- Für Großbritannien brechen schwere Zeiten an. Aber welche Lehren sollte die EU aus dem Referendum ziehen?
Zugegeben:
Es hat auch etwas Komisches an sich, wie nun ein
politischer Akteur nach dem nächsten die Brexit-Krise zum Anlass
nimmt, um seine eigene politische Agenda zum dringend benötigten
Allheilmittel für die Europäische Union zu erklären. Seitdem die
Mehrheit der Briten für einen EU-Austritt gestimmt hat, haben unter
anderem Martin Schulz und Sigmar Gabriel (SPD/SPE) eine „europäische Wachstumsunion“ mit mehr Investitionen gefordert, der Wirtschaftsrat der CDU (EVP)
hat sich für
mehr Sanktionen bei nationalen Haushaltsdefiziten ausgesprochen,
der bayrische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU/EVP) will
„die Eigenständigkeit der Regionen und Kommunen“ stärken,
der griechische Premierminister Alexis
Tsipras (Syriza/EL) verlangt
ein Ende der Austeritätspolitik, der
liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt (OpenVLD/ALDE) ist für eine „europäische
Regierung“, die europäischen Grünen
setzen
auf „die grüne Wende von Wirtschaft und Arbeit“ und auf bessere
Hilfe für Flüchtlinge, der Präsident der
Region Auvergne-Rhône-Alpes, Laurent Wauquiez (LR/EVP), möchte
die Europäische Kommission abschaffen, Ulrike
Guérot wünscht sich
eine Europäische Republik, und der
Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE)
will
erst einmal gar nichts tun, um nicht „noch mehr Instabilität in
die EU hineinzulassen“.
Kakophonie
schnell vorgetragener Ideen
Die
Vorschläge, wie
die EU auf das Brexit-Referendum reagieren
sollte, könnten
also kaum unterschiedlicher ausfallen. Das ist einerseits nicht
überraschend: Dass
politische Akteure unterschiedliche Meinungen vertreten, ist
schließlich der Kern jeder pluralistischen
Debatte. Andererseits macht die Kakophonie schnell vorgetragener Ideen,
von denen viele mit dem Brexit in Wirklichkeit herzlich wenig zu
tun haben, eine ernsthafte Auseinandersetzung eher schwieriger, als wirklich zu neuen Erkenntnissen beizutragen.
Im Folgenden deshalb einige Gedanken dazu, welche
Lehren das Brexit-Referendum
nicht bereithält
– und wie ich selbst denke, dass sich die EU weiterentwickeln sollte, um
die strukturellen Ursachen der Europaskepsis zu überwinden.
Wer dieses Blog regelmäßig liest, wird feststellen, dass auch ich dabei
auf Überlegungen zurückgreife, die ich hier bereits früher
formuliert habe. Ich werde aber darzulegen versuchen, warum sie mir
gerade im Kontext des Brexit von Bedeutung erscheinen.
Erstens:
Es geht nicht nur um einzelne Politiken
Erstens: Es geht
nicht nur um einzelne Politiken. Natürlich,
die Eurokrise war in
den letzten Jahren ein großes Thema, das
viel Streit, Verdruss und Wut ausgelöst
hat (wenn auch weniger in Großbritannien als unter den
Mitgliedstaaten der Währungsunion).
Natürlich, die Flüchtlingskrise hat
rechtspopulistischen Parteien Auftrieb
gegeben, fremdenfeindliche Positionen bis in die politische Mitte hinein salonfähig gemacht und
dem Projekt der offenen Grenzen einen Dämpfer verpasst. Natürlich,
wenn die EU nur endlich wieder einmal in irgendeinem Bereich einen richtig überzeugenden Erfolg
verzeichnen könnte, dann fiele
es viel leichter,
ihre Vorzüge in der breiten Öffentlichkeit
zu erklären.
Und dennoch scheint es mir ein Irrtum zu sein, den Brexit in erster Linie
als eine Folge von dieser oder jener
Politikentscheidung der EU zu
sehen. Die britischen
Austrittsbefürworter spielten
zwar unter
anderem sehr erfolgreich mit der Angst vor
Einwanderern – und zwar sowohl vor den europäischen
Binnenmigranten auf der Suche nach einem Job als auch vor
den Flüchtlingen, die gerne von Frankreich
aus nach Großbritannien übersetzen würden. Und
auch die Kritik am britischen Beitrag
zum EU-Budget wurde von den
Europaskeptikern routiniert (und mit
einiger Übertreibung) in
Stellung gebracht. Doch
all das hätte
wohl kaum genügt, eine Mehrheit der
Bevölkerung für den Austritt zu
mobilisieren.
Die
Kernfrage
ist Selbstbestimmung
Der
Kern des europaskeptischen Narrativs ist älter
und grundsätzlicher als jeder
aktuelle Streit über die Wirtschafts-,
Flüchtlings- oder Haushaltspolitik der EU.
Worum es in
erster Linie geht, ist Selbstbestimmung:
Allzu viele Menschen sehen
nur die jeweils eigene nationale Politik
als einen Raum, im
dem sie ihre
politischen Interessen und Überzeugungen einbringen
können – die
EU aber als eine Art Fremdherrschaft, in der wahlweise „ungewählte
Bürokraten“, „Lobbyisten“ oder „Angela Merkel“ die
politische Linie diktieren.
Diese
Gegenüberstellung von nationaler Selbst-
und europäischer Fremdherrschaft ist
im britischen Diskurs
traditionell noch stärker
als in anderen Ländern. Sie
war das Schlüsselargument der offiziellen
Austrittskampagne, die
nicht zufällig unter dem Slogan
Vote
Leave, Take Control auftrat.
Allerdings ist Großbritannien keineswegs
das einzige Land, in dem Europaskeptiker mit diesem Narrativ erfolgreich sind. Um
ihnen den Wind aus den Segeln zu
nehmen, wird es
nicht genügen, dass die EU in
diesem oder jenem Bereich eine „bessere“ Politik macht.
Vielmehr ist es
notwendig, dem Eindruck von Fremdherrschaft entgegenzutreten,
der mit der europäischen Politik verbunden
ist.
Zweitens:
Der Brexit ist nicht die Folge von „zu viel Europa“
Wie
aber kann die Europäische Union diesen
Eindruck überwinden? Das geläufige
Schlagwort dafür ist bekanntlich „mehr
Bürgernähe“ – doch
was unter „Bürgernähe“ eigentlich zu
verstehen ist, darüber gehen die Ansichten auseinander.
Für viele gemäßigte Europaskeptiker ist
Politik umso bürgernäher, je niedriger die politische Ebene ist,
auf der eine Entscheidung getroffen wird. Nach
dieser Logik ist es deshalb naheliegend,
den Brexit als eine Folge von zu
weitreichenden Kompetenzübertragungen an die europäischen
Institutionen anzusehen und
als Reaktion darauf
mehr nationale Vetorechte (oder,
wie Horst Seehofer, mehr regionale
Eigenständigkeit) zu fordern.
Doch
ganz so einfach stehen die Dinge nicht: Schließlich
war gerade Großbritannien,
das Land mit der
stärksten europaskeptischen Bewegung, auch
das Land mit den
meisten Sonder-
und Ausnahmeregeln von
der europäischen Politik. Die
Briten beteiligen sich weder
an der
Währungsunion noch am Schengen-Raum
und übernehmen
nur fallweise
EU-Rechtsakte im
Bereich Justiz und Inneres, die europäische
Grundrechtecharta ist vor britischen Gerichten nicht anwendbar, und
erst im Februar hatte David Cameron
(Cons./AEKR) dem Europäischen Rat auch
noch das
Versprechen abgerungen,
bei einem Verbleib in der EU zugewanderten
Unionsbürgern den Zugang zu britischen Sozialleistungen erschweren
zu dürfen.
Nationale
Vetorechte befeuern die Europaskepsis, statt
sie zu lindern
Doch
all diese Rücksichtnahme auf nationale
Befindlichkeiten half nicht,
um die
Europaskepsis in der britischen Öffentlichkeit zu
lindern. Im
Gegenteil, sie
scheint sie eher
noch befeuert zu haben. Denn zum einen
machten die
britischen Sonderregeln
die europäische Politik unübersichtlicher
und trugen damit zu einer Verwischung
politischer Verantwortung bei. Und zum
anderen unterstrich
die ständige
Forderung nach Ausnahmeklauseln
in der öffentlichen Wahrnehmung gerade
die Vorstellung,
dass man einem
„Verlust“ nationaler Hoheitsrechte
unbedingt entgegenwirken
müsse, und
bestätigte damit die Furcht
vor der EU
als einer ominösen, unkontrollierbaren
fremden Macht.
Die
Forderung nach mehr nationalen
Vetorechten, nach
einer
Entmachtung der supranationalen EU-Institutionen oder
einer
Verlagerung der europäischen Politik auf
die bloße Kooperation zwischen nationalen Parlamenten ist
deshalb kein geeignetes Mittel, um
Europaskepsis zu bekämpfen.
Um
dem Eindruck von Fremdherrschaft entgegenzutreten genügt es nicht, bestimmte nationale Hoheitsrechte gegen den Zugriff der supranationalen Organe abzuschotten. Stattdessen ist es notwendig,
dass mehr Bürger
auch die supranationale europäische Politik
als von
ihnen selbst gestaltet empfinden.
Weniger
Konsens, mehr europäische Demokratie
Was aber hindert die Bürger eigentlich daran, sich in der europäischen Politik einzubringen? In Wirklichkeit leidet die Europäische Union ja keineswegs darunter, dass eine ungewählte Beamtenelite nach Belieben durchregiert. Der Eindruck von „Bürgerferne“ entsteht vielmehr dadurch, dass in einem überkomplexen System von checks and balances oft kaum noch nachvollziehbar ist, wie Entscheidungen überhaupt zustande kommen – und bei welcher Gelegenheit man sie durch Wahlen selbst beeinflussen kann.
Nationale
Wahlen (oder Referenden) können das nicht
leisten, denn sie bestimmen ja lediglich die nationale Position eines
einzigen Landes, nicht der EU insgesamt.
Stattdessen ist es notwendig, die
Europawahl aufzuwerten
zu einer europaweiten
Leitentscheidung, bei der die
Bürger eine echte
Auswahl zwischen politischen Alternativen
treffen können.
Wie
das konkret aussehen könnte, habe ich auf diesem Blog an
anderer Stelle bereits ausführlicher thematisiert.
Eine entscheidende Rolle spielt dabei die
demokratische Alternanz – das
Wechselspiel konkurrierender Parteien,
von denen mal die eine, mal die andere eine Mehrheit hat.
In der EU scheitert
dies derzeit an zahlreichen
konsensorientierten Verfahren, die faktisch eine permanente Große
Koalition erzwingen. Genau dadurch entsteht
der Eindruck von „Alternativlosigkeit“, der
viele Bürger von der EU entfremdet und
europaskeptischen Populisten in die Hände treibt. Weniger
Konsens, mehr supranationale Demokratie: Hier muss
man ansetzen, damit
mehr Bürger auch
die Politik der EU als ihre eigene erleben.
Drittens: Der Brexit war kein Betriebsunfall
Gewiss: Viele der Ursachen für das Brexit-Votum liegen in der
britischen nationalen Politik begründet und werden sich in anderen
Ländern nicht einfach wiederholen. Außerdem werden natürlich die
dramatischen wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen, die das
Referendum schon jetzt verursacht hat, eine abschreckende Wirkung auf
viele haben, die bis vor kurzem noch den britischen
Austrittsnationalismus als nachahmenswertes Vorbild ansahen. Und
dennoch wäre es gefährlich, wenn die EU den Brexit als einen bloßen
Betriebsunfall abtut, sich nur auf das unmittelbare Krisenmanagement
konzentriert und (wie Jeroen Dijsselbloem) hofft, auf diese Weise die
angeschlagene „Stabilität“ zurückzugewinnen.
Wie beschrieben, ist es das
derzeitige europäische politische System selbst, das
destabilisierend wirkt. Den Abschied Großbritanniens wird die EU
verkraften. Doch die strukturellen Ursachen, die den britischen
Austrittsbefürwortern eine Mehrheit verschafften, verleihen
Rechtspopulisten und Nationalisten auch
in vielen anderen Ländern Auftrieb.
2017 wird in Deutschland und Frankreich gewählt, und für die
Regierungen dieser beiden Länder wird die Versuchung groß sein,
jedes weitreichende EU-Reformprojekt auf die Phase danach zu
verschieben. Aber die Zeit spielt gerade nicht auf Seiten der
Europafreunde. Es ist dringend notwendig, so bald wie möglich eine
positive Vision für die Weiterentwicklung des europäischen
Integrationsprojekts zu formulieren, bevor der Frust über die EU
weiter
die Parteien der Mitte zerreibt und Europa auf absehbare Zeit
unregierbar macht.
Bild: By frankieleon [CC BY 2.0], via Flickr.