31 Januar 2020

Warum gerade Großbritannien? Historische Überlegungen aus Anlass des Brexit

47 Jahre und einen Monat war das Vereinigte Königreich Mitglied der EU. Und hörte doch niemals auf, ein Außenseiter zu sein.
Nun ist es also so weit: Heute Abend um 23 Uhr britischer Zeit (Mitternacht in Brüssel) tritt das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus. Für die EU ist das ein trauriges, aber verkraftbares Ereignis, für das Vereinigte Königreich selbst wohl erst der Anfang einer langen und schwierigen außen- und innenpolitischen Selbstfindungsphase. Die Hauptleidtragenden sind, wie so oft, keine staatlichen Entitäten, sondern einzelne Menschen – besonders all jene Europäerinnen und Europäer, die heute gegen ihren Willen und nur aufgrund ihres britischen Passes ihre Unionsbürgerschaft verlieren.

Auffällig am Brexit ist aber auch, dass entgegen den Voraussagen vieler Europaskeptiker und trotz der zahlreichen Krisen und Probleme der EU wenigstens bis jetzt kein Land sich anschickt, einen ähnlichen Weg zu gehen. Auch wenn viele der Brexiteer-Argumente – die Kritik an der „undemokratischen Fremdherrschaft“, die Verweigerung grenzüberschreitender finanzieller Umverteilung, die Sorge vor „Sozialtourismus“ durch die europäische Freizügigkeit – durchaus auch in anderen Mitgliedstaaten präsent sind, erreichten sie nur im Vereinigten Königreich jene Intensität, die letztlich zum Referendum von 2016 führte.

Was also ist schiefgegangen in den fast fünf Jahrzehnten, die das Vereinigte Königreich der EU angehörte? Und lässt sich daraus etwas für die Zukunft lernen?

Großbritannien, Wiege des überstaatlichen Föderalismus

Es mag aus heutiger Sicht paradox erscheinen, aber noch vor hundert Jahren war die Idee einer überstaatlichen Integration in wenigen Ländern so präsent wie in Großbritannien. 1938 gründete eine Gruppe um Lionel Curtis und Philipp Kerr (Lord Lothian) die Federal Union, nach der Schweizer Europa-Union die älteste Mitgliedsorganisation der heutigen Union Europäischer Föderalisten. Hauptziel der Federal Union bildete ein demokratischer Weltstaat, der aus ihrer Sicht unverzichtbar für eine dauerhafte Friedensordnung war. Als Vorstufe dazu setzten sie sich für eine demokratische Neuordnung des britischen Commonwealth ein – und für ein föderales Europa.

Anders als in anderen Ländern führte der Zweite Weltkrieg in Großbritannien allerdings nicht zu einer Ausbreitung dieser Ideen. Während etwa in Italien und Frankreich die Erfahrung der deutschen Besatzung bei vielen Menschen zu der Überzeugung führte, dass nur ein vereintes Europa gegen die Barbarei half, herrschte in Großbritannien nach der Battle of Britain eher das Bewusstsein vor, als Nation alleine einem übermächtigen Feind widerstanden zu haben.

Winston Churchill: für Europa, gegen Supranationalismus

Als sich der britische Oppositionschef und vormalige Premierminister Winston Churchill (Cons.) 1946 in seiner berühmten Züricher Rede für „eine Art Vereinigte Staaten von Europa“ aussprach, meinte er damit deshalb vor allem eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Die Briten hingegen hätten bereits „unser eigenes Commonwealth“, sodass Churchill sie nicht als Teil, sondern als „Freunde und Unterstützer des neuen Europas“ sah.

Die Wahrung der eigenen nationalen Souveränität spielte deshalb in der britischen Europapolitik schon frühzeitig eine zentrale Rolle: Churchill selbst regte 1947 die Gründung des United Europe Movement an, das sich für eine stärkere zwischenstaatliche Zusammenarbeit, aber explizit gegen nicht für einen europäischen Bundesstaat aussprach – und zog damit den Groll von Föderalisten wie Altiero Spinelli auf sich. Zum großen politischen Erfolg des UEM wurde die Gründung des Europarats 1949. Großbritannien beteiligte sich daran, achtete dabei jedoch strikt darauf, dass der Europarat keine eigenen überstaatlichen Kompetenzen erhielt.

Keine Beteiligung an den Europäischen Gemeinschaften

Als es mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren dann doch noch zur supranationalen Integration kam, war Großbritannien daran hingegen nicht beteiligt. Die sechs Gründerstaaten der EG – Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxländer – versprachen sich von der Zusammenlegung von Souveränitätsrechten teils neue Handlungsspielräume und politische Anerkennung (so vor allem die im Zweiten Weltkrieg besiegten Deutschland und Italien), teils die Aussicht auf ein dauerhaftes System von Frieden und Sicherheit (so vor allem die im Zweiten Weltkrieg überfallenen Frankreich und Benelux).

In Großbritannien hingegen sorgte sich die Labour-Regierung unter Clement Attlee, dass die europäische Montanunion zu einem Hindernis für ihre eigene Politik einer Verstaatlichung der Kohle- und Stahlindustrie werden könnte. Und unter Churchills Konservativen, die 1951 an die Regierung zurückkehrten, spielte nach wie vor das spät-imperiale britische Selbstverständnis als eigenständige Weltmacht eine zentrale Rolle.

Die gescheiterte Freihandelszone

Als Gegenmodell zu den supranationalen Gemeinschaften setzte sich Großbritannien in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre deshalb für die Gründung einer großen gesamteuropäischen Freihandelszone ohne tiefergehende politische Integration ein. Dieser Vorschlag hatte auch in Kontinentaleuropa durchaus Sympathisanten. In der deutschen Bundesregierung etwa musste Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) 1956 von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen, um Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) und Atomminister Franz-Josef Strauß (CSU) auf die Linie einer Integration im kleinen, aber supranationalen Rahmen der „Sechs“ einzuschwören.

Letztlich aber setzten sich die Befürworter der supranationalen Methode durch: 1952 nahm die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1958 die Europäische Atomgemeinschaft und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ihre Arbeit auf, aus der später die Europäische Union entstand. Die britischen Bemühungen hingegen führten 1960 nur zur Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) mit Dänemark, Norwegen, Schweden, Portugal, Österreich und der Schweiz.

Kurswechsel und französisches Veto

Dieser geografisch heterogene Staatenbund verlor für Großbritannien jedoch schnell an Interesse, auch weil die ökonomisch erfolgreichen EG-Länder faktisch viel wichtigere Handelspartner waren. Als zudem das Ende des British Empire eine nicht mehr zu leugnende Realität wurde, änderte der konservative Premierminister Harold MacMillan schließlich Kurs und stellte am 10. August 1961, weniger als zwei Jahre nach Gründung der EFTA, einen Beitrittsantrag zu den Europäischen Gemeinschaften.

Die darauf folgenden Verhandlungen gerieten jedoch rasch unter einen schlechten Stern. Innerhalb von Großbritannien unterstützte nur eine Minderheit der Bevölkerung den Beitritt, die oppositionelle Labour Party warnte vor dem Verlust der nationalen Unabhängigkeit, und zahlreiche Lobbygruppen drängten darauf, dass vor einem Beitritt erst das EG-Recht geändert werden müsse, um britischen Interessen besser gerecht zu werden. Auf EG-Seite wiederum hielt sich die Bereitschaft zu solchen Anpassungen in Grenzen. Vor allem aber sah der französische Präsident Charles de Gaulle eine britische Mitgliedschaft als Bedrohung für die von ihm angestrebte französische (bzw. französisch-deutsche) Führungsrolle innerhalb der EG: Im Januar 1963 legte er ein Veto gegen den Beitritt ein.

Der Beitritt 1973

In Großbritannien verschlechterte sich unterdessen die wirtschaftliche Lage zusehends – was schließlich auch den 1964 gewählten Labour-Premierminister Harold Wilson trotz der EG-skeptischen Grundhaltung seiner Partei dazu brachte, 1967 einen erneuten Beitrittsantrag zu stellen. Dieser zweite Anlauf blieb zunächst jedoch ebenso erfolglos wie der erste. Erst nachdem De Gaulle 1969 zurückgetreten war, gab Frankreich den Weg für neue Verhandlungen frei.

Am Ende war es deshalb der 1970-1974 amtierende konservative Premierminister Edward Heath, der das Vereinigte Königreich am 1. Januar 1973 in die Europäischen Gemeinschaften führte. Die etwas verbesserte wirtschaftliche Lage und die inzwischen weitgehend europafreundliche Haltung der Conservative Party erlaubten es Heath, sich in den Beitrittsverhandlungen auf Kompromisse einzulassen. Zugleich hatte auch die große Debatte um die Supranationalität Anfang der 1970er scheinbar an Bedeutung verloren: Da auch Frankreich seit De Gaulle eher auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit setzte, schienen tiefgreifende Integrationsschritte erst einmal ohnehin nicht auf der Tagesordnung zu stehen.

Das erste Austrittsreferendum

Dennoch löste der Beitritt in Großbritannien erst einmal erbitterten politischen Streit aus: Die Labour Party, europapolitisch tief gespalten, hatte sich bereits 1971 auf eine Volksabstimmung über die EG-Mitgliedschaft festgelegt. Nach ihrer Rückkehr an die Regierung kam es deshalb 1975 zum ersten britischen Austrittsreferendum – zugleich das erste Referendum in der britischen Geschichte überhaupt. Im Abstimmungskampf warnten die mehrheitlich konservativen Europabefürworter vor politischer Isolation und wirtschaftlichem Niedergang, während die linken Europaskeptiker Souveränitätsverlust und einen Ausverkauf von Arbeiterinteressen anprangerten. Am Ende setzte sich das proeuropäische Lager deutlich mit über 67 Prozent der Stimmen durch.

Diese erste Referendumsdebatte zeigte jedoch bereits ein Muster, das die europapolitische Debatte in Großbritannien seitdem dauerhaft prägte: Anders als in anderen Ländern stellten die Integrationsfreunde die europäische Einigung weniger als eine Chance und ein zukunftsgerichtetes Identifikationsangebot dar, sondern betonten vor allem die negativen Konsequenzen eines Austritts – während die positive Botschaft im Wesentlichen darin bestand, dass die Kosten der Mitgliedschaft (finanziell und in Bezug auf die nationale Souveränität) schon nicht so schlimm ausfallen würden, wie von den Gegnern vorausgesagt. Für die künftige britische Europapolitik wurde das zu einer Hypothek, da jeder spätere Integrationsschritt, jede Erweiterung des EU-Budgets als Beleg erscheinen konnten, dass die britische Bevölkerung über die Bedeutung der Mitgliedschaft getäuscht worden war.

Thatcher und der „Britenrabatt“

Und natürlich ließen neue Konflikte nicht lang auf sich warten. Die Hauptursache wurde die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), also jener Politikbereich, in dem die EG mit Abstand am meisten Geld umverteilte. Agrarprodukte der reicheren nördlichen Mitgliedstaaten (v.a. Milch, Butter) wurden dabei tendenziell stärker gefördert als solche der ärmeren südlichen (v.a. Obst). Dies führte dazu, dass vor dem britischen Beitritt die Landwirte jedes Mitgliedstaats von der GAP etwa zu demselben Anteil profitierten, der den finanziellen Beiträgen des Landes zum EG-Haushalt entsprach.

Da Großbritannien jedoch kaum über Landwirtschaft verfügte, funktionierte dieses faktische Juste-retour-Prinzip nun plötzlich nicht mehr; das Land wurde zum großen Nettozahler des EG-Haushalts. Auch der 1975 eingerichtete Regionalfonds EFRE, der strukturschwachen Regionen zugute kam, wie es sie in der EG damals außer in Italien vor allem im Vereinigten Königreich gab, konnte dies nur teilweise kompensieren.

In den Mittelpunkt rückte diese Frage unter der Konservativen Margaret Thatcher, die 1979 Premierministerin wurde und einen neuen, kompromissloseren Stil in die britische Politik einführte. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre sorgte Thatcher dafür, dass die British Budget Question alle anderen Vorhaben der EG in den Schatten stellte. Vorläufig beigelegt wurde der Streit darüber erst auf dem Gipfel von Fontainebleau im Sommer 1984 durch den sogenannten „Britenrabatt“, eine Absenkung des britischen Beitrags an den EG-Haushalt.

Gegen den sozialistischen europäischen Superstaat

Die Einigung von Fontainebleau erlaubte es der EG, neue Vertiefungsschritte voranzubringen. 1985 lancierte der neu ernannte Kommissionspräsident Jacques Delors (PS/BSPEG) das Binnenmarktprojekt, um den Handel innerhalb der EG zu erleichtern. Um die damit verbundene Gesetzgebungsagenda zu erleichtern, beschlossen die Mitgliedstaaten in der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 für diesen Bereich die Abschaffung nationaler Vetorechte – eine Entwicklung, die Thatcher zwar skeptisch sah, aber akzeptierte, da die damit verbundene handelspolitische Zielsetzung ihren eigenen politischen Überzeugungen entsprach.

Doch schon bald nach Verabschiedung der Einheitlichen Akte drängten zahlreiche europäische Akteure auf weitere Integrationsschritte: Das Europäische Parlament forderte eine Demokratisierung der EG und mehr eigene Kompetenzen, Delorsʼ Kommission und die französische Regierung unter François Mitterrand (PS/BSPEG) eine Währungsunion und einen Ausbau der europäischen Sozialpolitik.

Für Thatcher waren diese Vorschläge gleich doppelt inakzeptabel, bedrohten sie doch nicht nur die nationale Souveränität, sondern auch die harten wirtschaftsliberalen Reformen, die ihre Regierung in Großbritannien durchsetzte. Sozialisten und europäische Föderalisten wurden zum gemeinsamen Feindbild der Premierministerin. In einer berühmt gewordenen Rede vor dem Europa-Kolleg in Brügge fasste sie im Herbst 1988 ihre europapolitische Haltung zusammen:
„Wir haben nicht in Großbritannien die Grenzen des Staates erfolgreich zurückgezogen, nur um sie auf europäischer Ebene wiedereingeführt zu sehen, mit einem europäischen Superstaat, der eine neue Herrschaft aus Brüssel ausübt.“

Im diplomatischen Abseits

Tatsächlich sah es zum Zeitpunkt der Brügge-Rede durchaus so aus, als ob Thatcher mit ihrem Widerstand gegen jegliche neuen Integrationsvorschläge Erfolg haben könnte. Im November 1989 änderte jedoch der Fall der Berliner Mauer die politischen Rahmenbedingungen: Um die deutsche Wiedervereinigung europapolitisch einzubetten, einigten sich die deutsche und die französische Regierung rasch auf das Ziel einer großen Vertragsreform und waren nun bereit, dafür beträchtliches politisches Kapital einzusetzen.

Thatcher hingegen geriet immer mehr in die diplomatische Isolation, wobei auch der Umstand nicht half, dass sie und ihr Umfeld ein tiefes Misstrauen gegenüber den machtpolitischen Ambitionen Deutschlands hegten. Im Juli 1990 beschrieb der Thatcher-nahe Handelsminister Nicholas Ridley die geplanten Integrationsschritte in einem Interview als eine „deutsche Hinterlist, um ganz Europa zu übernehmen“. Auch wenn Ridley daraufhin zurücktreten musste, gingen viele Zeitgenossen davon aus, dass dies auch der Sicht der Premierministerin entsprach.

Spaltung der Conservative Party

Die eskalierende Europafeindlichkeit Thatchers blieb nicht ohne Folge für die öffentliche Debatte in Großbritannien. Um 1990 war die Conservative Party tief gespalten zwischen der alten, gemäßigt-europafreundlichen Garde um Ex-Premier Heath und Thatchers ehemaligen Verteidigungsminister Michael Heseltine auf der einen und der Thatcher-nahen, tief europaskeptischen „Brügge-Gruppe“ auf der anderen Seite. Hinzu kam die Boulevard-, aber auch die konservative Qualitätspresse, in der massive, teils verschwörungstheoretisch oder rassistisch grundierte Vorwürfe gegen die EG-Institutionen und die integrationsfreudigeren Mitgliedstaaten gängig wurden.

Der parteiinterne Streit um die Europapolitik war letztlich auch ein zentraler Grund für die Abwahl Thatchers im Herbst 1990. Ihr Nachfolger John Major versuchte durch Pragmatismus die Wogen zu glätten: Statt ein Veto gegen die Vertragsreform einzulegen, setzte er auf eine „Opt-out“-Regelung, durch die Großbritannien sich an den umstrittensten Neuerungen – der Währungsunion und dem Sozialprotokoll – nicht beteiligten musste. Nach dem entscheidenden Gipfel von Maastricht beschrieb er das Ergebnis als „Spiel, Satz und Sieg für Großbritannien“.

Lösungsansatz Opt-out?

Letztlich jedoch verfehlten die Opt-outs – zu denen später noch weitere, etwa für die Schengen-Verordnung, hinzukommen sollten – ihre erhoffte Wirkung. Auf der einen Seite konnten sie die Conservative Party europapolitisch nicht befrieden. Die Ratifikation des Maastrichter Vertrags gelang Major nur äußerst knapp, und es kam zu europaskeptischen Parteigründungen wie der Anti-Federalist League (1991, ab 1993 UK Independence Party) oder der Referendum Party (1994-1997).

Auf der anderen Seite unterstrichen die Opt-outs aber auch die öffentliche Wahrnehmung der britischen Rolle als Außenseiter in der EG. Eine positive Vision trat in der Maastricht-Debatte kaum zutage – auch die Befürworter des Vertrags beschrieben die europäische Einigung vor allem als ein Projekt, an dem man sich beteiligen musste, um nicht in der außenpolitischen Isolation zu landen. Ebenso wie zuvor der Britenrabatt erschienen die Opt-outs deshalb als eine Art Schadensbegrenzung bei einem Unterfangen, das für Großbritannien wenig echten Nutzen zu bieten schien und dessen Auswirkungen auf das eigene Land man deshalb möglichst klein zu halten versuchte.

New Labour

Dieses Selbstverständnis änderte sich auch nicht grundsätzlich, als 1997 Tony Blair die Regierungsmehrheit für die Labour Party zurückeroberte. Deren europapolitische Linie war in der Zwischenzeit zwar sehr viel europafreundlicher geworden – teils aus Antagonismus zu Thatchers Europafeindlichkeit, teils durch den Druck der proeuropäischen Social Democratic Party, die sich 1981 abgespalten hatte und 1988 mit den Liberalen fusionierte. Die links-nationalistische Haltung, die die Partei lange Zeit geprägt hatte, wurde mit Tony Blairs sozialliberalem New-Labour-Projekt stark in den Hintergrund gedrängt.

In einigen Fragen entwickelte Blair sogar eine progressive Europapolitik, die über andere Mitgliedstaaten hinausging – etwa als Großbritannien nach der Osterweiterung 2004 seinen Arbeitsmarkt sofort für die neuen Unionsbürger öffnete, während Deutschland, Frankreich und andere auf langen Übergangszeiten beharrten. Die Vertragsreformen von Amsterdam über Nizza bis Lissabon, die die EU während der Amtszeit Blairs und seines Nachfolgers Gordon Brown umsetzte, stießen bei der Labour-Mehrheit im Parlament auf sehr viel weniger Widerstand als der Vertrag von Maastricht zuvor bei der Conservative Party. (Ein für 2006 vorgesehenes Referendum über den Verfassungsvertrag fiel letztlich aus, da dieser zuvor bereits in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war.)

Doch auch Blair und Brown stellten nicht die Vorstellung in Frage, dass Großbritannien innerhalb der EU eine Sonderrolle spielte und primär an die Verteidigung seiner eigenen Interessen und Werte zu denken habe. Bei europapolitischen Projekten, die über die Binnenmarktliberalisierung hinausgingen, blieb die Labour-Regierung in der Regel defensiv und ging einer grundsätzlichen Konfrontation mit der vorherrschend integrationsfeindlichen öffentlichen Meinung aus dem Weg.

David Camerons europaskeptische Symbolpolitik

Unterdessen verschärfte sich auf der rechten Seite des politischen Spektrums der europaskeptische Diskurs immer weiter. In der Conservative Party wurden die Vertreter des früheren Heath- und Heseltine-Flügels aus den Ämtern gedrängt; 2005 gewann David Cameron den Parteivorsitz mit dem Versprechen, das Bündnis mit der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament aufzulösen und eine neue Fraktion (die spätere EKR) zu gründen.

Nach Camerons Aufstieg zum Premierminister 2010 kulminierte die europaskeptische Symbolpolitik. 2011 verweigerte er seine Unterschrift unter den „Euro-Plus-Vertrag“, obwohl dieser Großbritannien als Nicht-Mitgliedstaat der Währungsunion ohnehin nicht unmittelbar betraf. 2012 ließ er britische Beamte eine (ergebnislose, aber öffentlichkeitswirksame) Kosten-Nutzen-Rechnung durchführen, welche Kompetenzen das Vereinigte Königreich von der EU zurückfordern sollte. 2013 forderte Cameron eine „weniger freie Freizügigkeit“ . Unter dem Schlagwort der „EU-Reform“ setzten sich die Konservativen – aber auch die Labour Party und sogar die Liberal Democrats – im Unterhauswahlkampf 2015 für einen Rückbau supranationaler Elemente auf europäischer Ebene ein.

Das Referendum

Doch all diese Rhetorik verhinderte nicht, dass sich immer mehr Wähler noch radikaleren Lösungen zuwandten: Ab 1999 vergrößerte die UK Independence Party bei jeder Europawahl ihren Sitzanteil, bis sie 2014 mit 27,5% der Stimmen zur stärksten nationalen Kraft aufstieg. Auch wenn diese Entwicklung bei nationalen Wahlen deutlich schwächer ausfiel, machte sie das enorme Wählerpotenzial deutlich, das die etablierten Parteien zu verlieren drohten.

Vor der Unterhauswahl 2015 reagierte Cameron darauf mit dem Versprechen einer neuen Volksabstimmung – ein Versprechen, das zunächst ohne unmittelbare Folgen zu bleiben schien, da Camerons liberaldemokratischer Koalitionspartner ein EU-Austrittsreferendum strikt ablehnte und eine Alleinregierung angesichts der damaligen Umfragewerte kaum möglich schien. Erst als die Conservative Party überraschend doch eine absolute Mehrheit gewann, geriet Cameron in der Pflicht, sein Wahlversprechen umzusetzen. Das Weitere ist bekannt.

Fazit

Was also waren die Faktoren, die das Vereinigte Königreich in der EU über Jahre hinweg immer weiter zum Außenseiter werden ließen und schließlich in den Brexit trieben? Die tiefste historische Wurzel scheint mir die unterschiedliche Weltkriegserfahrung zu sein: Da sich das Vereinigte Königreich als einziges europäisches Land als Sieger aus eigener Kraft erlebte, hielt sich hier länger als anderswo die Vorstellung, außen- und wirtschaftspolitisch auch allein zurechtzukommen.

Das senkte die Bereitschaft, Kompetenzen an supranationale Institutionen abzugeben – was wiederum dazu führte, dass Großbritannien sich an der EG-Integration erst mit Verspätung beteiligte. Dadurch blieben britische Interessen bei den ersten politischen Weichenstellungen der EG unberücksichtigt, was teilweise die späteren Konflikte um die Agrar- und Haushaltspolitik erklärt.

Teilrückzüge statt Identifikationsangebote

Andererseits traten zahlreiche andere Mitgliedstaaten der EU noch später bei, und politische Konflikte um wirtschaftliche Interessen gibt es anderswo (man denke an Griechenland in der Eurokrise) in noch weitaus größerem Ausmaß. Was Großbritannien tatsächlich besonders macht, ist, wie wenig die europäische Einigung zu einem positiven Identifikationsangebot wurde.

Schon in den ersten Jahren der britischen Mitgliedschaft betonten proeuropäische Politiker und Aktivisten weniger die Chancen eines geeinten Europas als die Risiken eines nationalen Alleingangs. Auch später folgten sie meist der rhetorischen Strategie, der öffentlichen Meinung möglichst wenig Europa zuzumuten und zu betonen, dass man nur das Nötigste an Integration betreibe. Noch im Referendumswahlkampf 2016 meinte David Cameron die Wähler von einem Verbleib in der EU dadurch überzeugen zu können, dass er sich selbst lautstark als „Europaskeptiker“ bezeichnete. Und auch auf einer praktischen Ebene wurden die großen politischen Konflikte um den britischen Finanzbeitrag oder die Währungsunion nicht etwa durch eine Verständigung auf ein übergeordnetes gemeinsames Ziel gelöst, sondern durch Teilrückzüge Großbritanniens aus dem gemeinsamen europäischen Rahmen.

Das Gefühl, Europäer zu sein

Entsprechend blieb das Gefühl, Europäer zu sein, in Großbritannien so schwach ausgeprägt wie in keinem anderen europäischen Land. Die Vorstellung, dass eine politische Gemeinschaft auch über nationale Grenzen hinweg reichen kann, dass Demokratie auch im überstaatlichen Rahmen möglich ist und dass Meinungsbildung auch quer zu „nationalen Interessen“ erfolgen kann, konnte in der öffentlichen politischen Debatte in Großbritannien – von Ausnahmen abgesehen – vor 2016 niemals breiten Fuß fassen.

Und in Zukunft? In den Jahren seit dem Referendum ist in Großbritannien zum ersten Mal eine große und aktive Bewegung entstanden, für die die Idee, zu Europa zu gehören, eine identitätsstiftende Rolle spielt. Diese Bewegung war – trotz der Mobilisierung von Millionen Menschen bei Demonstrationen und Petitionen – zu schwach, um bei der Unterhauswahl 2019 den Brexit zu verhindern. Aber ohne Zweifel hat sie die europapolitische Debatte in Großbritannien verändert, und die Zukunft wird zeigen, wohin sie noch trägt.

Für die Proeuropäer im Rest der EU aber sollte die britische Erfahrung die Erkenntnis bringen, dass nationale Sonderregelungen, Ausnahmeklauseln und Haushaltsrabatte zwar kurzfristig politische Konflikte entschärfen können, aber langfristig keine stabile Grundlage für ein supranationales Einigungsprojekt sind. Europaskepsis lässt sich nicht dadurch überwinden, dass man schrittweise vor ihr zurückweicht, sondern dass man ihr selbstbewusst ein überstaatliches Verständnis von Bürgerschaft, Solidarität und Demokratie entgegensetzt. Den Mut dazu aufzubringen ist der sicherste Weg, damit der Brexit auch in Zukunft ein Einzelfall in der europäischen Geschichte bleibt.

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