23 Dezember 2015

Was die EU im Jahr 2016 erwartet

Ein solches Jahr habe ich jedenfalls noch nicht erlebt und kann nur hoffen, dass es 2016 besser wird.“
Martin Schulz (SPD/SPE), Präsident des Europäischen Parlaments, 17. Dezember 2015
Wenn beim Bleigießen ein (Europa-)Stern herauskommt, soll das Glück in der Liebe bringen. Auch das kann die EU sicher gut gebrauchen.

Die Zeiten, in denen „Rettungsroutine“ in Deutschland zum Wort des Jahres gewählt wurde, sind vorbei: Inzwischen haben wir uns anscheinend so daran gewöhnt, dass die EU von einer Krise in die nächste stolpert, dass es nicht mehr notwendig ist, das hervorzuheben. Doch während die großen Herausforderungen früher zwar in schneller Folge, aber doch meistens nacheinander kamen (ein halbes Jahr nach der Ratifikation des Vertrags von Lissabon erreichte die Eurokrise ihren ersten Höhepunkt), ist inzwischen immer öfter die Fähigkeit zum Multitasking gefragt. Die Aufgaben, vor denen die EU im kommenden Jahr steht, werden nicht höflich abwarten, bis sie auf der Tagesordnung an der Reihe sind, sondern sich alle gleichzeitig nach vorne drängeln. Hier ein – ohne Zweifel unvollständiger – Überblick.

Asylreform

Das beherrschende Thema des Jahres 2015 (und übrigens auch das aktuelle Wort des Jahres) waren natürlich die Flüchtlinge, die in größerer Zahl als je zuvor nach Europa kamen. Auch 2016 wird sich daran aller Voraussicht nach nichts ändern, was eine Reform des europäischen Asylsystems wohl unumgänglich macht.

Gemäß dem sogenannten Dublin-Verfahren muss ein Asylbewerber seinen Antrag derzeit in der Regel jeweils in dem Mitgliedstaat stellen, in dem er zum ersten Mal die EU betreten hat. Das aber führt zu einer Überforderung der Grenzstaaten wie Italien und Griechenland, die zuletzt deshalb neu ankommende Flüchtlinge immer wieder einfach ohne Registrierung weiterziehen ließen. Unter anderem von den gesamteuropäischen Parteien wurden deshalb verschiedene Vorschläge vorgebracht, wie sich die Lasten der Asylpolitik besser verteilen ließen – etwa in Form einer Quote zur Verteilung der Asylbewerber unter den Mitgliedstaaten. Auch die Europäische Kommission und einige große Länder wie Deutschland unterstützen diese Idee.

In den letzten Monaten allerdings sorgte schon eine Maßnahme, mit der einmalig 160.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien auf andere Staaten verteilt werden sollten, für großen Streit zwischen den Regierungen. Die Slowakei klagte gar vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den Beschluss, und umgesetzt ist er bis heute nicht.

Grenzschutzreform

Stattdessen richtete sich zuletzt viel Aufmerksamkeit auf den Schutz der gemeinsamen EU-Außengrenzen: Dass die Flüchtlinge überhaupt von Griechenland oder Italien in den Rest der EU weiterziehen konnten, liegt ja daran, dass die Grenzstaaten nicht die in der Schengen-Verordnung vorgesehenen Kontrollen und Registrierungsmaßnahmen durchführten. Die Kommission hat deshalb jüngst vorgeschlagen, dass die EU-Grenzschutzagentur Frontex solche Kontrollen künftig öfter selbst vornehmen soll – auch gegen den Willen der betreffenden Mitgliedstaaten.

Im Europäischen Rat stieß dieser Vorschlag zunächst nicht auf allzu viel Begeisterung. Trotzdem will die Kommission in der ersten Hälfte des Jahres 2016 eine Entscheidung darüber herbeiführen. Das Grundproblem des Dublin-Systems freilich wird dadurch nicht gelöst: Auch der beste Grenzschutz kann nicht verhindern, dass Flüchtlinge ankommen und Asylanträge stellen – und dass Italien und Griechenland allein mit einer so großen Zahl von Asylbewerbern überfordert sind.

Innere Sicherheit

Zusätzlich aufgeladen wurde das Flüchtlingsthema in den letzten Wochen noch durch die Terroranschläge vom 13. November in Paris, durch die Fragen der inneren Sicherheit für viele nationale Regierungen wieder weit oben auf der Tagesordnung stehen.

Schon im Dezember einigten sich Kommission, Ministerrat und Europäisches Parlament unter anderem darauf, künftig Fluggastdaten bei Flügen in die und aus der EU für fünfeinhalb Jahre zu speichern, obwohl das Parlament einen ähnlichen Vorschlag noch vor zwei Jahren aus Datenschutzgründen abgelehnt hatte. Die nationalen Regierungen wollen dabei sogar noch weiter gehen und die Fluggastdatenspeicherung auch auf innereuropäische Flüge anwenden. Weitere Maßnahmen könnten 2016 folgen.

Polen

Neuer Ärger entsteht der EU derzeit außerdem in Polen, das nach Ungarn zu Europas zweitem demokratischem Sorgenkind wird. Die neue Regierung unter Beata Szydło (PiS/AEKR) jedenfalls scheint seit ihrer Machtübernahme im November am Aufbau eines autoritären Staatswesens zu arbeiten, derzeit vor allem durch die Schwächung des nationalen Verfassungsgerichts.

Seitens der EU-Institutionen und der anderen Mitgliedstaaten scheint derzeit jedoch nur wenig Interesse an einer Eskalation zu bestehen. Außer einigen markigen Worten von Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD/SPE) und dem luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn (LSAP/SPE) war bisher jedenfalls nicht allzu viel Kritik zu hören. Je nach der weiteren Entwicklung der Lage allerdings wird die EU 2016 nicht tatenlos zusehen können, wie in einem weiteren EU-Mitgliedstaat demokratisch-rechtsstaatliche Institutionen untergraben werden.

Aufstieg rechtsextremer Parteien

Dies gilt umso mehr, als auch noch deutlich weiter rechts stehende Parteien in den letzten Monaten in vielen EU-Mitgliedstaaten schleichend an Kraft gewonnen haben. Insbesondere die rechtsextreme Bewegung für ein Europa der Nationen und der Freiheit um die Französin Marine Le Pen (FN/BENF) steht heute deutlich stärker da als noch vor einem Jahr.

Sämtliche nationalen Wahlen, die 2016 in der EU anstehen (in Irland, Zypern, der Slowakei, Litauen und Rumänien), finden allerdings in Ländern statt, in denen rechtsextreme Parteien nicht allzu einflussreich sind. Es ist deshalb möglich, dass das Thema im kommenden Jahr wieder aus dem Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet. Das aber könnte sich zuletzt als fatal erweisen – denn danach stehen 2017/18 gleich vier Wahlen an, bei denen BENF-Mitglieder sogar auf eine Regierungsbeteiligung hoffen können. Für die Parteien der Mitte könnte 2016 deshalb die letzte Chance sein, eine Gegenstrategie zu entwickeln.

Eurokrise

Fast vergessen ist unterdessen die Eurokrise, die noch vor wenigen Jahren alle Schlagzeilen beherrschte. Vor allem dank der Europäischen Zentralbank ist von einem Auseinanderbrechen der Währungsunion inzwischen so gut wie keine Rede mehr. Trotz leichter Verbesserungen im Jahr 2015 leidet die Eurozone allerdings noch immer unter schwachem Wachstum, niedriger Inflation und hoher Arbeitslosigkeit, sodass weitere Maßnahmen der Zentralbank folgen könntenund damit wie immer auch neuer Streit.

Gleichzeitig soll bis Juni 2017 auch die erste Stufe des sogenannten Fünf-Präsidenten-Berichts zur Reform der Wirtschafts- und Währungsunion umgesetzt werden. Vorgesehen sind dabei unter anderem die Vollendung des einheitlichen Abwicklungsmechanismus für europäische Pleitebanken, die Einführung einer europäischen Einlagensicherung, die Einrichtung nationaler Wettbewerbsfähigkeitsbehörden sowie eine stärkere Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken im Rahmen des Europäischen Semesters. Obwohl das, wie gesagt, nur die erste Stufe ist, stoßen fast alle diese Maßnahmen bei dem einen oder anderen Akteur auf heftigen Widerstand. Soll die Reform der Währungsunion dennoch erfolgreich sein, werden wir 2016 ernsthaft darüber diskutieren müssen.

Griechenland

Stattdessen könnte es allerdings sein, dass auch 2016 die Debatte über den Euro wieder einmal vor allem um die Haushaltslage von Griechenland kreist, das nach wie vor auf Hilfskredite der anderen EU-Mitgliedstaaten angewiesen ist. Nach den dramatischen Verhandlungen im letzten Sommer hat die Regierung unter Alexis Tsipras (Syriza/EL) zwar einige der Forderungen der übrigen Regierungen umgesetzt. Inzwischen aber steht sie innenpolitisch unter großem Druck, was zu weiteren Verzögerungen bei den vereinbarten Reformen führen könnte. Sollten die übrigen Regierungen daraufhin die Auszahlung der nächsten Kredittranche verweigern, könnte das Land schon im März wieder vor dem Bankrott stehen.

Verschärft wird der Konflikt natürlich noch dadurch, dass Griechenland auch im Mittelpunkt der Debatte über die Dublin-Reform und den europäischen Grenzschutz steht. Unter allen EU-Mitgliedstaaten dürfte Griechenland deshalb dasjenige mit den größten Herausforderungen sein.

Brexit-Referendum

All diese Probleme lenken ab von einem Thema, das unter anderen Umständen wohl für sich allein der Aufreger des Jahres wäre: das britische Referendum über den Austritt aus der EU, das spätestens Ende 2017, wahrscheinlich aber schon Mitte 2016 stattfinden wird. Zuvor aber soll es noch Nachverhandlungen über britische Wünsche zu einer „Reform“ der EU geben. Als Zieldatum für eine Einigung gilt der Gipfel des Europäischen Rates im kommenden Februar.

Noch vor kurzem galt dabei eine Umsetzung der britischen Forderungen schlicht als unmöglich. Zuletzt signalisierten beide Seiten jedoch Entgegenkommen; sogar über eine denkbare Vertragsreform wurde gesprochen, die aber erst nach dem britischen Referendum stattfinden würde. Wie genau eine Einigung aussehen könnte, ist derzeit allerdings weiterhin völlig unklar.

Freizügigkeitskompromiss mit der Schweiz

Aber nicht nur mit Großbritannien, auch mit der Schweiz stehen Nachverhandlungen auf der Tagesordnung. Bekanntlich beschloss das EU-Nachbarland Anfang 2014 in einem Referendum die Einführung eines strikten Quotensystems für jegliche Form von Zuwanderung – was gegen das Freizügigkeitsabkommen mit der EU verstoßen würde. Dieses Abkommen aber ist an mehrere andere europäisch-schweizerische Verträge geknüpft, die gemäß einer „Guillotine-Klausel“ nur gemeinsam gekündigt werden können. Die Folge wäre der faktische Ausschluss der Schweiz aus dem europäischen Binnenmarkt.

Gemäß einer Bestimmung in dem Referendum muss das Quotensystem innerhalb von drei Jahren, also bis Anfang 2017 umgesetzt werden. Bis dahin muss eine Lösung gefunden sein, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Inzwischen ist die EU offenbar zu einem Kompromiss auf Basis einer Notfallklausel in dem Abkommen bereit, die „bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen“ eine Einschränkung der Freizügigkeit vorsieht. Uneinigkeit besteht allerdings darüber, ob die Schweiz diese Klausel auch einseitig auslösen könnte – oder nur, wenn auch die EU damit einverstanden ist.

TTIP

Daneben stehen auch die Verhandlungen über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP inzwischen offenbar kurz vor dem Abschluss: Wie die Handelskommissarin Cecilia Malmström (L/ALDE) vor einigen Wochen ankündigte, soll das Abkommen bis Ende 2016 unterschriftsreif sein. Danach würde dann die Ratifikation im Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten der USA und der EU-Mitgliedstaaten beginnen. Der Mobilisierung bei den Anti-TTIP-Demonstrationen im vergangenen Oktober nach zu schließen, dürfte das für die Befürworter des Abkommens kein Zuckerschlecken werden.

Ob es wirklich noch 2016 zu einer Einigung über TTIP kommt, ist jedoch fraglich. Wie auch Malmström erklärte, wird in den USA im kommenden November ein neuer Präsident gewählt, und die Favoritin Hillary Clinton (Dem.) gab sich zuletzt eher freihandelsskeptisch. Es könnte also sein, dass die Karten dann noch einmal neu gemischt werden. 2017 folgen dann allerdings Wahlen in Frankreich und Deutschland – und auch die Regierungen dieser beiden Ländern dürften TTIP als Wahlkampfthema lieber vermeiden wollen.

Wahlrechtsreform

Vieles deutet also darauf hin, dass 2016 für Europa vor allem ein Jahr der Krisen wird, in dem es in erster Linie darum geht, das Schlimmste zu verhindern. Bei den meisten der wichtigen Themen, die sich abzeichnen, handelt die EU nur reaktiv: Im besten Fall kann sie die anstehenden Probleme irgendwie lösen; große Vorhaben für eine bessere Zukunft aber scheint es derzeit nicht zu geben.

Eine Ausnahme bildet in diesem Sinn allerdings die Reform des Europawahlrechts, die im vergangenen November im Europäischen Parlament beschlossen wurde und 2016 im Ministerrat verhandelt wird. Obwohl diese Reform an vielen Stellen hinter den Erwartungen zurückblieb, ist sie derzeit wohl das bedeutendste Einzelprojekt für die Stärkung der europäischen Demokratie. Die Hürden dafür bleiben allerdings hoch; jede einzelne Regierung könnte die Reform mit einem Veto zum Scheitern bringen.

Immerhin: Es wird uns auch im Jahr 2016 nicht langweilig werden. Hoffen wir, dass die Europäische Union danach in etwas besserer Verfassung ist als heute.

Erst einmal aber geht dieses Blog wie jedes Jahr für eine Weile in die Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein glückliches 2016!

Bild: By Gunnar Wrobel [CC BY-SA 2.0], via Flickr.

16 Dezember 2015

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (Dezember 2015): Große Koalition verliert, ALDE gewinnt

Stand: 14.12.2015
Es ist die letzte Europawahl-Projektion in diesem Jahr, und für die beiden größten Fraktionen im Europäischen Parlament geht 2015 nicht gut aus: Gegenüber der Oktober-Projektion müssen sowohl die christdemokratische EVP als auch die sozialdemokratische S&D deutlich Federn lassen. Der große Gewinner der letzten Wochen ist hingegen die liberale Fraktion ALDE.

GroKo-Mehrheit nur hauchdünn

Sowohl für die EVP (192 Sitze/–12) als auch für die S&D (185/–8) ist es das schlechteste Umfrageergebnis in dieser Wahlperiode; für die Christdemokraten ist es zudem das erste Mal, dass sie unter den symbolischen Wert von 200 Sitzen abrutschen. Zusammen würden die beiden Fraktionen der informellen Großen Koalition nun noch 377 Mandate erreichen – und hätten damit nur noch eine hauchdünne Mehrheit in dem insgesamt 751 Sitze umfassenden Parlament.

Wo dieser Rückgang herkommt, ist allerdings je nach Fraktion etwas unterschiedlich. Im Fall der S&D verteilen sich die Einbußen quer durch die ganze Union: In insgesamt sieben Mitgliedstaaten verlieren die Sozialdemokraten gegenüber der Oktober-Projektion ein oder zwei Sitze; nur in Österreich legen sie minimal zu.

Für die EVP hingegen konzentrieren sich die Verluste vor allem auf Polen: Nach der verlorenen Parlamentswahl im Oktober sacken die Christdemokraten in den Umfragen weiter ab und büßen sechs Mandate ein. Darüber hinaus verschlechtern sie sich noch in acht weiteren Ländern; in Ungarn, Portugal, den Niederlanden und Schweden können sie aber auch Sitze hinzugewinnen.

Gewinne der Liberalen

Während die großen Fraktionen verlieren, erreicht die ALDE mit 87 Sitzen (+12) ihren neuen Bestwert in dieser Wahlperiode. Auch hierfür erschließt sich die Ursache nicht auf den ersten Blick: Ist es eine Reaktion der Wähler, die sich angesichts der scharfen Sicherheitsmaßnahmen, die nach dem Terroranschlag in Paris in etlichen Mitgliedstaaten beschlossen wurden, nun den liberalen Bürgerrechtsparteien zuwenden?

Eher nicht: In Wirklichkeit dürfte der Aufschwung der ALDE wohl eher durch bestimmte nationale Effekte in einigen Mitgliedstaaten zu erklären sein. Allein acht der zwölf zusätzlichen Mandate gehen auf das Konto der polnischen Partei Nowoczesna (.N), die vom Niedergang der dortigen Christdemokraten profitiert. Außerdem setzt sich in Spanien der Höhenflug der Ciudadanos (Cʼs) weiter fort; in Rumänien würde der ALDE erstmals der Sprung über die nationale Fünfprozenthürde gelingen; und auch die tschechische ANO verzeichnet weiterhin sehr gute Umfragewerte.

Bemerkenswert daran ist, dass all diese Parteien noch sehr jung sind; die polnische .N wurde sogar erst in diesem Jahr gegründet. Die ALDE scheint derzeit also vor allem dort zuzulegen, wo sie sich als frische Alternative zu den Parteien der Großen Koalition profilieren kann. Lang etablierte Parteien wie die deutsche FDP und die britischen LibDem, die früher die ALDE dominierten, erlitten hingegen in den letzten Jahren massive Verluste und kommen bis heute nicht auf die Beine. Für den jüngst gewählten neuen ALDE-Parteivorsitzenden Hans van Baalen dürften diese Verschiebungen im parteiinternen Machtgleichgewicht noch einige Herausforderungen bringen.

Schleichender Aufstieg der Rechtsfraktionen

Doch nicht nur die Liberalen konnten ihre Umfragewerte in den letzten Wochen verbessern: Auch die drei Rechtsfraktionen EKR (68 Sitze/+2), EFDD (52/+1) und ENF (53/–1) legen in der Summe noch einmal leicht zu. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die bereits das ganze Jahr anhält – seit Januar waren die Parteien rechts der EVP in jeder Europawahl-Projektion etwas stärker als in der vorangehenden.

Auch der „Schock“, den viele Kommentatoren nach dem Erfolg des Front National (FN/ENF) bei der französischen Regionalwahl vergangene Woche konstatierten, kommt deshalb nicht wirklich überraschend. Der Aufstieg der Rechten in Europa geschieht nicht mit einem Paukenschlag, sondern als schleichender Prozess, und er findet nicht nur in einzelnen Ländern statt, sondern in fast der gesamten Union. Dass sich diese Entwicklung an der Europawahlprojektion besonders gut ablesen lässt, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigentliche Gefahr nicht die Rechtsfraktionen im Europäischen Parlament sind, sondern die mögliche Regierungsbeteiligung rechter Parteien in den Mitgliedstaaten.

Wenig Veränderung im linken Spektrum

Nur wenig Veränderungen gibt es schließlich im linken Teil des parlamentarischen Spektrums. Die Linksfraktion GUE/NGL profitiert von ihrer spanischen Mitgliedspartei Podemos, die kurz vor der nationalen Parlamentswahl noch einmal zulegen konnte. Außerdem kam es in Italien zu einem Zusammenschluss mehrerer linker Kleinparteien zur Sinistra Italiana (SI), die nun wieder knapp die nationale Vier-Prozent-Hürde überschreiten würde. In anderen Ländern büßt die GUE/NGL aber auch Sitze ein, sodass sie insgesamt nur minimal hinzugewinnt (52 Sitze/+1).

Bei der Fraktion der Grünen/EFA wiederum kommt es zu keinerlei Veränderung (33/±0): Nach den aktuellen Umfragen würde jede einzelne ihrer Mitgliedsparteien genau auf dieselbe Sitzzahl kommen wie in der Projektion vor acht Wochen.

Fraktionslose und weitere Parteien

Wenig Neues gibt es auch bei den Fraktionslosen, also den Parteien, die sich aufgrund ihrer (meist rechts- oder linksextremen) politischen Ausrichtung keiner Gruppierung im Parlament angeschlossen haben (12/±0). Einen Zuwachs verzeichnen hingegen die „weiteren“ Parteien, die derzeit nicht im Parlament vertreten sind und keiner Fraktion eindeutig zugeordnet werden können (17/+5). Drei von ihnen hätten nun erstmals die Chance, Sitze zu gewinnen:

● die liberalkonservative kroatische Partei Most, die ähnlich den deutschen Freien Wählern aus kommunalen Wahllisten entstanden ist und bei der kroatischen Parlamentswahl im November überraschend drittstärkste Kraft und das Zünglein an der Waage für die Regierungsbildung wurde;
● die rumänische Rechtsaußen-Partei PRM, die schon 2007 und 2009-14 im Europäischen Parlament vertreten war und 2007 mit einigen der heutigen ENF-Parteien die kurzlebige Fraktion Identität, Tradition, Souveränität (ITS) gründete, die aber schon nach wenigen Monaten im Streit auseinanderging;
● die rechtskonservative estnische EKRE, die mit Mitgliedern der EKR und der EFDD Verbindungen unterhält und sich bei einem Einzug ins Parlament wohl einer von diesen beiden Fraktionen anschließen würde.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Projektion für die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Da es bis heute keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert sie auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht und nach welchen Kriterien die nationalen Parteien den europäischen Fraktionen zugeordnet wurden, ist im Kleingedruckten unter der Tabelle erläutert.


GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
EP heute 52 50 190 70 216 75 45 38 15
Okt. 15 51* 33* 193* 75* 204* 66* 51 54 12 12
Dez. 15 52* 33* 185* 87* 192* 68* 52 53 12 17
DE 9 Linke
1 Tier
9 Grüne
1 Piraten
1 ödp
23 SPD 4 FDP
1 FW
36 Union 8 AfD
1 Familie


1 Partei
1 NPD
FR
2 EELV 18 PS 7 MD-UDI 23 LR

24 FN

GB 1 SF 3 Greens
4 SNP
16 Lab

21 Cons
1 UUP
26 UKIP
1 DUP
IT 3 SI
25 PD
9 FI
1 SVP

21 M5S 11 LN
3 FdI


ES 10 Pod
2 IU
1 ERC 13 PSOE 11 Cʼs
1 CDC
1 PNV
15 PP




PL

3 ZL 12 .N 11 PO 21 PiS


4 Kʼ15
RO

12 PSD 2 ALDE 13 PNL
3 MP




2 PRM
NL 3 SP 2 GL 2 PvdA 3 D66
4 VVD
4 CDA 1 CU
7 PVV
EL 7 Syriza
1 LAE

1 Potami
1 Pasok

5 ND 1 ANEL

2 XA
2 KKE
1 EK
BE
1 Groen
1 Ecolo
2 sp.a
3 PS
2 OpenVLD
3 MR
2 CD&V
1 cdH
1 CSP
4 N-VA
1 VB

PT 1 CDU
2 BE

8 PS
10 PSD-CDS




CZ 3 KSČM
6 ČSSD 7 ANO 2 TOP09
1 KDU-ČSL
2 ODS



HU
1 LMP 2 MSZP
1 DK

12 Fidesz


5 Jobbik
SE 1 V 1 MP 6 S 2 C
1 L
5 M
4 SD


AT
2 Grüne 5 SPÖ 1 Neos 4 ÖVP

6 FPÖ

BG

5 BSP 2 DPS 7 GERB
2 RB




1 PF
DK 1 FmEU
4 S 3 V
1 LA

4 DF



FI 1 Vas 2 Vihr 3 SDP 3 Kesk
1 SFP
2 Kok 1 PS



SK

7 SMER
1 KDH
1 M-H
1 OĽ-NOVA
1 SNS
2 Sieť
IE 3 SF

3 FF 3 FG



2 Unabh.
HR

4 SDP
4 HDZ



3 Most
LT
1 LVŽS 4 LSDP 2 LRLS
1 DP
2 TS-LKD
1 TT


LV

3 Sask 2 ZZS 1 V 2 NA



SI 1 ZL
1 SD 2 SMC
1 DeSUS
2 SDS
1 NSi-SLS





EE

1 SDE 1 RE
2 KE





1 EVA
1 EKRE
CY 2 AKEL
1 DIKO
1 EDEK

2 DISY




LU
1 Gréng 1 LSAP 1 DP 3 CSV




MT

3 PL
3 PN






Verlauf

GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
14.12.20155233185871926852531217
17.10.20155133193752046651541212
21.08.20155635190742047047491115
30.06.201561341887320569 43471120
03.05.201560321938020562 4451159
10.03.201560311967721660 4349127
12.01.201565401907021259 4743178
18.11.201460421956921259 4743168
23.09.20145339196672236147401510
28.07.2014564719175215664440134
EP 01.07.14525019167221704837
15

Die Zeile „EP 01.07.14“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 1. Juli 2014, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2014. Die Spalte für die ENF-Fraktion gibt bis Mai 2015 die Werte der Europäischen Allianz für Freiheit (EAF) bzw. der Bewegung für ein Europa der Nationen und Freiheiten (BENF) und ihr nahestehender Parteien an, die bis zur Fraktionsgründung im Juni 2015 fraktionslos waren.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Bei den weiteren Parteien ist zudem die ungefähre politische Ausrichtung angegeben, um ihre Bündnismöglichkeiten auf europäischer Ebene anzudeuten. Da die betreffenden Parteien allerdings oft erst vor kurzer Zeit gegründet wurden, befindet sich ihre Programmatik zum Teil noch im Fluss, sodass die Angabe lediglich zur groben Orientierung dienen kann.

Fraktionszuordnung
Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Wahl erklärt. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören oder ihr in der politischen Ausrichtung sehr nahe stehen, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind und bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden als „Weitere Parteien“ eingeordnet. Diese Zuordnungen folgen zum Teil natürlich auch einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung der Parteien. Jeder Leserin und jedem Leser sei es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden nach der Projektion diese Bedingungen erfüllen. Andere Gruppierungen müssten gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Datengrundlage
Soweit verfügbar, wurde bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. In Ländern, wo es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder wo die letzte solche Umfrage mehr als ein Jahr zurückliegt, wurde stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament verwendet. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wurde der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet. Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wurde auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel wurden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. In Ländern, wo die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (Frankreich, Vereinigtes Königreich, Belgien, Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen.
Nationale Sperrklauseln, soweit vorhanden, werden in der Projektion berücksichtigt. In Ländern, in denen es üblich ist, dass Parteien zu Wahlen in Listenverbindungen antreten, werden der Projektion jeweils die am plausibelsten erscheinenden Listenverbindungen zugrunde gelegt.
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, FW, Familienpartei, PARTEI und NPD). In Großbritannien haben wegen der Unterschiede im Wahlrecht einige Parteien nur bei Europawahlen echte Chancen, Mandate zu gewinnen. In Umfragen zu nationalen Wahlen schneiden diese Parteien deshalb strukturell deutlich schlechter ab als bei der Europawahl. Dies gilt vor allem für UKIP und Greens. Um dies zu kompensieren, wird in der Projektion für die Greens stets das Ergebnis der Europawahl herangezogen (3 Sitze). Für UKIP und LibDem werden die aktuellen Umfragewerte für nationale Wahlen verwendet, aber für die Projektion mit dem Faktor 3 (UKIP) bzw. 1,33 (LibDem) multipliziert. In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb jeweils mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.
Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf:
Deutschland: nationale Umfragen, 30.11.-12.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: nationale Regionalwahl-Umfragen, 23.11.-3.12.2015 (29.3.2015 für LR, MD-UDI), Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, England: nationale Umfragen, 1.-11.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Wales: regionale Umfragen für die nationale Parlamentswahl, 4.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Schottland: Regionalwahl-Umfragen, 4.-16.11.2015, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Nordirland: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 7.5.2015.
Italien: nationale Umfragen, 29.11.-9.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 27.11.-12.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 3.-13.12.2015, Quelle: Ewybory.eu.
Rumänien: nationale Umfragen, 6.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Niederlande: nationale Umfragen, 3.-13.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 26.11.-4.12., Quelle: Wikipedia.
Belgien, Flandern: regionale Umfragen für die nationale Parlamentswahl, 2.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Belgien, Wallonien: regionale Umfragen für die nationale Parlamentswahl, 18.5.2015, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Portugal: nationale Umfragen, 2.-9.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 18.-27.11.2015, Quelle: Wikipedia. 
Ungarn: nationale Umfragen, 19.11.2015, Quelle: Wikipedia.
Schweden: nationale Umfragen, 19.11.-2.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 6.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: nationale Umfragen, 13.7.2015, Quelle: News7.
Dänemark: nationale Umfragen, 29.11.-10.12.2015, Quelle: Berlinske Barometer.
Finnland: nationale Umfragen, 1.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 21.11.-1.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 2.-13.12.2015, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 25.11.-4.12..2015, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 14.11. 2015, Quelle: Vilmorus.
Lettland: nationale Umfragen, August 2015, Quelle: Latvian Facts.
Slowenien: nationale Umfragen, Oktober/November 2015, Quelle: Episcenter, Ninamedia.
Estland: nationale Umfragen, November 2015, Quelle: Wikipedia.
Zypern: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Luxemburg: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Malta: nationale Umfragen, Oktober 2015, Quelle: Malta Today.

Bilder: Eigene Grafiken.