Noch ist nichts entschieden: In der ersten Runde der französischen Parlamentswahl gewann das rechtsextreme Rassemblement National (RN/ID) zwar die meisten Stimmen. Doch der Vorsprung fiel nicht ganz so hoch aus wie in einigen Umfragen erwartet, und durch Bündnisse der anderen Parteien im zweiten Wahlgang könnte eine absolute Mehrheit des RN im Parlament und damit eine RN-Regierung noch verhindert werden. Aber wenn es doch dazu kommt, wären die Auswirkungen beträchtlich – und zwar nicht nur für Frankreich selbst, sondern auch für die Europäische Union.
Doppelköpfigkeit auf europäischer Ebene
Im semipräsidentiellen System Frankreichs ist die Regierungsmacht zwischen der direkt gewählten Präsident:in und der vom Parlament gewählten Regierung aufgeteilt. Gewinnt das RN eine absolute Mehrheit im Parlament, käme es zu einer sogenannten cohabitation, bei der der Präsident – bis 2027 Emmanuel Macron (RE/–) – und die Regierung unterschiedlichen Parteien angehören. Regierungschef würde aller Voraussicht nach RN-Chef Jordan Bardella.
Diese Doppelköpfigkeit würde sich auch in der Repräsentation Frankreichs auf EU-Ebene widerspiegeln. Im Europäischen Rat, dem Gremium der Staats- und Regierungschef:innen, würde weiterhin Macron den französischen Sitz einnehmen. Im Rat hingegen wäre Frankreich künftig durch die RN-Minister:innen vertreten.
Streit um das französische Kommissionsmitglied
Die Außenpolitik gilt dabei zwar traditionell als Domäne der Präsident:in. Allerdings sind die Kompetenzen nicht in allen Fällen klar abgegrenzt – zumal in der Europapolitik mit ihren eigenen, besonderen Verfahren. Zum ersten, unmittelbaren Konflikt käme es gleich bei der Nominierung des französischen Kommissionsmitglieds: Weder aus dem europäischen noch aus dem französischen Recht geht eindeutig hervor, ob die Zuständigkeit dafür bei Macron oder bei der Regierung liegt.
Zum letzten Mal kam es zu einem solchen Fall im Jahr 1999, als ebenfalls eine neue Europäische Kommission ernannt wurde, während es in Frankreich eine Cohabitation zwischen RPR (EVP-nah) und PS (SPE) gab. Allerdings konnte Frankreich damals noch zwei Kommissionsmitglieder stellen, die RPR und PS untereinander aufteilten. Heute hingegen schlägt jedes Land nur noch eine Kommissar:in vor. Während sich Macron für eine zweite Amtszeit des derzeitigen Binnenmarktkommissar Thierry Breton (RE-nah) ausgesprochen hat, besteht Bardella darauf, selbst über diese Personalie zu entscheiden.
Die Ressortverteilung liegt bei der Kommissionspräsident:in
Das Europarecht selbst ist in dieser Frage offen: Nach Art. 17 (7) EUV werden die Kommissionsmitglieder „auf der Grundlage der Vorschläge der Mitgliedstaaten“ ausgewählt – und zwar im Rat, was auf den ersten Blick für ein Vorschlagsrecht der Regierung spricht. Im letzten Schritt werden die Kommissionsmitglieder (nach einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments) allerdings vom Europäischen Rat ernannt, was wiederum das Macron-Lager als Argument für sich nimmt.
Sowohl der Rat als auch der Europäische Rat handeln bei der Kommissionswahl übrigens mit qualifizierter Mehrheit, sodass Frankreich grundsätzlich auch überstimmt werden könnte. Kommt es innerhalb Frankreichs zu keiner Einigung auf einen eindeutigen Vorschlag, so könnte dieser Streitfall also womöglich zuletzt von den anderen Regierungen gelöst werden. Das wäre ein Novum in der Geschichte der EU-Institutionen.
So oder so wird der Einfluss von Rechtsaußenparteien auf die Kommission aber sehr begrenzt bleiben. Außer Frankreich werden voraussichtlich nur Italien und Ungarn Rechtsaußenpolitiker:innen als Kommissionsmitglied vorschlagen. Zudem liegt die Verteilung der Ressorts innerhalb der Kommission allein bei der Kommissionspräsident:in, voraussichtlich wieder Ursula von der Leyen (CDU/EVP). Selbst wenn ein RN-Mitglied in die Kommission gewählt würde, wäre es dort also voraussichtlich nur für ein relativ unwichtiges Thema zuständig.
Gesetzgebung: Rechtsaußen-Sperrminorität im Rat
Problematischer wird die Rolle der Rechtsaußenparteien in der europäischen Gesetzgebung. Hier spielen der Europäische Rat und damit auch Emmanuel Macron keine Rolle. Vielmehr ist das ordentliche Gesetzgebungsverfahren der EU (nach Art. 294 AEUV) eine Art Ping-Pong-Spiel zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat, in dem Frankreich künftig durch die RN-Minister:innen vertreten wäre.
Im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, das für die meisten EU-Politikbereiche angewandt wird, gilt im Rat jedoch die qualifizierte Mehrheit: Damit ein Vorschlag angenommen wird, muss er von mindestens 55 % der Regierungen (also 15 von 27) unterstützt werden, die mindestens 65 % der EU-Bevölkerung repräsentieren. Auch hier könnte Frankreich also grundsätzlich überstimmt werden.
Je mehr rechte Regierungen, desto rechter die Kompromisse
Allerdings wäre Frankreich ja nicht der einzige Mitgliedstaat mit einer rechten Regierung – auch in Italien, den Niederlanden, Finnland, Kroatien, Ungarn, Tschechien und der Slowakei sind Mitgliedsparteien der europäischen Rechtsaußenfraktionen EKR und ID an nationalen Regierungskoalitionen beteiligt. Gemeinsam mit Frankreich repräsentieren diese Regierungen etwas mehr als 40 % der europäischen Bevölkerung und hätten damit im Rat künftig eine Sperrminorität. Zum ersten Mal in der Geschichte der EU wäre es unmöglich, einen europäischen Rechtsakt zu beschließen, ohne dass mindestens eine Regierung mit Rechtsaußen-Beteiligung ihm zugestimmt hat.
In der Praxis wäre auch dies nur eine graduelle Änderung: Im Rat wird in der Regel nicht strikt nach parteipolitischen Linien abgestimmt, und eine Brandmauer gegen Rechtsaußen gibt es hier schon heute nicht. Doch je größer der Anteil rechter Regierungen, desto weiter rechts fallen natürlich auch die Kompromisse aus, auf die sich der Rat einigt. Und Frankreich als zweitgrößter Mitgliedstaat spielt dabei eine besondere Rolle.
Integrationsfortschritte werden noch schwieriger
Unmittelbarer würde sich die Präsenz einer RN-Regierung im Rat auf die Bereiche auswirken, in denen das Einstimmigkeitsprinzip gilt und damit jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht hat. Dazu würden zum Beispiel neue Militär- und Finanzhilfen für die Ukraine oder neue Sanktionen gegen Russland oder Belarus gehören, aber auch der nächste mehrjährige Finanzrahmen ab 2028 sowie alle relevanten Beschlüsse in der Erweiterungspolitik und bei institutionellen Reformen.
Immerhin: Nach den ungarischen Blockadeversuchen der letzten Jahre haben die übrigen Mitgliedstaaten inzwischen eine gewisse Erfahrung, mit welchen (mehr oder weniger zweifelhaften) Tricks sich Vetos auch umgehen lassen. Auch eine französische Rechtsaußenregierung müsste deshalb nicht alle Entwicklungen zum Erliegen bringen, sondern könnte womöglich neue Kreativität bei der Entwicklung „differenzierter“ Lösungen freisetzen.
Aber auch hier kommt natürlich das besondere Gewicht Frankreichs als zweitgrößter Mitgliedstaat zum Tragen: Insbesondere die deutsche Bundesregierung dürfte sich unwohl fühlen, die europäische Integration ohne seinen traditionellen Partner im „deutsch-französischen Motor“ voranzutreiben. Und in Sachen institutionelle Reform verliefen die Fortschritte zuletzt ja auch ohne RN schon ausgesprochen schleppend.
Neue Konflikte um den Vorrang des Europarechts
Das größte Konfliktpotenzial zwischen einer RN-Regierung und dem Rest der EU dürfte aber noch einmal an anderer Stelle liegen – nämlich bei der Einheit der europäischen Rechtsgemeinschaft. Das RN machte in seinem Europawahlprogramm kein Geheimnis daraus, dass es die EU gern in einen reinen Staatenbund umwandeln würde, in dem nicht nur die Kommission vollständig entmachtet wird, sondern auch das nationale Recht Vorrang gegenüber gemeinsamen europäischen Regeln erhält. Wenigstens für die Migrationspolitik will das RN Letzteres sogar einseitig durch ein nationales Referendum durchsetzen.
Wer in den vergangenen Jahren den Konflikt zwischen der (2023 abgewählten) polnischen Rechtsaußenregierung bzw. dem von ihr kontrollierten polnischen Verfassungsgericht einerseits und dem Europäischen Gerichtshof andererseits mitverfolgt hat, dem wird dieses Muster unheilvoll bekannt vorkommen. Der grundsätzliche Vorrang des Europarechts ist seit sechs Jahrzehnten fest in der Funktionsweise der EU verankert. Ihn einseitig in Zweifel zu ziehen würde notgedrungen zu massiver Rechtsunsicherheit führen, da es die französischen Gerichte vor die Frage stellen würde, ob sie der nationalen oder der europäischen Rechtsordnung Folge leisten sollen – eine Art „EU-Austritt nach innen“.
Gegen ein Nettozahlerland helfen Finanzsanktionen wenig
Die Europäische Kommission würde in einem solchen Fall (wie schon gegenüber Polen) wohl mit einem Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof reagieren, das letztlich zu Strafzahlungen und Zwangsgeldern gegen Frankreich führen könnte. Allerdings ist Frankreich (anders als Polen) ein EU-Nettozahlerland. Wenn die EU Zahlungen an Frankreich einstellt, könnte ein RN-dominiertes Parlament deshalb darauf reagieren, indem es die französischen Beiträge zum EU-Haushalt blockiert.
Erleichtert würde dies dadurch, dass Frankreich (anders als andere Mitgliedstaaten) über die Auszahlung seiner EU-Beiträge schon heute jährlich im Rahmen des nationalen Haushaltsgesetzes abstimmt. Das ist eigentlich nicht europarechtskonform, da es sich bei den nationalen EU-Beiträgen nicht um einen Teil des nationalen Haushalts handelt, sondern um Eigenmittel der EU, die von den Mitgliedstaaten nur eingetrieben werden. Es war bislang nur deshalb unproblematisch, weil regelmäßig eine Mehrheit im französischen Parlament für die Auszahlung der Beiträge stimmte.
Sollte das RN das ändern, hätte die EU jedoch ein Problem: Ohne eine eigene Finanzverwaltung fehlen ihr die Möglichkeiten, um gegen ein solches Machtspiel vorzugehen. Damit zeigt sich eine wichtige Achillesferse der in den letzten Jahren entwickelten europäischen Rechtsstaatsmechanismen, die zum wesentlichen Teil auf Finanzsanktionen ausgerichtet sind – und deshalb gegen eine hart spielende Regierung eines Nettozahlerlandes nur begrenzt Wirkung entfalten können.
Für ein Referendum braucht das RN die Präsident:in
Dass diese Konflikte nach einer möglichen Regierungsübernahme des RN gleich in den nächsten Jahren eskalieren, ist allerdings unwahrscheinlich: Um ein nationales Verfassungsreferendum einzuberufen, das für eine europarechtsfeindliche Justizreform nötig wäre, braucht die französische Regierung die Zustimmung der Staatspräsident:in – und das ist Emmanuel Macron.
Wenigstens in den ersten Jahren stünde eine RN-Regierung unter Jordan Bardella also noch unter der Kontrolle der nationalen Gerichte. Wirklich hart auf hart käme es erst, wenn bei der nächsten französischen Präsidentschaftswahl 2027 die RN-Anführerin Marine Le Pen als Siegerin hervorgeht. Der EU bleiben noch drei Jahre, um sich auf den Ernstfall vorzubereiten. Wie auch immer die Wahl am Sonntag ausgeht: Sie sollte damit nicht allzu lange warten.
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