25 Januar 2023

Jenseits des „deutsch-französischen Motors“? 60 Jahre nach dem Elysée-Vertrag

Von Manuel Müller
Deutsche und französische Flagge in einer Reihe anderer Flaggen.
Nur zwei unter vielen: Eine immer weniger deutsch-französische EU braucht neue Formen der Kompromissfindung.

Und, sind Sie gut durch die 60-Jahre-Elysée-Vertrag-Feierlichkeiten gekommen? Am vergangenen Sonntag hatte der deutsch-französische Freundschaftsvertrag seinen runden Geburtstag, und natürlich mangelte es bei dem dazugehörigen Festakt nicht an feierlichen Worten. Präsident Emmanuel Macron (RE/–) und Kanzler Olaf Scholz (SPD/SPE) veröffentlichten einen gemeinsamen Namensartikel über die „Stärkung Europas“ und setzten eine prominent besetzte Expertengruppe ein, die Vorschläge für institutionelle Reformen der EU machen soll.

Doch so ganz wollte die Begeisterung dieses Jahr nicht überspringen. Das liegt teilweise daran, dass sich über die letzten Monate eine ganze Reihe von Streitpunkten zwischen den beiden Regierungen aufgetan haben. Das gemeinsame Kabinettstreffen, das nun anlässlich der Jubiläumsfeier stattfand, war ursprünglich schon für letzten Oktober geplant gewesen und damals, zum ersten Mal in der Geschichte, kurzfristig abgesagt worden.

Entzauberung der Partnerschaft

Klar: In gewisser Weise spricht es gerade für das deutsch-französische Verhältnis, dass die beiden Regierungen auch in solchen Situationen noch eng zusammenarbeiten. Und auch in früheren Jahren war es ja eher die Regel als die Ausnahme, dass Deutschland und Frankreich in wichtigen Fragen erst einmal unterschiedliche Positionen vertraten – und dann gerade dadurch, dass sie sich zusammenrauften, einen entscheidenden Beitrag für die europäische Entscheidungsfindung insgesamt leisteten.

Aber womöglich liegt gerade hier die eigentliche Entzauberung der deutsch-französischen Partnerschaft: Denn anders als früher wirkt es heute eben nicht mehr so, als ob eine Einigung auf bilateraler Ebene auch schon ein Durchbruch für die EU insgesamt sein könnte. Die Reibereien zwischen Deutschland und Frankreich erscheinen nur noch als eine innereuropäische Konfliktlinie unter anderen.

Die deutsch-französische Allianz war niemals ganz unproblematisch

Wie sehr sich der europäische Rahmen der deutsch-französischen Partnerschaft verändert hat, wird im historischen Rückblick deutlich. Ganz unproblematisch war der Elysée-Vertrag freilich nie: Als Konrad Adenauer und Charles de Gaulle ihn 1963 unterzeichneten, diente er auch als Ersatz für die intergouvernementale „Europäische Politische Union“, die die französische Regierung ein Jahr zuvor vorgeschlagen hatte – und die am Widerstand vor allem der Benelux-Länder gescheitert war, die davon eine Schwächung der supranationalen Institutionen und eine französische Dominanz befürchteten.

Mit dem Elysée-Vertrag gelang es Charles de Gaulle, seine Idee einer auf zwischenstaatlichen Regierungskonsultationen beruhenden Zusammenarbeit wenigstens auf bilateraler Ebene mit Deutschland zu institutionalisieren. Rhetorisch verklärt wurde dies als die Überwindung einer „Erbfeindschaft“, die 1963 allerdings ohnehin schon lange Vergangenheit war. Immerhin, die kulturelle Zusammenarbeit, etwa in Form von Städtepartnerschaften oder des Deutsch-Französischen Jugendwerks, dürfte einen wichtigen Beitrag geleistet haben, die Menschen beider Länder anzunähern. Aber politisch stieß die deutsch-französische Allianz niemals auf das ungetrübte Vertrauen der übrigen Mitgliedstaaten.

„Compromis par procuration“

Dass sie sich dennoch zum vielbeschworenen „Motor“ der europäischen Integration entwickeln konnte, lag vor allem an einem anderen Phänomen, das man mit dem Begriff des „compromis par procuration“ bezeichnet. Abgesehen davon, dass Frankreich und Deutschland die beiden größten Mitgliedstaaten waren, standen sie bei den wichtigen integrationspolitischen Debatten, die die Europapolitik über viele Jahrzehnte geprägt haben, oft eigentlich auf entgegengesetzten Seiten.

Frankreich vertrat traditionell ein intergouvernemental-exekutives, auf den Europäischen Rat ausgerichtetes Integrationsmodell, Deutschland galt als Verfechter eines parlamentarisch-föderalen Systems mit starken supranationalen Institutionen. Frankreich setzte auf einen eigenständigen europäischen Kurs in der Außen- und Sicherheitspolitik, Deutschland suchte die Nähe zu den USA und der NATO. Frankreich wollte frühzeitig den Binnenmarkt um eine Währungsunion ergänzen, Deutschland eine starke D-Mark unter Kontrolle der unabhängigen Bundesbank. Frankreich setzte wirtschaftlich auf Industriepolitik, Deutschland auf Ordnungspolitik. Frankreich setzte in der Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik auf eine Orientierung nach Süden, Deutschland nach Osten.

In Einigungen des Tandems fand auch die übrige EU sich wieder

Gerade diese unterschiedlichen Ausgangspositionen machten deutsch-französische Kompromissen dann aber zu einer guten Grundlage für eine gesamteuropäische Einigung: Wenn sich die beiden größten Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Linie einigen konnten, dann sahen auch die übrigen Länder darin meist ihre wichtigsten Interessen berücksichtigt.

Für die EU als Ganzes bedeutete die deutsch-französische Partnerschaft deshalb eine wichtige Reduktion von Komplexität: Es ist einfacher, zu zweit einen Basis-Kompromiss zu finden, der dann im Europäischen Rat nur noch um diesen oder jenen Sonderwunsch kleinerer Mitgliedstaaten ergänzt werden muss, als in einem Plenum mit zwölf, fünfzehn oder gar siebenundzwanzig Ländern zu verhandeln.

Großbritannien blieb immer Außenseiter

Zugleich verschaffte diese Konstellation Deutschland und Frankreich aber natürlich auch einen besonderen politischen Einfluss auf die EU. Sie waren es meist, die gemeinsam die großen Linien festlegten, und ohne sie bewegte sich in aller Regel nichts. Die allgemeine Stoßrichtung der europäischen Integration blieb deshalb über sehr lange Zeit von der deutsch-französischen Agenda geprägt.

Am deutlichsten bekam das Großbritannien zu spüren, wo nach dem Beitritt 1973 viele Politiker:innen erwartet hatten, als dritter großer Mitgliedstaat künftig eine mindestens gleichberechtigte Rolle neben dem deutsch-französischen Tandem spielen zu können. Doch den folgenden Auseinandersetzungen, etwa um die Gemeinsame Agrarpolitik oder die Währungsunion, blieb Großbritannien immer ein Außenseiter. Es konnte der deutsch-französischen Linie zwar den ein oder anderen Stein in den Weg legen, aber niemals ein echtes Gegenmodell dazu entwickeln.

Vertrauensverlust in der Eurokrise

Doch der compromis par procuration funktioniert nur so lange, wie die kleineren Mitgliedstaaten ihre Interessen tatsächlich durch Deutschland oder Frankreich repräsentiert sehen. In erste ernsthafte Schwierigkeiten geriet dieses Modell während der Eurokrise. Zwar vertrat das Tandem auch hier entgegengesetzte Positionen, mit denen sie unterschiedliche Ländergruppen repräsentierten: Deutschland forderte wie die nordeuropäischen Länder Austerität und nationale Eigenverantwortung, Frankreich setzte wie der Süden der EU eher auf zwischenstaatliche Solidarität.

Doch da Frankreich selbst finanziell angeschlagen war und die Regierungen unter Nicolas Sarkozy (UMP/EVP) und François Hollande (PS/SPE) politisch schwach blieben, fiel der resultierende Kompromiss zwischen beiden Ländern allzu „deutsch“ aus. Die Kosten der Eurokrise wurden zum größten Teil von den Krisenländern selbst getragen – was in Südeuropa zu einem Vertrauensverlust in die EU allgemein und die deutsch-französische Führung im Speziellen führte.

Besser lief es während der Corona-Pandemie, als Deutschland in der Frage gemeinsamer EU-Anleihen über den eigenen Schatten sprang und dabei auch die skeptischen nordeuropäischen Länder mitnahm. Der deutsch-französische Vorschlag von Mai 2020, der zwei Monate später zur europäischen Einigung über einen Wiederaufbaufonds führte, war in dieser Hinsicht ein Musterbeispiel für einen compromis par procuration.

Entfremdung mit den nordöstlichen Ländern

Das Jahr 2022 brachte indessen eine noch größere Herausforderung für die deutsch-französische Führungsrolle: die starke Entfremdung, die sich zwischen dem Tandem und den nordöstlichen Mitgliedstaaten aufgetan hat. In Bezug auf den Umgang mit Russland gelten Deutschland und Frankreich beide als Teil des „Tauben“-Lagers, für das Russland den Krieg in der Ukraine zwar nicht gewinnen darf, das aber grundsätzlich eine Verhandlungslösung als bestes Mittel für eine stabile Nachkriegsordnung ansieht.

In Nord- und Ostmitteleuropa halten viele diesen Ansatz hingegen für gefährlich, da eine Verhandlungslösung nicht ohne Zugeständnisse der Ukraine möglich wäre – und damit die russische Regierung für ihren Angriffskrieg belohnen und einen Anreiz für künftige Aggressionen setzen würde. Aus Sicht etwa der baltischen Staaten ignorieren Deutschland und Frankreich damit essenzielle Sicherheitsinteressen ihrer EU-Partner.

Auf der Suche nach Alternativmodellen zur Komplexitätsreduktion

Auf einen deutsch-französischen compromis par procuration will vor diesem Hintergrund niemand mehr setzen. Das Misstrauen gegenüber dem traditionellen Integrationsmotor ist so stark wie wohl noch nie zuvor in der Geschichte der EU. Und auch wenn sich für die aktuellen strategischen Streitigkeiten mittelfristig wohl Lösungen finden lassen, dürfte das Grundproblem bleiben: Die EU ist heute so groß und so heterogen geworden, dass eine Einigung zwischen den zwei größten Mitgliedstaaten in vielen Fällen eben nicht mehr genügt, um den wesentlichen Interessen auch der übrigen Länder gerecht zu werden.

Aber welche anderen Modelle sind möglich, um die Komplexität zwischenstaatlicher Verhandlungen auf EU-Ebene zu reduzieren? In vergangenen Jahren gab es verschiedene Experimente, die deutsch-französische Zusammenarbeit um weitere Partner zu erweitern, die repräsentativ für andere Gruppen von Mitgliedstaaten stehen sollten – insbesondere das „Weimarer Dreieck“ mit Polen. Aufgrund der autoritären Entwicklung der polnischen Regierung verlor dieses Format seit 2015 jedoch stark an Bedeutung.

Multipolarer Minilateralismus?

Eine andere Möglichkeit liegt in einem Bedeutungsgewinn der sogenannten minilateralen Foren: regionale Gruppen wie die Visegrád-4 oder die Nordic-Baltic 6, die zunächst untereinander nach einem Interessenausgleich suchen, um dann auf Gesamt-EU-Ebene geschlossener aufzutreten.

Diese Gruppenbildung passt zu einer „multipolaren“ EU, die nicht nur auf die zwei größten Mitgliedstaaten blickt, sondern in der je nach Thema unterschiedliche Akteure und Akteursgruppen im Vordergrund stehen. Sie kann helfen, Verhandlungen im Rat vorzustrukturieren. Im schlechteren Fall kann sie aber auch zu einer Blockade führen, da es regionalen Gruppen schwerer fällt als Einzelregierungen, für einen gesamteuropäischen Kompromiss eigene Positionen aufzugeben.

Beispielhaft zeigt sich das an den festgefahrenen Verhandlungen über die Lastenverteilung in der EU-Migrationspolitik: Hier stehen sich vor allem die Mittelmeerstaaten und die ostmitteleuropäischen Visegrád-Länder gegenüber – und die Gespräche über die europäische Asylreform kommen seit Jahren kaum voran.

Stärkung der supranationalen Organe

Bleibt noch ein letzter Weg, wie in einer immer größeren und damit immer weniger nur deutsch-französischen EU die Komplexität politischer Verhandlungen reduziert werden kann: nämlich durch eine Stärkung der gemeinsamen supranationalen Organe.

Die Kommission hat schon nach ihrer institutionellen Stellung den Auftrag, ein gesamteuropäisches Interesse zu verfolgen, das keinen Teil der EU unberücksichtigt lässt. Das Europäische Parlament wiederum bietet mit seinen gesamteuropäischen Parteien und Fraktionen ein Modell, in dem nicht primär nationale Interessen, sondern weltanschauliche Positionen die Debatte strukturieren – und damit ganz andere Kompromisslinien in den Blick geraten können, als dies bei zwischenstaatlichen Verhandlungen der Fall ist.

Der „Motor“ der EU müssen ihre eigenen Institutionen sein

Deutschland und Frankreich als „Integrationsmotor“: Dieses Modell hat die europäische Einigung über viele Jahrzehnte geprägt und kann in bestimmten Konstellationen auch heute noch wirksam sein. Doch auf die Dauer kann eine EU mit 27 Mitgliedstaaten und 450 Millionen Einwohner:innen (und bald womöglich noch mehr) nicht davon abhängig sein, dass zwei nationale Regierungen bei ihrer bilateralen Kompromisssuche auch die Interessen aller anderen im Blick behalten.

Dass Deutschland und Frankreich sich mit der Einsetzung der Expertengruppe nun noch einmal zum Ziel einer institutionellen Reform bekannt haben, ist deshalb vielleicht der wichtigste Beitrag, den das Tandem für eine auch in Zukunft funktionierende EU leisten kann. Möge die deutsch-französische Freundschaft auch weiterhin blühen und gedeihen: Europa braucht als Motor der Integration seine eigenen starken repräsentativen Institutionen.


Bild: Flaggen: Joshua Fuller [Unsplash license], via Unsplash.

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