- 47 Jahre und einen Monat war das Vereinigte Königreich Mitglied der EU. Und hörte doch niemals auf, ein Außenseiter zu sein.
Nun ist es also so weit: Heute Abend um 23 Uhr britischer Zeit (Mitternacht in Brüssel) tritt das Vereinigte
Königreich aus der Europäischen Union aus. Für die EU ist das ein trauriges,
aber verkraftbares Ereignis, für das Vereinigte Königreich selbst wohl erst der Anfang einer langen und schwierigen außen- und innenpolitischen Selbstfindungsphase. Die Hauptleidtragenden sind, wie so oft, keine staatlichen Entitäten, sondern einzelne Menschen – besonders all jene Europäerinnen und Europäer, die heute gegen ihren Willen und nur aufgrund ihres britischen Passes ihre Unionsbürgerschaft verlieren.
Auffällig
am Brexit ist aber auch, dass entgegen den Voraussagen vieler
Europaskeptiker und trotz der zahlreichen Krisen und Probleme der EU
wenigstens bis jetzt kein Land sich anschickt, einen ähnlichen Weg
zu gehen. Auch wenn viele der Brexiteer-Argumente – die Kritik an der „undemokratischen Fremdherrschaft“, die Verweigerung grenzüberschreitender finanzieller Umverteilung, die Sorge vor „Sozialtourismus“ durch die europäische Freizügigkeit –
durchaus auch in anderen Mitgliedstaaten präsent sind, erreichten
sie nur im Vereinigten Königreich jene Intensität, die letztlich
zum Referendum von 2016 führte.
Was also ist schiefgegangen in den fast fünf Jahrzehnten, die das Vereinigte
Königreich der EU angehörte? Und
lässt sich daraus etwas für die Zukunft lernen?
Großbritannien,
Wiege des überstaatlichen Föderalismus
Es
mag aus heutiger Sicht paradox erscheinen, aber noch vor hundert Jahren war die Idee einer überstaatlichen Integration in wenigen Ländern so präsent wie in Großbritannien. 1938 gründete eine Gruppe um Lionel Curtis und Philipp Kerr (Lord Lothian)
die Federal
Union, nach der Schweizer Europa-Union die älteste Mitgliedsorganisation
der heutigen Union Europäischer Föderalisten. Hauptziel der Federal
Union bildete ein demokratischer Weltstaat, der aus
ihrer Sicht unverzichtbar für eine dauerhafte Friedensordnung war. Als Vorstufe
dazu setzten sie sich für eine demokratische Neuordnung des
britischen Commonwealth ein – und für ein föderales Europa.
Anders
als in anderen Ländern führte der Zweite Weltkrieg in
Großbritannien allerdings nicht zu einer Ausbreitung dieser Ideen.
Während etwa in Italien und Frankreich die Erfahrung der deutschen
Besatzung bei vielen Menschen zu der
Überzeugung führte,
dass nur ein vereintes Europa gegen die Barbarei half, herrschte in
Großbritannien nach der Battle
of Britain
eher
das Bewusstsein vor,
als Nation alleine einem übermächtigen Feind widerstanden zu haben.
Winston
Churchill: für Europa, gegen Supranationalismus
Als
sich der britische Oppositionschef und vormalige Premierminister
Winston Churchill (Cons.) 1946 in seiner berühmten Züricher
Rede
für „eine Art Vereinigte Staaten von Europa“ aussprach, meinte
er damit deshalb vor allem eine Aussöhnung zwischen Frankreich und
Deutschland. Die Briten hingegen hätten bereits „unser eigenes
Commonwealth“, sodass Churchill sie nicht als Teil, sondern als
„Freunde und Unterstützer des neuen Europas“ sah.
Die
Wahrung der eigenen nationalen Souveränität spielte deshalb in der
britischen Europapolitik schon frühzeitig eine zentrale Rolle:
Churchill selbst regte 1947 die Gründung des United
Europe Movement an,
das
sich für eine stärkere zwischenstaatliche Zusammenarbeit, aber
explizit gegen nicht für einen europäischen Bundesstaat aussprach –
und zog damit den Groll von Föderalisten wie Altiero Spinelli auf
sich. Zum großen politischen Erfolg des UEM wurde die Gründung des
Europarats 1949. Großbritannien beteiligte sich daran, achtete dabei
jedoch strikt darauf, dass der Europarat keine eigenen
überstaatlichen Kompetenzen erhielt.
Keine
Beteiligung an den Europäischen Gemeinschaften
Als
es mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er
Jahren dann doch noch zur supranationalen Integration kam, war
Großbritannien daran hingegen nicht beteiligt. Die
sechs Gründerstaaten der EG – Deutschland, Frankreich, Italien und
die Beneluxländer – versprachen sich von der Zusammenlegung von
Souveränitätsrechten teils neue Handlungsspielräume und politische
Anerkennung (so vor allem die im Zweiten Weltkrieg besiegten
Deutschland
und Italien),
teils die
Aussicht auf ein dauerhaftes System von Frieden und Sicherheit (so
vor allem die im Zweiten Weltkrieg überfallenen Frankreich und
Benelux).
In
Großbritannien hingegen sorgte sich die Labour-Regierung
unter Clement Attlee, dass die europäische Montanunion zu einem
Hindernis für ihre eigene Politik einer Verstaatlichung der Kohle-
und Stahlindustrie werden könnte. Und
unter Churchills Konservativen, die 1951 an die Regierung
zurückkehrten, spielte nach wie vor das spät-imperiale britische Selbstverständnis als eigenständige
Weltmacht eine zentrale Rolle.
Die
gescheiterte Freihandelszone
Als
Gegenmodell zu den supranationalen Gemeinschaften setzte sich
Großbritannien in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre deshalb
für
die Gründung einer großen gesamteuropäischen Freihandelszone ohne
tiefergehende politische Integration ein. Dieser Vorschlag hatte auch
in Kontinentaleuropa durchaus Sympathisanten. In der deutschen
Bundesregierung etwa musste Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) 1956
von
seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen,
um Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) und Atomminister
Franz-Josef Strauß (CSU) auf die Linie einer Integration im kleinen,
aber supranationalen Rahmen der
„Sechs“ einzuschwören.
Letztlich
aber setzten sich die Befürworter der supranationalen Methode durch:
1952
nahm die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1958
die
Europäische Atomgemeinschaft und die
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ihre
Arbeit auf, aus der später die Europäische Union entstand.
Die britischen Bemühungen hingegen führten 1960 nur zur Gründung
der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) mit Dänemark,
Norwegen, Schweden, Portugal, Österreich und der Schweiz.
Kurswechsel
und französisches Veto
Dieser
geografisch heterogene Staatenbund verlor für Großbritannien jedoch
schnell an Interesse, auch weil die ökonomisch erfolgreichen
EG-Länder faktisch viel wichtigere Handelspartner waren. Als zudem
das
Ende des British Empire eine nicht mehr zu leugnende Realität wurde,
änderte der konservative Premierminister Harold MacMillan
schließlich Kurs und stellte am 10. August 1961, weniger als zwei
Jahre nach Gründung der EFTA, einen Beitrittsantrag zu den
Europäischen Gemeinschaften.
Die
darauf folgenden
Verhandlungen gerieten jedoch rasch unter einen schlechten Stern.
Innerhalb von Großbritannien unterstützte nur eine Minderheit der
Bevölkerung den Beitritt, die oppositionelle Labour Party warnte vor
dem Verlust der nationalen Unabhängigkeit, und zahlreiche
Lobbygruppen drängten darauf, dass vor
einem Beitritt erst das EG-Recht geändert werden müsse, um britischen
Interessen besser gerecht zu werden. Auf EG-Seite wiederum hielt sich
die Bereitschaft zu solchen Anpassungen
in Grenzen. Vor allem aber sah der französische Präsident Charles
de Gaulle eine britische Mitgliedschaft als Bedrohung für die von
ihm angestrebte französische (bzw. französisch-deutsche)
Führungsrolle innerhalb der EG: Im Januar 1963 legte er ein Veto
gegen den Beitritt ein.
Der
Beitritt 1973
In
Großbritannien verschlechterte sich unterdessen die wirtschaftliche
Lage zusehends – was schließlich auch den
1964 gewählten Labour-Premierminister Harold Wilson trotz der EG-skeptischen Grundhaltung seiner Partei dazu brachte, 1967 einen erneuten
Beitrittsantrag zu
stellen. Dieser zweite Anlauf blieb zunächst jedoch ebenso erfolglos wie der erste. Erst nachdem De Gaulle 1969 zurückgetreten war, gab Frankreich den Weg für neue Verhandlungen frei.
Am
Ende war es deshalb
der
1970-1974 amtierende konservative
Premierminister
Edward Heath, der das Vereinigte Königreich am
1. Januar 1973 in
die Europäischen Gemeinschaften führte. Die etwas verbesserte
wirtschaftliche Lage und die inzwischen weitgehend europafreundliche
Haltung
der
Conservative
Party erlaubten es Heath, sich in den Beitrittsverhandlungen auf
Kompromisse einzulassen. Zugleich
hatte auch die große
Debatte um die Supranationalität Anfang der 1970er scheinbar an
Bedeutung verloren: Da auch Frankreich seit De
Gaulle eher auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit setzte, schienen
tiefgreifende Integrationsschritte erst einmal ohnehin nicht auf der
Tagesordnung zu stehen.
Das
erste Austrittsreferendum
Dennoch
löste der Beitritt in Großbritannien erst einmal erbitterten
politischen Streit aus: Die Labour Party, europapolitisch tief
gespalten, hatte sich bereits 1971 auf eine Volksabstimmung über die
EG-Mitgliedschaft festgelegt. Nach ihrer Rückkehr an die Regierung
kam es deshalb 1975 zum ersten
britischen Austrittsreferendum
– zugleich das erste Referendum in der britischen Geschichte
überhaupt. Im Abstimmungskampf warnten die mehrheitlich
konservativen
Europabefürworter vor politischer Isolation und wirtschaftlichem
Niedergang, während
die
linken Europaskeptiker Souveränitätsverlust und einen
Ausverkauf
von Arbeiterinteressen anprangerten.
Am Ende setzte sich das proeuropäische Lager deutlich mit über 67
Prozent der Stimmen durch.
Diese
erste Referendumsdebatte zeigte jedoch
bereits
ein Muster, das die europapolitische Debatte in Großbritannien
seitdem dauerhaft prägte: Anders
als in anderen Ländern stellten die
Integrationsfreunde die europäische Einigung weniger
als
eine Chance und ein zukunftsgerichtetes
Identifikationsangebot
dar,
sondern
betonten vor allem die negativen Konsequenzen eines Austritts
– während die positive Botschaft im
Wesentlichen darin
bestand, dass die Kosten der Mitgliedschaft (finanziell und in Bezug
auf die nationale Souveränität) schon nicht so schlimm ausfallen
würden, wie von den Gegnern vorausgesagt. Für die künftige
britische Europapolitik wurde das zu einer Hypothek, da jeder spätere
Integrationsschritt, jede Erweiterung des EU-Budgets als Beleg
erscheinen konnten, dass die britische Bevölkerung über die
Bedeutung der Mitgliedschaft getäuscht worden war.
Thatcher
und der „Britenrabatt“
Und
natürlich ließen neue Konflikte nicht lang auf sich warten. Die
Hauptursache wurde die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), also jener
Politikbereich, in dem die EG mit Abstand am meisten Geld
umverteilte. Agrarprodukte der reicheren nördlichen Mitgliedstaaten
(v.a.
Milch,
Butter) wurden dabei tendenziell stärker gefördert als solche der
ärmeren südlichen (v.a.
Obst).
Dies führte dazu, dass vor dem britischen Beitritt die Landwirte
jedes Mitgliedstaats von der GAP etwa zu demselben Anteil
profitierten, der den finanziellen Beiträgen des Landes zum
EG-Haushalt entsprach.
Da
Großbritannien
jedoch
kaum über Landwirtschaft verfügte, funktionierte
dieses faktische Juste-retour-Prinzip
nun plötzlich nicht mehr; das Land wurde zum großen Nettozahler des
EG-Haushalts. Auch der 1975 eingerichtete Regionalfonds
EFRE, der strukturschwachen Regionen zugute kam, wie es sie in
der EG damals außer in Italien vor allem im Vereinigten Königreich
gab, konnte dies nur teilweise kompensieren.
In
den Mittelpunkt rückte diese Frage unter
der Konservativen Margaret
Thatcher, die 1979 Premierministerin wurde und
einen neuen, kompromissloseren Stil in die britische Politik
einführte. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre sorgte Thatcher
dafür, dass die British Budget Question alle
anderen Vorhaben der EG in den Schatten stellte. Vorläufig beigelegt
wurde der Streit darüber erst auf dem Gipfel
von Fontainebleau im Sommer 1984 durch den sogenannten
„Britenrabatt“, eine Absenkung des britischen Beitrags an den
EG-Haushalt.
Gegen
den sozialistischen europäischen Superstaat
Die
Einigung von Fontainebleau erlaubte es der EG, neue
Vertiefungsschritte voranzubringen. 1985 lancierte der neu ernannte
Kommissionspräsident Jacques Delors (PS/BSPEG) das
Binnenmarktprojekt, um den Handel innerhalb der EG zu erleichtern. Um
die damit verbundene Gesetzgebungsagenda zu erleichtern, beschlossen
die Mitgliedstaaten in der Einheitlichen
Europäischen Akte 1986 für diesen Bereich die Abschaffung
nationaler Vetorechte – eine Entwicklung, die Thatcher zwar
skeptisch sah, aber akzeptierte, da die damit verbundene
handelspolitische Zielsetzung ihren eigenen politischen Überzeugungen
entsprach.
Doch
schon bald nach Verabschiedung der Einheitlichen Akte drängten
zahlreiche europäische Akteure auf weitere Integrationsschritte: Das
Europäische Parlament forderte eine Demokratisierung der EG und mehr
eigene Kompetenzen, Delorsʼ
Kommission und die französische Regierung unter François
Mitterrand (PS/BSPEG) eine Währungsunion und einen Ausbau der
europäischen Sozialpolitik.
Für
Thatcher waren diese Vorschläge gleich doppelt inakzeptabel,
bedrohten sie doch nicht nur die nationale Souveränität, sondern
auch die harten wirtschaftsliberalen Reformen, die ihre Regierung in
Großbritannien durchsetzte. Sozialisten und europäische
Föderalisten wurden zum gemeinsamen Feindbild der Premierministerin.
In einer berühmt gewordenen Rede vor dem Europa-Kolleg in Brügge
fasste sie im Herbst 1988 ihre
europapolitische Haltung zusammen:
„Wir haben nicht in Großbritannien die Grenzen des Staates erfolgreich zurückgezogen, nur um sie auf europäischer Ebene wiedereingeführt zu sehen, mit einem europäischen Superstaat, der eine neue Herrschaft aus Brüssel ausübt.“
Im diplomatischen Abseits
Tatsächlich
sah es zum Zeitpunkt der Brügge-Rede durchaus so aus, als ob
Thatcher mit ihrem Widerstand gegen jegliche neuen
Integrationsvorschläge Erfolg haben könnte. Im November 1989
änderte
jedoch der Fall der Berliner Mauer die politischen Rahmenbedingungen:
Um die deutsche Wiedervereinigung europapolitisch einzubetten,
einigten sich die deutsche und die französische Regierung rasch auf
das Ziel einer großen Vertragsreform und waren nun bereit, dafür
beträchtliches politisches Kapital einzusetzen.
Thatcher
hingegen geriet immer mehr in die diplomatische Isolation, wobei auch der Umstand nicht half, dass sie und ihr Umfeld ein tiefes Misstrauen
gegenüber den machtpolitischen Ambitionen Deutschlands hegten. Im Juli 1990 beschrieb der Thatcher-nahe Handelsminister Nicholas Ridley
die geplanten Integrationsschritte in
einem Interview als eine „deutsche Hinterlist, um ganz Europa zu übernehmen“. Auch wenn Ridley daraufhin zurücktreten musste, gingen viele Zeitgenossen davon aus, dass dies auch der Sicht der Premierministerin entsprach.
Spaltung
der Conservative Party
Die eskalierende Europafeindlichkeit Thatchers blieb nicht ohne Folge für die öffentliche Debatte in Großbritannien. Um 1990 war die
Conservative Party tief gespalten zwischen der alten, gemäßigt-europafreundlichen Garde um Ex-Premier Heath und Thatchers ehemaligen Verteidigungsminister Michael Heseltine auf der einen und der Thatcher-nahen, tief europaskeptischen „Brügge-Gruppe“ auf der anderen Seite. Hinzu kam die Boulevard-, aber auch die konservative Qualitätspresse, in der massive, teils verschwörungstheoretisch oder rassistisch grundierte Vorwürfe gegen die EG-Institutionen und die integrationsfreudigeren Mitgliedstaaten gängig wurden.
Der parteiinterne Streit um die Europapolitik war letztlich auch ein zentraler Grund für die Abwahl Thatchers im Herbst 1990. Ihr Nachfolger John Major versuchte
durch Pragmatismus die Wogen zu glätten: Statt ein Veto gegen die Vertragsreform einzulegen, setzte er auf eine „Opt-out“-Regelung,
durch die Großbritannien sich an den umstrittensten Neuerungen – der Währungsunion und dem Sozialprotokoll – nicht beteiligten
musste. Nach dem entscheidenden Gipfel von Maastricht beschrieb er das Ergebnis als „Spiel, Satz und Sieg für Großbritannien“.
Lösungsansatz Opt-out?
Letztlich jedoch verfehlten die Opt-outs – zu denen später noch weitere, etwa für die Schengen-Verordnung, hinzukommen sollten – ihre
erhoffte Wirkung. Auf der einen Seite konnten sie die Conservative Party europapolitisch nicht befrieden. Die Ratifikation des
Maastrichter Vertrags gelang
Major nur äußerst knapp, und es kam zu europaskeptischen Parteigründungen wie der Anti-Federalist League (1991, ab 1993 UK
Independence Party) oder der Referendum
Party (1994-1997).
Auf der anderen Seite unterstrichen die Opt-outs aber auch die öffentliche Wahrnehmung der britischen Rolle als Außenseiter in der EG. Eine
positive Vision trat in der Maastricht-Debatte kaum zutage – auch die Befürworter des Vertrags beschrieben die europäische Einigung
vor allem als ein Projekt, an dem man sich beteiligen musste, um nicht in der außenpolitischen Isolation zu landen. Ebenso wie zuvor
der Britenrabatt erschienen die Opt-outs deshalb als eine Art Schadensbegrenzung bei einem Unterfangen, das für Großbritannien wenig echten Nutzen zu bieten schien und dessen Auswirkungen auf das eigene Land man deshalb möglichst klein zu halten versuchte.
New
Labour
Dieses
Selbstverständnis änderte sich auch nicht grundsätzlich, als 1997
Tony Blair die Regierungsmehrheit für die Labour Party
zurückeroberte. Deren europapolitische Linie war in der Zwischenzeit
zwar sehr viel europafreundlicher geworden – teils aus Antagonismus
zu Thatchers Europafeindlichkeit, teils durch den Druck der
proeuropäischen Social
Democratic Party, die sich 1981 abgespalten hatte und 1988
mit den Liberalen fusionierte. Die links-nationalistische
Haltung, die die Partei lange Zeit geprägt hatte, wurde mit Tony
Blairs sozialliberalem New-Labour-Projekt
stark in den Hintergrund gedrängt.
In einigen Fragen entwickelte Blair sogar eine progressive Europapolitik, die über andere Mitgliedstaaten hinausging – etwa
als Großbritannien nach der Osterweiterung 2004 seinen Arbeitsmarkt sofort für die neuen Unionsbürger öffnete, während Deutschland, Frankreich und andere auf langen Übergangszeiten beharrten. Die Vertragsreformen von Amsterdam über Nizza bis Lissabon, die die EU während der Amtszeit Blairs und seines Nachfolgers Gordon Brown umsetzte, stießen bei der Labour-Mehrheit im Parlament auf sehr viel weniger Widerstand als der Vertrag von Maastricht zuvor bei
der Conservative Party. (Ein für 2006 vorgesehenes Referendum
über den Verfassungsvertrag fiel letztlich aus, da dieser zuvor bereits in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war.)
Doch
auch Blair und Brown stellten nicht die Vorstellung in Frage, dass
Großbritannien innerhalb
der EU eine Sonderrolle spielte und primär an die Verteidigung
seiner eigenen Interessen und Werte zu denken habe. Bei europapolitischen Projekten, die über die Binnenmarktliberalisierung hinausgingen, blieb die Labour-Regierung in der Regel defensiv und ging einer grundsätzlichen Konfrontation mit der vorherrschend
integrationsfeindlichen öffentlichen Meinung aus dem Weg.
David
Camerons
europaskeptische Symbolpolitik
Unterdessen
verschärfte sich auf der rechten Seite des politischen Spektrums der
europaskeptische Diskurs immer weiter. In
der
Conservative Party wurden
die
Vertreter des früheren Heath- und Heseltine-Flügels aus den Ämtern
gedrängt;
2005
gewann David Cameron den Parteivorsitz mit dem Versprechen, das
Bündnis mit der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament
aufzulösen und eine neue Fraktion (die spätere EKR) zu gründen.
Nach
Camerons Aufstieg zum Premierminister 2010 kulminierte die
europaskeptische Symbolpolitik. 2011
verweigerte
er seine Unterschrift unter den „Euro-Plus-Vertrag“, obwohl
dieser Großbritannien als Nicht-Mitgliedstaat der Währungsunion
ohnehin nicht unmittelbar betraf. 2012 ließ er britische Beamte eine
(ergebnislose, aber öffentlichkeitswirksame) Kosten-Nutzen-Rechnung
durchführen, welche
Kompetenzen das Vereinigte Königreich von der EU zurückfordern sollte. 2013 forderte Cameron eine „weniger freie Freizügigkeit“ . Unter dem Schlagwort der „EU-Reform“ setzten sich die Konservativen – aber
auch die Labour Party und sogar die Liberal Democrats – im Unterhauswahlkampf 2015 für einen Rückbau supranationaler Elemente auf europäischer Ebene ein.
Das
Referendum
Doch all diese Rhetorik verhinderte nicht, dass sich immer mehr Wähler noch radikaleren Lösungen zuwandten: Ab 1999 vergrößerte die UK Independence Party bei jeder Europawahl ihren Sitzanteil, bis sie 2014 mit 27,5% der Stimmen zur stärksten nationalen Kraft aufstieg. Auch
wenn diese Entwicklung bei nationalen Wahlen deutlich schwächer
ausfiel, machte sie das enorme Wählerpotenzial deutlich, das die
etablierten Parteien zu verlieren drohten.
Vor
der Unterhauswahl 2015 reagierte Cameron darauf mit dem Versprechen einer neuen Volksabstimmung – ein Versprechen, das zunächst ohne unmittelbare Folgen zu bleiben schien, da Camerons liberaldemokratischer Koalitionspartner ein EU-Austrittsreferendum strikt ablehnte und eine Alleinregierung angesichts der damaligen Umfragewerte kaum möglich schien. Erst als die Conservative Party überraschend doch eine absolute Mehrheit gewann, geriet Cameron in der Pflicht, sein Wahlversprechen umzusetzen. Das Weitere ist bekannt.
Fazit
Was
also waren die Faktoren, die das Vereinigte Königreich in der EU über Jahre hinweg immer weiter zum Außenseiter werden ließen und schließlich in den Brexit trieben? Die tiefste historische Wurzel scheint mir die unterschiedliche Weltkriegserfahrung zu sein: Da sich das Vereinigte Königreich als einziges europäisches Land als Sieger aus eigener Kraft erlebte, hielt sich hier länger als anderswo die Vorstellung, außen- und wirtschaftspolitisch auch allein zurechtzukommen.
Das senkte die Bereitschaft, Kompetenzen an supranationale Institutionen abzugeben – was wiederum dazu führte, dass Großbritannien sich an der EG-Integration erst mit Verspätung beteiligte. Dadurch blieben britische Interessen bei den ersten politischen Weichenstellungen der EG
unberücksichtigt, was teilweise die späteren Konflikte um die Agrar- und Haushaltspolitik erklärt.
Teilrückzüge
statt Identifikationsangebote
Andererseits traten zahlreiche andere Mitgliedstaaten der EU noch später bei, und politische Konflikte um wirtschaftliche Interessen gibt es anderswo
(man denke an Griechenland in der Eurokrise) in noch weitaus größerem Ausmaß. Was Großbritannien tatsächlich besonders macht, ist, wie wenig die europäische Einigung zu einem positiven Identifikationsangebot wurde.
Schon in den ersten Jahren der britischen Mitgliedschaft betonten proeuropäische Politiker und Aktivisten weniger die Chancen eines geeinten Europas als die Risiken eines nationalen Alleingangs. Auch später folgten sie meist der rhetorischen Strategie, der öffentlichen Meinung möglichst wenig Europa zuzumuten und zu betonen, dass man nur das Nötigste an Integration betreibe. Noch im Referendumswahlkampf 2016 meinte David Cameron die Wähler von einem Verbleib in der EU dadurch überzeugen zu können, dass er sich selbst lautstark als „Europaskeptiker“ bezeichnete. Und auch auf einer praktischen Ebene wurden die großen politischen Konflikte um den britischen Finanzbeitrag oder die Währungsunion nicht etwa durch eine Verständigung auf ein übergeordnetes gemeinsames Ziel gelöst, sondern durch
Teilrückzüge Großbritanniens aus dem gemeinsamen europäischen Rahmen.
Das Gefühl, Europäer zu sein
Entsprechend blieb das Gefühl, Europäer zu sein, in Großbritannien so schwach ausgeprägt wie in keinem anderen europäischen Land. Die Vorstellung, dass eine politische Gemeinschaft auch über nationale Grenzen hinweg reichen kann, dass Demokratie auch im überstaatlichen Rahmen möglich ist und dass Meinungsbildung auch quer zu „nationalen Interessen“ erfolgen kann, konnte in der öffentlichen politischen Debatte in Großbritannien – von Ausnahmen abgesehen – vor 2016 niemals breiten Fuß fassen.
Und in Zukunft? In den Jahren seit dem Referendum ist in Großbritannien zum ersten Mal eine große und aktive Bewegung entstanden, für die die Idee, zu Europa zu gehören, eine identitätsstiftende Rolle spielt. Diese Bewegung war – trotz der Mobilisierung von Millionen Menschen bei Demonstrationen und Petitionen – zu schwach, um bei der Unterhauswahl 2019 den Brexit zu verhindern. Aber ohne
Zweifel hat sie die europapolitische Debatte in Großbritannien verändert, und die Zukunft wird zeigen, wohin sie noch trägt.
Für die Proeuropäer im Rest der EU aber sollte die britische Erfahrung die Erkenntnis bringen, dass nationale Sonderregelungen, Ausnahmeklauseln und Haushaltsrabatte zwar kurzfristig politische Konflikte entschärfen können, aber langfristig keine stabile Grundlage für ein supranationales Einigungsprojekt sind. Europaskepsis lässt sich nicht dadurch überwinden, dass man schrittweise vor ihr zurückweicht, sondern dass man ihr selbstbewusst ein überstaatliches Verständnis von Bürgerschaft, Solidarität und Demokratie entgegensetzt. Den Mut dazu aufzubringen ist der sicherste Weg, damit der Brexit auch in Zukunft ein Einzelfall in der europäischen Geschichte bleibt.
Bild: Christoph Scholz [CC BY-SA].
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