fremden Sprachen das politische System aufzuzwingen, das wir in Polen haben sollen“ – beschloss die regierungstreue Parlamentsmehrheit im Dezember 2019 ein neues Richter-Disziplinierungsgesetz, das es polnischen Richtern explizit verbietet, die Rechtmäßigkeit anderer polnischer Gerichte in Frage zu stellen. Da sich der von der demokratischen Opposition kontrollierte polnische Senat gegen dieses „Maulkorb-Gesetz“ stellte, verzögerte sich seine Verabschiedung bis Ende Januar. Anfang Februar wurde es jedoch von Präsident Duda unterzeichnet, sodass es noch im Februar in Kraft treten wird.
Ende des Dialogs: Offener Konflikt der Justizsysteme
Im Ergebnis gibt es damit in Polen nunmehr zwei konkurrierende, sich offen widersprechende Justizsysteme. Geht es nach dem EuGH und dem Obersten Gericht, so ist die Disziplinarkammer nicht unabhängig und deshalb auch kein legitimes Rechtsprechungsorgan. Geht es nach der Regierung und dem Verfassungsgericht, so handelt es sich bei der Disziplinarkammer um ein reguläres Gericht der polnischen Rechtsordnung.
Mehr
noch: Nach dem EuGH hat jeder nationale Richter die Pflicht, im Rahmen seiner Befugnisse die Unabhängigkeit anderer Gerichte zu überprüfen. Das „Maulkorbgesetz“ hingegen stellt genau diese Überprüfung unter Strafe. Jeder Richter muss sich nun entscheiden, welchem Justizsystem er Folge leisten will – von einem pluralistischen „Dialog der Gerichte“ kann hier keine Rede mehr sein.
Zwangsgeld als nächste
Eskalationsstufe
Und wie geht es nun weiter? Noch besteht eine gewisse Chance, dass die polnische Regierung in nächster Zeit doch noch einlenkt. Im Mai findet die polnische Präsidentschaftswahl statt, und in den Umfragen ist Dudas Vorsprung für die Stichwahl (voraussichtlich gegen Małgorzata Kidawa-Błońska, PO/EVP) keineswegs komfortabel. Falls die europafreundliche öffentliche Stimmung in Polen es opportun erscheinen lässt, könnte die Regierung deshalb vorerst zurückstecken. Allzu große Hoffnungen, dass das zu einer dauerhaften Lösung führt, sollte man
sich jedoch nicht machen.
Zu
erwarten ist eher eine weitere Eskalation, die sich in Grundzügen
bereits abzeichnet. Schon im Januar beantragte
die Europäische Kommission vor dem EuGH eine einstweilige Verfügung
gegen die weitere Aktivität der polnischen Disziplinarkammer.
Erwartet wird, dass der EuGH gegen Polen ein Zwangsgeld für jeden
Tag verordnet, solange die Disziplinarkammer nicht ihre Tätigkeit
einstellt. Auch gegen das jetzt in Kraft tretende „Maulkorbgesetz“
dürfte es ein neues Vertragsverletzungsverfahren geben, das mit
einem neuen Zwangsgeld verbunden sein könnte. Diese Zwangsgelder
könnten rasch empfindliche Summen erreichen. Sollte die polnische
Regierung sich weigern zu bezahlen, könnten sie nach herrschender
Meinung auch mit Zahlungen der EU verrechnet werden, etwa aus
Strukturfonds-Mitteln.
Problematisch
ist daran allerdings, dass die Strukturfonds-Mittel ja keine
Geldgeschenke sind, sondern eigentlich dazu dienen, von der EU
gewünschte Projekte umzusetzen. Kürzt die EU diese Zahlungen, so
schadet das zweifellos der polnischen Regierung – aber auch den
wirtschafts-, infrastruktur- und sozialpolitischen Zielen der EU
selbst.
Auf
dem Weg zum faktischen EU-Austritt?
Daneben
gibt es aber noch einen weiteren Hebel, der die polnische Regierung
unter Druck setzen könnte: Das EuGH-Urteil von November verpflichtet
ja nicht nur die polnischen Gerichte, sondern auch diejenigen aller
übrigen Mitgliedstaaten, im Umgang mit dem polnischen Justizsystem
künftig für jeden Einzelfall zu prüfen, ob ein polnisches Gericht
als unabhängig gelten kann. Die Gerichte anderer Mitgliedstaaten
könnten künftig also beginnen, polnische Urteile nicht mehr
anzuerkennen, polnischen Auslieferungsgesuchen nicht mehr
nachzukommen und allgemein die Zusammenarbeit mit der polnischen
Justiz zu verweigern.
Dadurch
entstünde eine Rechtsunsicherheit, die mittelfristig zu massiven
Störungen in den grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen
führen könnte. Der europäische Binnenmarkt als Ganzes, vor allem
aber die polnische Wirtschaft würde in Mitleidenschaft gezogen. Dass
die polnische Regierung einen solchen Zustand dauerhaft durchhält,
ist unwahrscheinlich. Zuletzt würde sie wohl entweder nachgeben oder
einen formalen EU-Austritt des Landes in die Wege leiten (der sich im
Justizsystem ja faktisch bereits vollzogen hätte).
Politische
Mechanismen zum Rechtsstaatsschutz haben versagt
Es
ist also sehr wahrscheinlich, dass der aktuelle Konflikt noch nicht
den Höhepunkt an Eskalation und Chaos in der Causa Polen darstellt.
Eine Lehre aber lässt sich schon jetzt ziehen: Wenn es darum geht,
die Rechtsstaatlichkeit in den EU-Mitgliedstaaten zu sichern, ist der
Europäische Gerichtshof noch der zuverlässigste und stärkste
Akteur.
Dass
autoritäre Regierungen mit ausreichend Beharrlichkeit und bösem
Willen ihre nationalen Verfassungsgerichte unterwerfen können, hat
die Erfahrung der letzten Jahre schmerzhaft gezeigt. Zugleich haben
auch die politischen Schutzmechanismen auf EU-Ebene, insbesondere das
Artikel-7-Sanktionsverfahren,
kläglich versagt.
Selbst jetzt ist es noch unwahrscheinlich, dass sich unter den
Regierungen der Mitgliedstaaten auch nur die
nötige Vier-Fünftel-Mehrheit
findet, um nach Art.
7 Abs. 1 EUV in Polen die „eindeutige Gefahr einer
schwerwiegenden Verletzung der [EU-]Werte“ festzustellen – von
der für Sanktionen nach Art. 7 Abs. 2 EUV nötigen Einstimmigkeit
gar nicht zu reden.
Nur der
EuGH ist handlungsfähig
Der
Europäische Gerichtshof hingegen hat sich handlungsfähig und
willens gezeigt, konkrete Maßnahmen zur Verteidigung der
Rechtsstaatlichkeit in Polen zu ergreifen. Ob diese Maßnahmen
zuletzt erfolgreich sind, muss sich erst noch zeigen. Aber es ist das
Entschiedenste, ja fast das Einzige an Gegenwehr, was die EU der
inneren Erosion ihrer Grundwerte bislang entgegenzusetzen hatte.
Dass
autoritäre Regierungen und ihre Verfassungsgerichte sich gegen diese
Maßnahmen des EuGH wehren, sie als Einmischung in die nationale
Souveränität und Demokratie bezeichnen und dagegen Stimmung zu
machen versuchen, ist dabei wohl unvermeidlich. Was die Stellung des
EuGH im Kampf um die Rechtsstaatlichkeit unnötig schwächt, ist
jedoch, dass auch die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten
immer wieder seine Autorität untergraben, indem sie Urteile des EuGH
in Zweifel ziehen oder gar offen zurückweisen.
Verfassungspluralismus
überwinden?
Sollte
man also den Verfassungspluralismus überwinden und den Grundsatz
„Europarecht bricht nationales Recht“ rechtlich eindeutig
verankern – und zwar möglichst nicht nur im europäischen
Vertragsrecht (wie das 2004 in Art. I-6 des EU-Verfassungsvertrags
vorgesehen war), sondern auch in den Verfassungen aller
EU-Mitgliedstaaten?
Klar ist, dass eine rechtliche Änderung allein nicht genügt: Wenn es wie jetzt in Polen hart auf hart kommt, ist vor allem die faktische Loyalität der einzelnen Richter, Verwaltungsbeamten, Bürger entscheidend. Klar ist aber auch, dass diese Loyalität zur EuGH-Rechtsprechung nicht zuletzt aus einer Praxis entsteht, in der die Autorität des EuGH allgemein anerkannt ist und nicht durch einen inflationären Verweis auf nationale „Verfassungsidentitäten“ in Frage gestellt wird.
Derweil in Karlsruhe
Übrigens: Im März soll passenderweise auch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts verkündet werden, in dem es
um Anleihenkäufe durch die Europäische Zentralbank, das sogenannte
PSPP-Programm, geht. In einer Vorabentscheidung hat der EuGH dieses
Programm 2018 für rechtskonform erklärt – eine Entscheidung, an der die
deutschen Verfassungsrichter während der mündlichen Verhandlung unmissverständliche Kritik übten.
Kommt
es nun also zum großen Knall über die rechtliche Bewertung der
Währungspolitik der EZB? Oder nutzen die Karlsruher Richter die
Gelegenheit, um einige deutliche Worte der Anerkennung für die
Stellung des EuGH in der Rechtsgemeinschaft zu finden? Man darf
gespannt sein.
Bild: Adrian Grycuk [CC BY-SA 3.0 PL].
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