23 Juni 2016

Zum Brexit-Referendum

Auch nach dem Referendum wird der Ärger weitergehen.
Die Wahllokale sind geöffnet: Am heutigen Donnerstag entscheidet das Vereinigte Königreich in einem Referendum über seinen Austritt oder Verbleib in der Europäischen Union. Auch auf dem Kontinent ist es lange her, dass ein einzelnes europapolitisches Ereignis so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Über das Ergebnis lässt sich den Umfragen zufolge nicht viel mehr sagen, als dass es wohl sehr knapp werden wird. Doch wie auch immer das Referendum ausgeht: Die Auswirkungen werden weitreichend sein und lassen sich heute im Einzelnen noch kaum absehen.

Ein Sprung ins Unbekannte

Sollten die Briten tatsächlich für den Austritt stimmen, käme das einem Sprung ins Unbekannte gleich. Schon was bis zum Wochenende passiert, ist unklar; im schlimmsten Fall könnte ein Brexit-Votum innerhalb weniger Tage gleichzeitig eine Finanz- und eine Regierungskrise auslösen. Mittelfristig kämen auf Großbritannien langwierige Verhandlungen mit dem Rest der EU über einen Austrittsvertrag und das künftige Nachbarschaftsverhältnis zu.

Dabei würde die Regierung wohl versuchen, einen Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu behalten – etwa nach dem Modell Norwegens. Das allerdings würde bedeuten, dass Großbritannien auch weiterhin einen Großteil des Europarechts übernehmen (und auch weiterhin in den EU-Haushalt einzahlen) müsste; und es ist kaum zu erwarten, dass sich die EU dabei allzu bereitwillig auf britische Ausnahme- und Sonderwünsche einlassen würde.

Für die EU bringt ein Brexit Risiken, aber auch Chancen

Für die EU selbst würde mit dem Brexit eine neue Phase der Unsicherheit anbrechen, die Risiken, aber auch Chancen brächte. Wirtschaftlich könnte die absehbare Krise in Großbritannien auch auf seine Handelspartner auf dem Kontinent übergreifen. Politisch würden ohne Zweifel Europagegner auch in anderen Ländern versuchen, das britische Votum als Wasser auf ihre eigenen Mühlen zu leiten. Die Vorsitzende des französischen Front National, Marine Le Pen, forderte zum Beispiel jüngst auf einem Treffen der rechtspopulistischen Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit, auch in allen anderen EU-Ländern Austrittsreferenden durchzuführen.

Ebenso gut könnten aber die vielfältigen Probleme, die nach einem Austrittsvotum auf Großbritannien zukommen, auch zum abschreckenden Beispiel werden. Und wer ganz optimistisch ist, kann sogar hoffen, dass der Brexit wie ein heilsamer Schock wirkt, der die übrigen Mitgliedstaaten näher zusammenrücken lässt – und dass mit der britischen Regierung der prominenteste Bremser im Europäischen Rat wegfällt, sodass der Weg zu neuen Integrationsschritten frei wird.

Auch ein Bleiben-Sieg würde die Konflikte nicht beenden

Falls hingegen die Bleiben-Seite gewinnt, wäre das kurzfristig natürlich der weniger spektakuläre Ausgang; das große Chaos wäre erst einmal vertagt. Doch dass die Konflikte um die britische Mitgliedschaft in der EU dadurch tatsächlich dauerhaft beendet würden, wäre eine zu große Erwartung.

Zum einen wäre in Großbritannien die regierende Conservative Party (Cons./AEKR) weiterhin tief gespalten. Aller Voraussicht nach wird der größere Teil der konservativen Wähler für den Austritt stimmen; wenn die Bleiben-Seite bei dem Referendum insgesamt eine Mehrheit gewinnt, wird das vor allem den Wählern von Labour (SPE) und LibDems (ALDE) zu verdanken sein. Eine konservative Parteirevolte, um den derzeitigen Regierungschef David Cameron durch einen härter europaskeptischen Kandidaten zu ersetzen, ist deshalb auch ohne einen Brexit alles andere als auszuschließen.

Ärger über die Versprechen des Europäischen Rates

Der Rest der EU wiederum würde auf ein Bleiben-Votum der Briten wohl recht bald mit einer „Kerneuropa“-Initiative reagieren. Ohne einen Austritt Großbritanniens wären tiefgreifende institutionelle Reformen im gesamteuropäischen Rahmen auf absehbare Zeit nur schwer möglich. Schon vor einem guten Jahr haben deshalb mehrere Regierungen Ideen für eine stärkere politische Eigenständigkeit der Eurozone vorgelegt. Nach dem britischen Referendum könnte deren Zeit nun gekommen sein.

Doch auch über das unmittelbare Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien könnte es bald neuen Ärger geben. Auf David Camerons Drängen hin kündigten die Regierungschefs im Europäischen Rat im vergangenen Februar eine Reihe von neuen Sonderregeln an, die für das Land künftig gelten sollen, falls es sich in dem Referendum gegen den EU-Austritt entscheidet. Wichtigster Bestandteil dieses New Settlement for the United Kingdom ist die sogenannte eine Einschränkung der EU-Freizügigkeitsrichtlinie, durch die Großbritannien eingewanderten Unionsbürgern bestimmte Sozialleistungen vorenthalten könnte.

In seinem Versuch, Großbritannien zufriedenzustellen, machte der Europäische Rat damals allerdings Versprechungen, für die er den vertragsgemäßen Verfahren zufolge gar nicht berechtigt war. Insbesondere überging er geflissentlich das Europäische Parlament, ohne dessen Zustimmung die Freizügigkeitsrichtlinie nicht geändert werden kann. Schon aus institutionellem Eigeninteresse erklärten deshalb verschiedene Europaabgeordnete in den vergangenen Wochen, dass sie sich dem Spiel der Regierungschefs verweigern und nicht für eine Einschränkung der Freizügigkeit stimmen werden.

Das Neverendum

Für die britischen Austrittsbefürworter wäre dies natürlich ein willkommener Anlass, um eine Wiederholung des Referendums zu verlangen. Vermutlich wird ein solcher Anlass aber ohnehin nicht notwendig sein: Auch so kursiert in der britischen Öffentlichkeit schon längst die Sorge vor einem „Neverendum“ – einer niemals endenden Referendumsdebatte, in der sich weder die Befürworter noch die Gegner des Brexit mit einer Abstimmungsniederlage abfinden werden.

Angesichts des heftigen und oft gehässigen Tonfalls der Auseinandersetzung wäre das für Großbritannien wohl die düsterste Aussicht. Dass der Streit über den Brexit zuletzt womöglich sogar zum Motiv für einen politischen Mord wurde, ist dabei nur die tragische Spitze des Eisbergs.

Camerons Strategie ist gescheitert

Auf jeden Fall ist damit auch die Strategie von David Cameron gescheitert, der das Referendum eigentlich als einen europapolitischen Befreiungsschlag geplant hatte. Der britische Premierminister war innerhalb der Conservative Party einst auch dank seiner europaskeptischen Linie aufgestiegen. So versprach er vor seiner Wahl zum Parteichef 2005, die Mitgliedschaft der Conservatives in der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament aufzukündigen, was dann nach der Europawahl 2009 auch tatsächlich geschah.

Einmal im Amt, fand Cameron für seine Europaskepsis allerdings keine rechte Verwendung mehr. Die Forderung nach einer Rückübertragung von EU-Kompetenzen auf die Nationalstaaten lief ins Leere, als eine von der britischen Regierung beauftragte Expertenkommission nach einer Kosten-Nutzen-Rechnung 2013 schlicht keine Politikbereiche fand, die sich für eine solche Rückübertragung anboten. Das „Veto“, das Cameron 2011 gegen den Fiskalpakt einlegte, wurde von den übrigen Mitgliedstaaten ebenso ignoriert wie 2014 sein Widerstand gegen die Ernennung von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) zum Kommissionspräsidenten.

Das Referendum sollte eine Diskurswende einleiten

Mit dem Austrittsreferendum, das er vor seiner Wiederwahl als Premierminister 2015 versprach, wollte Cameron deshalb mehrere Ziele erreichen. Zum einen sollte es ihm einen Hebel gegenüber den anderen Mitgliedstaaten bieten, um sich wenigstens einmal mit einer medienwirksamen Forderung durchzusetzen. In dieser Hinsicht ging sein Plan durchaus auf, wie das New Settlement von vergangenem Februar zeigt.

Zum anderen aber sollte das Referendum auch innenpolitisch eine Diskurswende einleiten. Mit dem Argument, Großbritannien habe durch das New Settlement einen „Sonderstatus“ erreicht und könne künftig von „dem Besten aus beiden Welten“ profitieren, setzte sich Cameron an die Spitze des Bleiben-Lagers – und hoffte offenbar, nach der gewonnenen Volksabstimmung das leidige Europa-Thema für die nächsten Jahre los zu sein.

Europaskeptiker besänftigen, statt sie zu überzeugen?

Das Beeindruckende an diesem Manöver war, dass Cameron seine demonstrative Europaskepsis zu keinem Zeitpunkt wirklich ablegte. Noch in seiner letzten Rede vor dem Referendum betonte er, wie wichtig es sei, dass Großbritannien nicht in eine „immer engere Union“ hineingezogen wird und weder der Eurozone noch dem Schengen-Raum beitritt. Europaskeptische Grundvorstellungen – etwa dass echte Demokratie nur auf nationaler Ebene möglich ist – wurden im Referendumswahlkampf zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Frage gestellt.

Offenbar in der Annahme, dass die pro-europäischen Wähler ohnehin für den Verbleib in der EU stimmen würden, konzentrierte sich das das Bleiben-Lager ganz auf die gemäßigten Europaskeptiker. Doch statt diese von den Vorteilen der europäischen Integration zu überzeugen, versuchte es sie eher zu besänftigen. Für Cameron (aber übrigens auch für die europafreundlicheren Oppositionsparteien, die schon im Unterhauswahlkampf 2015 eine ganz ähnliche Rhetorik pflegten) standen durchweg die britischen nationalen Interessen im Vordergrund. Es mag sein, dass dieser Kniff zuletzt genügen wird, um das Referendum zu gewinnen. Doch die grassierende Europafeindlichkeit, die den europapolitischen Diskurs in Großbritannien vergiftet und die britische Gesellschaft spaltet, lässt sich damit nicht überwinden.

Überzeugend ist Europa nur, wenn man es ernst nimmt

Und das ist vielleicht die wichtigste Lehre, die auch nicht-britische Politiker aus diesem Referendum ziehen sollten: Überzeugend ist das Projekt der europäischen Einigung nur dann, wenn man es ernst nimmt – wenn man bereit ist, sich eine Gesellschaft, ein politisches Gemeinwesen, eine Demokratie vorzustellen, die nicht an nationalen Grenzen haltmacht. Der halbherzige Versuch, den Wählern die EU dadurch schmackhaft zu machen, dass man sich selbst als Integrationsbremser inszeniert, kann hingegen nicht erfolgreich sein, denn am Ende wird es immer einen populistischen Europagegner geben, der die nationale Rhetorik noch besser beherrscht.

Am heutigen Donnerstag entscheidet das Vereinigte Königreich über seinen Austritt oder Verbleib in der Europäischen Union. Die Auswirkungen werden weitreichend sein und lassen sich im Einzelnen noch kaum absehen. Doch wie auch immer das Referendum ausgeht: Dass die Briten in einigen Jahren mit sich und ihrem Verhältnis zur Europäischen Union im Reinen sein werden, scheint derzeit fast unmöglich.

Bild: By future15pic [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

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