Die Wahllokale sind geöffnet: Am
heutigen Donnerstag entscheidet das Vereinigte Königreich in einem Referendum über seinen Austritt oder
Verbleib in der Europäischen Union. Auch auf dem Kontinent ist es
lange her, dass ein einzelnes europapolitisches Ereignis so viel
Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Über das Ergebnis lässt sich
den Umfragen
zufolge nicht viel mehr sagen, als dass es wohl sehr knapp werden
wird. Doch wie auch immer das Referendum ausgeht: Die Auswirkungen
werden weitreichend sein und lassen sich heute im Einzelnen noch kaum
absehen.
Ein
Sprung ins Unbekannte
Sollten
die Briten tatsächlich für den Austritt stimmen, käme das einem
Sprung
ins Unbekannte gleich. Schon was bis zum Wochenende passiert, ist
unklar; im schlimmsten Fall könnte ein Brexit-Votum innerhalb
weniger Tage gleichzeitig eine Finanz- und eine Regierungskrise
auslösen. Mittelfristig kämen auf Großbritannien langwierige
Verhandlungen mit dem Rest der EU über einen Austrittsvertrag und
das künftige Nachbarschaftsverhältnis zu.
Dabei
würde die Regierung wohl versuchen, einen Zugang zum europäischen
Binnenmarkt zu behalten – etwa nach dem Modell Norwegens. Das
allerdings würde bedeuten, dass Großbritannien auch weiterhin einen
Großteil des Europarechts übernehmen (und auch weiterhin in den
EU-Haushalt einzahlen) müsste; und es ist kaum zu erwarten, dass
sich die EU dabei allzu bereitwillig auf britische Ausnahme- und
Sonderwünsche einlassen würde.
Für
die EU bringt ein Brexit Risiken, aber auch Chancen
Für die EU selbst würde mit dem Brexit eine neue Phase der
Unsicherheit anbrechen, die Risiken,
aber auch Chancen brächte. Wirtschaftlich könnte die absehbare
Krise in Großbritannien auch auf seine Handelspartner auf dem
Kontinent übergreifen. Politisch würden ohne Zweifel Europagegner
auch in anderen Ländern versuchen, das britische Votum als Wasser
auf ihre eigenen Mühlen zu leiten. Die Vorsitzende des französischen
Front National, Marine Le Pen, forderte zum Beispiel jüngst auf
einem Treffen der rechtspopulistischen Bewegung für ein Europa der
Nationen und der Freiheit, auch in
allen anderen EU-Ländern Austrittsreferenden durchzuführen.
Ebenso
gut könnten aber die vielfältigen Probleme, die nach einem
Austrittsvotum auf Großbritannien zukommen, auch zum abschreckenden
Beispiel werden. Und wer ganz optimistisch ist, kann
sogar hoffen, dass der Brexit wie ein heilsamer Schock wirkt, der
die übrigen Mitgliedstaaten näher zusammenrücken lässt – und
dass mit der britischen Regierung der prominenteste Bremser im
Europäischen Rat wegfällt, sodass der Weg zu neuen
Integrationsschritten frei wird.
Auch
ein Bleiben-Sieg würde die Konflikte nicht beenden
Falls
hingegen die Bleiben-Seite gewinnt, wäre das kurzfristig natürlich
der weniger spektakuläre Ausgang; das große Chaos wäre erst einmal
vertagt. Doch dass die Konflikte um die britische Mitgliedschaft in
der EU dadurch tatsächlich dauerhaft beendet würden, wäre eine zu große Erwartung.
Zum
einen wäre in Großbritannien die regierende Conservative Party
(Cons./AEKR) weiterhin tief gespalten. Aller Voraussicht nach wird
der größere Teil der konservativen Wähler für den Austritt
stimmen; wenn die Bleiben-Seite bei dem Referendum insgesamt eine
Mehrheit gewinnt, wird das vor allem den Wählern von Labour (SPE)
und LibDems (ALDE) zu verdanken sein. Eine konservative
Parteirevolte, um den derzeitigen Regierungschef David Cameron durch
einen härter europaskeptischen Kandidaten zu ersetzen, ist deshalb
auch
ohne einen Brexit alles andere als auszuschließen.
Ärger
über die Versprechen des Europäischen Rates
Der
Rest der EU wiederum würde auf ein Bleiben-Votum der Briten wohl
recht bald mit einer „Kerneuropa“-Initiative reagieren. Ohne
einen Austritt Großbritanniens wären tiefgreifende institutionelle
Reformen im gesamteuropäischen Rahmen auf absehbare Zeit nur schwer
möglich. Schon vor einem guten Jahr haben deshalb mehrere
Regierungen Ideen
für eine stärkere politische Eigenständigkeit der Eurozone
vorgelegt. Nach dem britischen Referendum könnte deren Zeit nun
gekommen sein.
Doch
auch über das unmittelbare Verhältnis zwischen der EU und
Großbritannien könnte es bald neuen Ärger geben. Auf David
Camerons Drängen hin kündigten die Regierungschefs im Europäischen
Rat im vergangenen Februar eine Reihe von neuen Sonderregeln an, die
für das Land künftig gelten sollen, falls es sich in dem Referendum
gegen den EU-Austritt entscheidet. Wichtigster Bestandteil dieses New Settlement
for the United Kingdom ist die sogenannte eine
Einschränkung der EU-Freizügigkeitsrichtlinie, durch die
Großbritannien eingewanderten Unionsbürgern bestimmte
Sozialleistungen vorenthalten könnte.
In
seinem Versuch, Großbritannien zufriedenzustellen, machte der
Europäische Rat damals allerdings Versprechungen,
für die er den vertragsgemäßen Verfahren zufolge gar nicht
berechtigt war. Insbesondere überging er geflissentlich das
Europäische Parlament, ohne dessen Zustimmung die
Freizügigkeitsrichtlinie nicht geändert werden kann. Schon aus
institutionellem Eigeninteresse erklärten deshalb verschiedene
Europaabgeordnete in den vergangenen Wochen, dass sie sich dem Spiel
der Regierungschefs verweigern und nicht
für eine Einschränkung der Freizügigkeit stimmen werden.
Das
Neverendum
Für
die britischen Austrittsbefürworter wäre dies natürlich ein
willkommener Anlass, um eine Wiederholung des Referendums zu
verlangen. Vermutlich wird ein solcher Anlass aber ohnehin nicht
notwendig sein: Auch so kursiert in der britischen Öffentlichkeit schon längst die Sorge vor einem „Neverendum“
– einer niemals endenden Referendumsdebatte, in der sich weder die
Befürworter noch die Gegner des Brexit mit einer
Abstimmungsniederlage abfinden werden.
Angesichts
des heftigen und oft gehässigen Tonfalls der Auseinandersetzung wäre
das für Großbritannien wohl die düsterste Aussicht. Dass der
Streit über den Brexit zuletzt womöglich
sogar zum Motiv für einen politischen Mord wurde, ist dabei nur
die tragische Spitze des Eisbergs.
Camerons
Strategie ist gescheitert
Auf
jeden Fall ist damit auch die Strategie von David Cameron
gescheitert, der das Referendum eigentlich als einen
europapolitischen Befreiungsschlag geplant hatte. Der britische
Premierminister war innerhalb der Conservative Party einst auch dank
seiner europaskeptischen Linie aufgestiegen. So versprach er vor
seiner Wahl zum Parteichef 2005, die Mitgliedschaft der Conservatives
in der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen
Parlament aufzukündigen, was dann nach der Europawahl 2009 auch
tatsächlich geschah.
Einmal
im Amt, fand Cameron für seine Europaskepsis allerdings keine rechte
Verwendung mehr. Die Forderung nach einer Rückübertragung von
EU-Kompetenzen auf die Nationalstaaten lief ins Leere, als eine von
der britischen Regierung beauftragte Expertenkommission nach einer
Kosten-Nutzen-Rechnung 2013 schlicht keine
Politikbereiche fand, die sich für eine solche Rückübertragung
anboten. Das „Veto“, das Cameron 2011 gegen
den Fiskalpakt einlegte, wurde von den übrigen Mitgliedstaaten
ebenso ignoriert wie 2014 sein Widerstand
gegen die Ernennung von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) zum
Kommissionspräsidenten.
Das
Referendum sollte eine Diskurswende einleiten
Mit
dem Austrittsreferendum, das er vor seiner Wiederwahl als
Premierminister 2015 versprach, wollte Cameron deshalb mehrere Ziele
erreichen. Zum einen sollte es ihm einen Hebel gegenüber den anderen
Mitgliedstaaten bieten, um sich wenigstens einmal mit einer
medienwirksamen Forderung durchzusetzen. In dieser
Hinsicht ging sein Plan durchaus auf, wie das New Settlement
von vergangenem Februar zeigt.
Zum
anderen aber sollte das Referendum auch innenpolitisch eine
Diskurswende einleiten. Mit
dem Argument, Großbritannien
habe durch
das New Settlement einen
„Sonderstatus“ erreicht und könne künftig
von „dem Besten aus beiden Welten“ profitieren, setzte
sich Cameron
an die Spitze des Bleiben-Lagers
– und
hoffte offenbar, nach der
gewonnenen Volksabstimmung
das leidige
Europa-Thema für die nächsten Jahre los
zu sein.
Europaskeptiker besänftigen, statt sie zu überzeugen?
Das
Beeindruckende an diesem Manöver war,
dass Cameron seine
demonstrative Europaskepsis
zu keinem Zeitpunkt wirklich
ablegte.
Noch in seiner letzten
Rede vor dem Referendum betonte er, wie wichtig es sei, dass
Großbritannien nicht
in eine „immer engere
Union“ hineingezogen wird
und weder
der Eurozone noch dem Schengen-Raum beitritt.
Europaskeptische
Grundvorstellungen – etwa dass echte Demokratie nur auf nationaler
Ebene möglich ist – wurden im
Referendumswahlkampf zu keinem Zeitpunkt ernsthaft
in Frage gestellt.
Offenbar
in der Annahme, dass die pro-europäischen Wähler ohnehin für den
Verbleib in der EU stimmen würden, konzentrierte sich das das
Bleiben-Lager ganz auf die gemäßigten Europaskeptiker. Doch statt
diese von den
Vorteilen der europäischen
Integration zu überzeugen, versuchte
es sie eher
zu besänftigen.
Für Cameron (aber
übrigens auch
für die europafreundlicheren
Oppositionsparteien, die schon im Unterhauswahlkampf 2015 eine
ganz ähnliche Rhetorik pflegten)
standen durchweg die
britischen nationalen Interessen im Vordergrund.
Es mag sein, dass dieser
Kniff zuletzt genügen wird,
um das Referendum zu gewinnen. Doch
die grassierende
Europafeindlichkeit, die den
europapolitischen Diskurs in Großbritannien vergiftet und die
britische Gesellschaft spaltet, lässt sich damit nicht
überwinden.
Überzeugend
ist Europa nur, wenn man es ernst nimmt
Und
das ist vielleicht die wichtigste Lehre,
die auch nicht-britische
Politiker aus diesem Referendum ziehen sollten: Überzeugend
ist
das Projekt der
europäischen Einigung nur
dann, wenn
man es ernst nimmt – wenn
man bereit ist, sich eine Gesellschaft,
ein politisches Gemeinwesen, eine
Demokratie vorzustellen, die nicht an nationalen Grenzen haltmacht.
Der
halbherzige Versuch, den
Wählern die EU
dadurch schmackhaft zu
machen, dass man sich
selbst als Integrationsbremser
inszeniert, kann
hingegen nicht
erfolgreich sein, denn
am Ende wird es immer einen
populistischen Europagegner
geben, der die nationale
Rhetorik noch besser
beherrscht.
Am
heutigen Donnerstag entscheidet das
Vereinigte Königreich über seinen Austritt oder Verbleib in der
Europäischen Union. Die
Auswirkungen werden
weitreichend sein und lassen
sich im Einzelnen noch kaum absehen.
Doch wie
auch immer das Referendum
ausgeht: Dass die Briten in
einigen Jahren mit sich
und ihrem Verhältnis zur
Europäischen Union im Reinen
sein werden, scheint
derzeit fast
unmöglich.
Bild: By future15pic [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
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