03 Februar 2016

Donald Tusks Angebot an Großbritannien: diplomatische Glanzleistung oder Gefahr für das europäische Projekt?

David Cameron (Cons./AEKR) und Donald Tusk (PO/EVP) sind sich weitgehend einig – auch in ihrer Neigung zum Intergouvernementalismus.
Es ist so weit: Nach mehreren Monaten, in denen man über die mögliche Reaktion der EU auf die „Reform“-Forderungen der britischen Regierung nur diskutieren und spekulieren konnte, hat nun der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk (PO/EVP), seinen „Vorschlag für eine neue Vereinbarung mit dem Vereinigten Königreich“ präsentiert (Wortlaut). Die Reaktionen darauf hätten kaum vielfältiger ausfallen können; allein die deutsche Tagesschau bewertete den Vorschlag gleichzeitig als „ein bisschen Kosmetik“ und als „Kniefall vor Cameron“. Und während der britische Premierminister selbst in einer Rede erklärte, wenn der Vorschlag angenommen würde, sehe er keinen Grund mehr für einen EU-Austritt, dominierte unter den britischen Medien die Skepsis.

Camerons Forderungen

Zur Erinnerung: Bis spätestens Ende 2017, wahrscheinlich aber noch in diesem Sommer, wird Großbritannien ein Referendum über die weitere Mitgliedschaft des Landes in der EU durchführen. Die regierende Conservative Party (Cons./AEKR) ist zu dem Thema tief gespalten, selbst die Kabinettsminister werden vor der Abstimmung für unterschiedliche Positionen werben. Regierungschef David Cameron selbst allerdings hat seine Haltung davon abhängig gemacht, ob es ihm gelingt, gegenüber dem Rest der EU vor dem Referendum bestimmte Forderungen durchzusetzen.

Vergangenen November formulierte Cameron diese Forderungen in einem Brief an den Ratspräsidenten im Einzelnen aus (Wortlaut). Insbesondere verlangte er:

eine Garantie, dass Entscheidungen der Euro-Mitgliedstaaten den Nicht-Mitgliedern nicht zum Nachteil gereichen und den einheitlichen Binnenmarkt nicht gefährden und dass Nicht-Mitglieder sich nicht finanziell an Euro-Stabilisierungsmaßnahmen wie dem ESM beteiligen müssen;
ein Bekenntnis der EU zur Förderung von „Wettbewerbsfähigkeit“, insbesondere durch Deregulierung und Bürokratieabbau;
eine Ausnahmeregelung für Großbritannien vom Prinzip der „immer engeren Union“, wie es in Art. 1 EUV festgeschrieben ist;
ein „Rote-Karte-Verfahren“, durch das eine Gruppe nationaler Parlamente gemeinsam einen EU-Gesetzesentwurf kippen könnte;
eine Einschränkung der EU-Freizügigkeitsrichtlinie, sodass Großbritannien eingewanderten Unionsbürgern leichter den Zugang zu britischen Sozialleistungen versperren und kriminelle Unionsbürger leichter ausweisen kann.

All dies sollte, so Camerons Forderung weiter, „rechtsverbindlich und unumkehrbar“ gemacht werden und „wo nötig, Vertragskraft erhalten“.

Ein gelungenes Stück Ratsdiplomatie?

Liest man nun Tusks Vorschlag, so scheint es wenigstens auf den ersten Blick, als ob Cameron sich auf voller Linie durchgesetzt hätte. Auf jede einzelne seiner Forderungen hat der Ratspräsident eine Antwort, und in keinem Fall fällt diese negativ aus. Die dahinterstehende Botschaft ist klar: Der Europäische Rat ist bereit, Camerons Bedenken weit entgegenzukommen – niemand in Großbritannien soll sagen können, der Starrsinn und die Unnachgiebigkeit der EU machten einen Austritt unvermeidlich.

Auf den zweiten Blick fallen die Zugeständnisse allerdings schon weniger spektakulär aus. Tatsächlich beschränkt sich Tusks Angebot in vielen Fällen auf „Klarstellungen“ zur Vertragsinterpretation oder auf Maßnahmen, die ohnehin bereits geplant waren. Aus dieser Sicht wirkt der Vorschlag wie ein gelungenes Stück Ratsdiplomatie: ein Kompromiss, der mit minimalem Aufwand an tatsächlichen Veränderungen alle Seiten maximal gut dastehen lässt, ohne dabei den Kern des europäischen Projekts anzutasten.

Auf den dritten Blick allerdings kommen auch an dieser Interpretation Zweifel auf. Denn gerade in seinem Bemühen, einen möglichst gut aussehenden Kompromiss zu präsentieren, geht Donald Tusk mit dem institutionellen Aufbau und den geltenden Verfahren der EU ausgesprochen grob um. Sein Vorschlag ist das Ergebnis von Verhandlungsdiplomatie der alten Schule – etwas, worüber die EU eigentlich längst hinausgewachsen ist. Doch dazu weiter unten mehr.

Selbstverständlichkeiten zur Währungsunion

Wie sieht Tusks Angebot nun konkret aus? In Bezug auf die Währungsunion besteht es zum großen Teil aus einer Aufzählung von Selbstverständlichkeiten: Die Euro-Länder und die Mitgliedstaaten, die nicht den Euro verwenden, schulden sich wechselseitigen Respekt. Diskriminierung im Binnenmarkt ist verboten. Die Beteiligung an Maßnahmen zur Stützung der Währungsunion ist für Nichtmitglieder freiwillig. Die Euro-Finanzminister treffen sich zwar informell in der Eurogruppe, für formale Entscheidungen ist jedoch der Ministerrat zuständig, wo die Nicht-Euro-Staaten zwar in Sachen Währungsunion nicht mitentscheiden, aber mitreden dürfen.

Noch das Interessanteste in diesem Bereich ist ein neues Verfahren, mit dem Nicht-Mitgliedstaaten der Bankenunion im Rat Bedenken anmelden können, wenn sie der Meinung sind, dass sie durch einen Mehrheitsbeschluss der übrigen Länder diskriminiert werden könnten. Auch in diesem Fall soll der Rat aber nur verpflichtet sein, „die Angelegenheit zu diskutieren“ und „alles in seiner Macht Stehende zu tun, um in einem vernünftigen Zeitrahmen […] eine zufriedenstellende Lösung zu finden“. Eine Mehrheitsabstimmung verhindern könnten die Nicht-Mitglieder auch zukünftig nicht.

Noch unspektakulärer fällt das Bekenntnis zur „Wettbewerbsfähigkeit“ aus, die sich die EU-Institutionen ohnehin längst auf die Fahnen geschrieben haben. Tusks Vorschlag nimmt daher vor allem auf schon laufende Maßnahmen Bezug, speziell das Better-Regulation- und das REFIT-Programm der Europäischen Kommission.

Immer engere Union“ und „rote Karte“

In Bezug auf die „immer engere Union“ vermeidet Tusk den Anschein einer Sonderbehandlung für das Vereinigte Königreich. Stattdessen legt sein Angebot wortreich dar, dass diese Formulierung nur signalisieren solle, „dass es das Ziel der Union ist, Vertrauen und Verständnis unter Völkern zu schaffen, die in offenen und demokratischen Gesellschaften leben und ein gemeinsames Erbe universeller Werte teilen“. Eine Rechtspflicht zu mehr politischer Integration sei daraus nicht zu entnehmen; zusätzliche Kompetenzen könne die EU nur durch Vertragsreformen erhalten; und wenn es dazu komme, stehe es Großbritannien frei, sich so viele Ausnahmeklauseln herauszuverhandeln, wie es wolle.

Etwas substanzieller ist Tusks Vorschlag zur „roten Karte“ der nationalen Parlamente. Im Wesentlichen knüpft er dabei an das schon existierende Verfahren zur Subsidiaritätskontrolle an, mit dem nationale Parlamente Bedenken anmelden können, wenn sie einen vorgeschlagenen EU-Rechtsakt für unnötig halten. Wenn 55 Prozent der nationalen Parlamente eine solche Subsidiaritätsrüge äußern, so Tusks Angebot, soll der Ministerrat das entsprechende Gesetzgebungsverfahren künftig automatisch fallen lassen. Das klingt erst einmal drastisch – doch zum vollen Bild gehört auch, dass bei allen bisherigen Subsidiaritätskontrollverfahren die nationalen Parlamente nicht einmal in die Nähe dieser 55-Prozent-Hürde gekommen sind.

Einfachere Ausweisungen von Unionsbürgern

Am ausführlichsten sind schließlich Tusks Vorschläge in Bezug auf die letzte britische Forderung, die Einschränkung der Freizügigkeit. Dies betrifft zum einen die Ausweisung von Unionsbürgern „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit“. Nach der Unionsbürger-Richtlinie von 2004 ist dies schon heute möglich, allerdings nur, wenn das „persönliche Verhalten“ des betreffenden Bürgers eine „tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr“ darstellt.

Tusk will den Wortlaut dieser Richtlinie nicht ändern. Durch neue Leitlinien der Kommission soll sie künftig allerdings so interpretiert werden, dass eine „gegenwärtige“ Gefahr auch durch vergangenes Verhalten begründet werden kann und dass eine strafrechtliche Verurteilung dafür keine Vorbedingung ist. Dadurch würden die nationalen Regierungen bei Ausweisungen einen größeren Handlungsspielraum erhalten – wenn auch zulasten der Rechtsstaatlichkeit, was Tusk jedoch nicht so explizit formuliert.

Eine zweifelhafte „Notbremse“ für Sozialleistungen

Zum anderen beinhaltet Tusks Angebot auch eine Möglichkeit, Sozialhilfeleistungen für eingewanderte Unionsbürger zu streichen. Hierfür soll es einen neuen sogenannten „Notbremse“-Mechanismus für Mitgliedstaaten geben, die ihr Sozialsystem aufgrund des Zustroms von Bürgern aus anderen EU-Ländern gefährdet sehen. Auf Antrag könnten die Kommission und der Ministerrat solchen Ländern gestatten, die neu eingewanderten Bürger für bis zu vier Jahre von Sozialleistungen auszuschließen.

Diese „Notbremse“, ohne Zweifel die größte materielle Reform in Tusks Entwurf, setzt allerdings eine Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie von 2011 voraus – und diese ist nur in Form des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens möglich. Damit Tusks Angebot umgesetzt werden kann, ist also zunächst einmal ein formeller Vorschlag der Kommission und anschließend eine Einigung zwischen dem Ministerrat und dem Europäischen Parlament notwendig.

In seinem Schreiben betont Tusk deshalb ausdrücklich die „enge und gute Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission“, die sich dazu bereit erklärt habe, im Falle einer Einigung mit Großbritannien einen entsprechenden Gesetzgebungsvorschlag vorzulegen. Wen Tusk jedoch überhaupt nicht erwähnt, ist das Europäische Parlament. Es scheint, als setze er die Zustimmung der Abgeordneten zu der „Notbremse“ einfach voraus, ohne sie auch nur gefragt zu haben. Aber warum sollten diese so ohne Weiteres in ein neues Verfahren einwilligen, das es den Mitgliedstaaten bzw. dem Rat erlauben würde, Unionsbürgerrechte zu beschränken – ohne dass das Parlament selbst daran irgendwie beteiligt wäre?

Auch Ministerrat und EuGH werden übergangen

Betrachtet man Tusks Vorschläge unter dieser Perspektive genauer, fällt auf, dass das Europäische Parlament nicht einmal die einzige Institution ist, über die sich der Ratspräsident nonchalant hinwegsetzt. Auch die Umsetzung des Rote-Karte-Mechanismus ist rechtlich zweifelhaft: Tusk möchte dafür nicht die formellen Verfahren ändern; die nationalen Regierungen sollen vielmehr im Ministerrat von sich aus jeden Vorschlag fallen lassen, den 55 Prozent der Parlamente ablehnen. Nun ist der Ministerrat aber rechtlich ein eigenständiges EU-Organ, dem der Europäische Rat, dessen Präsident Tusk ist, formal keine Vorschriften zu machen hat.

Und auch die Neuinterpretation der Unionsbürgerrichtlinie ist nicht so unproblematisch, wie Tusk sie darstellt. Sicherlich kann die Kommission Leitlinien für deren Umsetzung erlassen. Die Kompetenz zu einer rechtsverbindlichen Auslegung der Richtlinie hat aber letztlich nur der Europäische Gerichtshof – und ob dieser eine solche Einschränkung der Unionsbürgerrechte, wie sie Tusk und Cameron vorschwebt, akzeptieren wird, ist immerhin fraglich.

Von Zuständigkeitsfragen unbeeindruckt

Tusk selbst jedoch zeigt sich von derlei Zuständigkeitsfragen gänzlich unbeeindruckt. In seinem Schreiben sichert er David Cameron sogar zu, der größte Teil seines Vorschlags habe „die Form eines rechtlich verbindlichen Beschlusses der Staats- und Regierungschefs“. Nur: Nach Art. 15 Abs. 1 Satz 2 EUV wird der Europäische Rat ausdrücklich nicht gesetzgeberisch tätig. „Rechtlich verbindlich“ sind seine Beschlüsse nur in einigen sehr begrenzten Bereichen wie der gemeinsamen Außenpolitik oder der Ernennung bestimmter Amtsträger.

Und hier liegt nun das eigentliche Kernproblem mit Tusks Vorschlag. In seinen Verhandlungen mit der britischen Regierung tut der Ratspräsident so, als stünden sämtliche Errungenschaften der europäischen Integration zur diplomatischen Disposition der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat. Das aber ist mitnichten der Fall.

Vertragsgemäße Verfahren werden diplomatisch ausgehebelt

Die Europäische Union hat längst einen Grad an konstitutioneller Eigenständigkeit erreicht, in dem nicht mehr nur die Mitgliedstaaten über die gemeinsame Rechtsordnung entscheiden. Auch das Europäische Parlament, der Europäische Gerichtshof und die Unionsbürger als solche haben ihre jeweils eigenen verfassungsmäßigen Rechte, über die sich die nationalen Regierungen nicht einfach hinwegsetzen können, ohne Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verletzen.

Natürlich: Die gegenwärtige Situation ist besonders. Mit seiner Austrittsdrohung setzt David Cameron die EU unter Druck und erzwingt eine klare und entschiedene Antwort. Um die Situation nicht zu verkomplizieren, könnten die übrigen EU-Organe deshalb am Ende durchaus bereit sein, Donald Tusks Linie ohne weiteren Protest zu folgen. Doch die Leichtigkeit, mit der der Ratspräsident hier die vertragsgemäßen Verfahren der EU zugunsten einer rein diplomatischen Verhandlungslogik ausgehebelt hat, ist besorgniserregend. Wenn dieses Beispiel Schule macht, könnte das europäische Projekt weitaus größeren Schaden nehmen als durch jedes einzelne Zugeständnis an die britische Regierung.

Bild: Number 10 [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

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