21 Juni 2022

Das europapolitische Quartett: Nord-, Mittel- und Osteuropa gegen das deutsch-französische Tandem?

Mit:
  • Minna Ålander, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin
  • Carmen Descamps, Deutsche Botschaft, Madrid
  • Manuel Müller, Universität Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
  • Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.

Karte der EU. Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen und Schweden sind orange hervorgehoben. Bulgarien, Kroatien, Polen, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn sind rot hervorgehoben.
EU-Mitgliedstaaten in Nordeuropa (orange) und in Mittel- und Osteuropa (rot), nach EuroVoc-Klassifikation.

Manuel
Der russische Angriff auf die Ukraine hat auch in der EU in den letzten Monaten zu einigen Veränderungen geführt. Dazu gehört auch eine Verschiebung der informellen Ländergruppen und Allianzen zwischen Regierungen im Rat: Die nördlichen und östlichen Mitgliedstaaten, die eine harte Haltung gegenüber Russland fordern, sind enger zusammengerückt. Polen und Ungarn, lange Zeit enge Verbündete in der Visegrád-Gruppe, haben sich über den Krieg entzweit. Aber auch Deutschland und Frankreich stoßen unter den nord- und ostmitteleuropäischen Staaten auf scharfe Kritik.

Im europapolitischen Quartett sind wir heute zu fünft: Mit dabei ist diesmal auch Minna Ålander von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Minna, du hast vor einigen Wochen auf Twitter die Abkürzung NCEE („Northern, Central and Eastern Europe“) geprägt, die sich seitdem ausgebreitet hat. Magst du zum Einstieg kurz sagen, wen du mit NCEE genau meinst – und welche gemeinsamen Interessen und Positionen diese Länder aus deiner Sicht verbinden?

Was vereint die NCEE-Länder?

Minna
Ich habe im Laufe des Frühlings beobachtet, dass die nord-, zentral- und osteuropäischen Länder immer mehr eine einheitliche Position gegenüber Russland im Krieg gegen die Ukraine vertreten. NCEE ist keine feste oder formalisierte Gruppe. Für mich zählen dafür die nordischen und baltischen Länder, die mittel-osteuropäischen Länder außer Ungarn, aber auch südosteuropäische Staaten wie Rumänien. Also quasi die Länder in der (direkten) Nachbarschaft von Russland bzw. die Russland potenziell in seiner Einflusssphäre sieht. Wobei in letzter Zeit innerhalb der Gruppe vor allem die nordischen Staaten zunehmend an Sichtbarkeit gewonnen haben.

Karte der EU. Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei und Ungarn sind farbig hervorgehoben.
EU-Mitgliedstaaten mit einer gemeinsamen Landgrenze mit Russland oder der Ukraine.

Als kleinster gemeinsamer Nenner der NCEE hat sich dabei die Kritik an bzw. Opposition zur deutsch-französischen Position herauskristallisiert – die inzwischen teilweise auch etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Der Frust über Scholz und Macron, vor allem wegen deren mehrdeutiger Kommunikation, ist so gewachsen, dass ihnen inzwischen alles Mögliche zugetraut wird, je dreckiger desto besser. Dabei verschwimmen immer mehr die Unterschiede zwischen berechtigter Kritik und „Bashing“.

Carmen
… was auch insofern interessant ist, als es diese (einheitliche) deutsch-französische Position gar nicht unbedingt immer gibt. Aber dazu sicher später mehr.

Die Brexit-Waisen

Julian
„Kleinster gemeinsamer Nenner“ finde ich hier ein gutes Stichwort. Wenn wir über Ländergruppen in der EU sprechen, liegt der Diskussion immer die Annahme zugrunde, die jeweilige Gruppe habe in unterschiedlichen Politikfeldern gemeinsame Interesse. Mit Blick auf die NCEE sehe ich das nicht. Außer in der Politik gegenüber Russland scheinen mir die Positionen in vielen Feldern zu unterschiedlich – und selbst zu Russland gibt es einzelne Regierungen mit abweichenden Haltungen. Ich denke deshalb nicht, dass die NCEE-Länder als Gruppe eine gestaltende Kraft in Europa werden.

Minna
Was die NCEE-Länder schon vorher gemeinsam hatten, ist, dass sie sich stark am Vereinigten Königreich orientiert haben. Die nordischen Mitgliedstaaten haben sich regelrecht hinter Großbritannien versteckt und sich drauf verlassen, dass es alles blockiert, was sie auch nicht wollen, ohne dass sie selbst es so artikulieren mussten. Seit dem Brexit finden sie zunehmend, dass ein Gegengewicht zum „deutsch-französischen Motor“ fehlt.

Julian
Da hast du sicherlich recht. Übrigens sind die NCEE-Länder damit nicht allein – ich würde sogar sagen, dass es auch für Deutschland oft ein Problem ist, dass das Vereinigte Königreich jetzt nicht mehr als Proxy-Staat „Nein“ sagt.

Allerdings lässt sich aus einer Ablehnung weiterer Integration keine Politik machen. Sie mögen „in Vielfalt verneinen“ (um es hier etwas schief mit einem Buchtitel von Wolf Schünemann zu sagen), aber damit werden sie nicht viel erreichen. Statt ihre Interessen durchzusetzen, werden sie sich so in einer europaskeptischen Falle verfangen. Das war ja auch die eigentliche Tragödie der britischen Europapolitik.

Gemeinsame Ablehnung von Vertragsreformen

Manuel
Tatsächlich zeigt sich dieses Muster auch hinsichtlich des Follow-up zur EU-Zukunftskonferenz: Das „Non-Paper der 13“, in dem eine Gruppe von Regierungen am 9. Mai Vertragsreformen abgelehnt hat, wurde fast ausschließlich von nord- und ostmitteleuropäischen Ländern unterzeichnet. Hier haben die NCEE-Länder also eine gemeinsame Position in einer Frage, die nichts mit Russland zu tun hat, aber es ist im Wesentlichen eine Blockadeposition.

Minna
Bei der Opposition gegen die Vertragsreform geht es den NCEE-Ländern allerdings wahrscheinlich weniger darum, Vertragsänderungen per se abzulehnen. Worum es geht, ist eine (teils irrationale) Angst davor, dass Deutschland und Frankreich die Gelegenheit nutzen würden, um die EU in eine (föderale) Richtung zu entwickeln, die in NCEE nicht gewollt ist. Stattdessen unterstützen die NCEE-Länder eine schnelle Aufnahme der Ukraine – im Prinzip geht es also um den alten Gegensatz „Vertiefung vs. Erweiterung“.

Karte der EU. Bulgarien, Dänemark, Estland, Finnland, Kroatien, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Schweden, Slowenien und Tschechien sind farbig hervorgehoben.
Unterzeichnerstaaten des „Non-Papers der 13“.

Die Gründe dafür sind unterschiedlich: Die ostmitteleuropäischen Länder haben ihre Unabhängigkeit erst vor kurzem wiedererlangt und legen deshalb viel Wert auf nationale Souveränität. Die nordischen EU-Mitglieder wiederum sind ohnehin oft nur halb dabei und sehen die EU-Integration nicht als primäre Staatsräson. Zum Beispiel ist Dänemark zwar schon in den 1970ern beigetreten, hat aber viele Opt-outs; Schweden ist nicht in der Eurozone; und Finnland ist in den 90ern eigentlich vor allem aus sicherheitspolitischen Gründen beigetreten, obwohl die EU ja nicht primär eine sicherheitspolitische Union ist.

Insgesamt gibt es also wenig Lust auf weitere Kompetenzübertragungen. Und diese Angst vor Deutschland und Frankreich zu schüren ist eine gängige europaskeptische Strategie, zumindest in Finnland.

Antiföderalismus ohne Alternativvorschläge?

Manuel
Ich finde den „Kleinstaaten-Antiföderalismus“ allgemein ein interessantes Phänomen. Mir leuchtet die Idee schon ein, dass man auf Vetorechten beharrt, weil man darin einen Schutz für die nationale Identität sieht. Aber letztlich bedeuten mehr Vetorechte und weniger Kompetenzen für die supranationalen Institutionen vor allem, dass mehr Entscheidungen intergouvernemental getroffen werden. Und mehr Intergouvernementalismus bedeutet, dass die großen Mitgliedstaaten besser ihre Stärke ausspielen können.

Historisch war unter den Gründungsmitgliedern der EU das „große“ Frankreich intergouvernementalistisch orientiert, während die „Kleinen“ (damals die Niederlande, Belgien und Luxemburg) für eine starke Kommission und Europäisches Parlament eintraten. Dass Föderalismus heute als eine Forderung der „Großen“ gilt, gegen die sich die „kleinen“ NCEE-Länder glauben verteidigen zu müssen, ist eine eigenartige Umkehrung.

Julian
Die andere Seite der Medaille ist natürlich auch, dass Staaten wie Dänemark mit dem bisherigen Opt-out in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder Polen außerhalb der Eurozone panische Angst davor haben, dass Politik ohne sie gestaltet wird …

Sophie
Dabei sind kleine Staaten in der EU sogar überrepräsentiert. Wenn sie die Politik von Frankreich und Deutschland nicht mögen, sollten sie Alternativvorschläge für die weitere Integration machen. Die sehe ich bisher nicht.

Auch dass die NCEE-Länder sich in dem Non-Paper vom 9. Mai gegen Vertragsreformen geäußert haben, aber gleichzeitig für eine EU-Erweiterung sind, scheint mir etwas widersprüchlich zu sein. Außer sie haben vor, die EU noch handlungsunfähiger zu machen.

Julian
Ja genau. Weil sie sich nicht positiv, konstruktiv auf etwas einigen können, gestalten sie nicht mit.

Minna
Ich beobachte allerdings auch eine Art „Renaissance“ der europäischen Identität im Norden (und ich glaube zumindest teils auch im Osten). Man hat jetzt gesehen, wie die Ukraine für die EU-Perspektive wortwörtlich mit ihrem Leben kämpft. Das hat die EU irgendwie aufgewertet.

Wo stehen die Niederlande?

Carmen
Hallo zusammen – ich war gerade kurz offline. Aber jetzt ist mein Internet wieder hergestellt! 😊

Zwischenfrage: Wo verorten wir in diesem Koordinatensystem denn die Niederlande heute? Ich möchte das „Schwarzer Peter“-Spiel nicht zu weit führen, aber wenn wir über Proxy-Staaten mit Bedenken gegenüber tieferer Integration reden, gerade auch in der Post-Brexit-Perspektive, ist das doch mindestens der Rede wert.

Minna
Die Niederlande waren traditionell ja ein Kernmitglied der „Frugal Four“. Aber es zeichnet sich gerade ab, dass sich deren Position vielleicht ändert.

Sophie
Ich denke, der Brexit hat dazu geführt, dass die Niederlande sich europapolitisch neu ordnen mussten. Was nicht schlecht ist – das Non-Paper mit Spanien zu Wirtschaftsreform hat mich positiv überrascht. Und auch im Bereich Rechtsstaatlichkeit haben sich die Niederlande zuletzt stärker positioniert.

Manuel
Ja, interessanter Punkt! Nach dem gescheiterten Referendum über die EU-Verfassung 2005 hatten viele niederländische Parteien ja erst mal ein großes Misstrauen gegenüber einer weiteren Supranationalisierung entwickelt. Es wird interessant zu sehen, ob es jetzt wieder einen Schwenk zurück zu integrationsfreundlicheren Positionen gibt.

Carmen
Ich teile euren Eindruck hinsichtlich der Frugal Four und der Neupositionierung nach dem Brexit – ich hatte selbst Ähnliches festgestellt und wollte prüfen, ob ihr das auch so seht. Gerade das spanisch-niederländische Finanzpapier war interessant, weil es quer zu einer alten Konfrontationslinie verlief. Mal abwarten, was da noch kommt.

Vorwürfe an Emmanuel Macron

Sophie
Ich denke, wir sollten noch mal auf die Rolle von Frankreich und Deutschland zurückkommen. Beide Länder stehen wegen des Kriegs in der Ukraine gerade stark in der Kritik, aber eigentlich sind ihre Positionen sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite steckt Deutschland in einer Identitätskrise (sind wir noch Pazifisten, wenn wir schwere Waffen an die Ukraine liefern?). Auf der anderen Seite war in Frankreich Macron erst mal im Kampagnenmodus für die Präsidentschaftswahlen. Er hat den Krieg in der Ukraine vor allem genutzt, um zu zeigen, dass es einen fähigen und erfahrenden Präsidenten braucht.

Die innenpolitischen Gegebenheiten in beiden Ländern unterscheiden sich also sehr – und auch die Haltung gegenüber Russland scheint mir in Frankreich und Deutschland nicht dieselbe zu sein.

Karte der EU. Bulgarien, Estland, Finnland, Kroatien, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei, Spanien, Tschechien und Ungarn sind rot hervorgehoben.
EU-Länder, in denen ein Bevölkerungsanteil von mehr als dem EU-weiten Durchschnitt (24 %) eine Ausweitung des Ukraine-Kriegs auf das eigene Land befürchtet (nach Eurobarometer, Juni 2022).

Minna
Das ist richtig. Allerdings wird es in NCEE so wahrgenommen, dass sowohl Deutschland als auch Frankreich eher denken, dass wir irgendwann wieder Beziehungen zu Russland aufbauen müssen und deshalb jetzt nicht alle Brücken verbrennen sollten. Unter den NCEE-Ländern wiederum herrscht die Sichtweise vor, dass es am wichtigsten ist, dass Russland keine weiteren Nachbarn angreifen kann – man also gerne Russland fertig machen sollte.

Sophie
Macron wurde nach seiner Rede am 9. Mai zum Teil vorgeworfen, ein „Putin-Versteher“ zu sein, weil er sagte, dass man den Dialog mit Putin aufrechterhalten sollte. Dabei scheint mir in der Berichterstattung leider viel Nuance verloren gegangen zu sein. Immerhin hat Macron Russland in der Rede auch stark kritisiert.

Macron scheint mir nur eine sehr realpolitische Perspektive einzunehmen: Wir werden Putin in nächster Zeit nicht so einfach loswerden und müssen deshalb nach einer Lösung suchen. Das ist natürlich auch kontrovers, weil andere Länder eher die Position vertreten, dass man auf keinem Fall jetzt schon von einem Kriegsende sprechen sollte.

Minna
Genau. Die Kontroverse geht vor allem darum, wann und unter welchen Bedingungen der Krieg beendet werden sollte. Und in den NCEE-Staaten gibt es die Sorge, dass Frankreich und Deutschland hier bereit sind, für ein schnelles Kriegsende die Sicherheitsinteressen der Nachbarländer Russlands zu opfern.

Carmen
Ich würde vor dem Kriegsende noch einen Schritt zurückgehen und auch an die Sanktionen gegen Russland denken. Sowohl gegenüber Deutschland als auch Frankreich besteht ja die Erwartungshaltung, sie müssten sich für schnellere und weitreichendere Sanktionen einsetzen. Aber bei allen Gemeinsamkeiten haben die Länder weiterhin nationale Unterschiede und Interessen. Zum Beispiel im Energiebereich: Deutschlands Abhängigkeit von russischem Gas liegt derzeit bei 35 % (2021 waren es noch 55 %); Frankreichs bei 20 %. Bei anderen Ländern ist das zum Teil deutlich weniger; mein derzeitiges Gastland Spanien liegt zum Beispiel nur bei 9 % Gasimporten aus Russland.

Das Beispiel soll zeigen, mit wie unterschiedlichen Herausforderungen Deutschland und Frankreich konfrontiert sind. „Nicht alle Brücken zu Russland abbrechen“ bedeutet deshalb nicht, nicht zu handeln oder gegenüber einem EU-Anrainerstaat, in den Russland völkerrechtswidrig eingefallen ist, keine Hilfsbereitschaft zu zeigen – sondern wohlüberlegt, wohldosiert und effizient vorzugehen, um den Bedürfnissen von allen gerecht zu werden. Die Außenwahrnehmung des „deutsch-französischen Tandems“ deckt sich da nicht zwingend mit der Innenwahrnehmung.

Erinnerungen an die Eurokrise

Manuel
Ein interessanter Punkt sind für mich in diesem Zusammenhang die Parallelen zwischen dem Ärger der NCEE-Länder jetzt und dem Ärger der südeuropäischen Krisenländer während der Eurokrise vor zehn Jahren. In beiden Fällen geht es um transnationale Solidarität – damals finanzpolitisch, heute sicherheitspolitisch. Und in beiden Fällen gibt vor allem Deutschland als größter Mitgliedstaat kein gutes Bild ab, obwohl es aus seiner eigenen Sicht durchaus bereit ist, Maßnahmen mitzutragen, und dabei nur legitime nationale Eigeninteressen schützen will.

Minna
Ja – und viele schlechte Erinnerungen aus der Eurokrise sind jetzt im Süden noch mal hochgekommen. Als in Deutschland am Anfang des Kriegs in der Ukraine argumentiert wurde, Deutschland könne wegen der wirtschaftlichen Folgen seine Energieabhängigkeit von Russland nicht schneller beseitigen, sorgte das in den Ländern, die damals zu einem massiven Sparkurs gedrängt wurden, für einige scharfe Kommentare. Aber die Berliner Politik-Bubble ist bemerkenswert resistent gegen Feedback von außen …

Sophie
Ja! In Brüssel steht Deutschland auch stark in der Kritik. Ich kann natürlich verstehen, dass die politischen Fragen, die in Deutschland durch den Ukraine-Krieg aufgeworfen werden, besprochen werden müssen. Aber gerade scheint mir die Berliner Politik absolut mit sich selbst beschäftigt zu sein und keinerlei Verständnis dafür zu haben, was für eine Position Deutschland in Europa eigentlich innehat.

Deutschland-Kritik aus dem Ausland wird entweder kritisch gesehen oder nicht beachtet. Aber wenn man sich als pro-europäisch versteht, sollte man auf Dialog setzen, statt seine Nachbarn einfach wegzuwinken, wenn sie etwas sagen, was einem nicht passt.

Spannend fand ich auch Scholz’ Erklärung, dass man bei Waffenlieferungen „keine Alleingänge“ wolle. Aus meiner Sicht wurde hier die Notwendigkeit, sich mit europäischen Partnern abzusprechen, vorgeschützt, um von den partei- und regierungsinternen Konflikten abzulenken, die ja das eigentliche Problem sind und zu Deutschlands zögerlicher Positionierung führen.

Minna
Das gute alte deutsche Manöver, sich hinter einer europäischen Rechtfertigung zu verstecken, um nicht offen über die eigenen Interessen sprechen zu müssen …

Das Dilemma der großen Länder

Sophie
Das ist das Dilemma der großen Länder in der Europapolitik: Je größer man ist, desto mehr Kritikfläche bietet man natürlich anderen EU-Ländern.

Trotzdem würde ich sagen, das müssen große Länder aushalten – Hauptsache, es geht irgendwie voran, statt dass man gar nichts tut. Ein Kollege von mir nannte das mal: Lieber „muddling through upwards“ als „muddling through downwards“.

Minna
Ja, Deutschland hat zu lange die sicherheitspolitische Verantwortung ignoriert, die mit einer ökonomischen Führungsrolle einhergeht.

Carmen
Ohne dazu Position beziehen zu wollen, ist aber doch auch Folgendes auffällig: Verzichtet ein Mitgliedstaat wie Deutschland bei einer politischen Entscheidung auf europäische Abstimmung, insbesondere bei Konfliktthemen, ist man schnell beim Vorwurf des Alleinganges. Die Flüchtlingspolitik im Sommer 2015 ist hierfür nur ein Beispiel. Handelt ein Mitgliedstaat aus Sicht der Öffentlichkeit hingegen nicht schnell oder angemessen genug, heißt es, man wollte sich hinter europapolitischen Positionen verstecken. Hat das nicht etwas von „Wie man’s macht, macht man’s falsch“?

Sophie
Das Grundproblem ist ja, dass es gerade insgesamt wenig Führung in der Europapolitik gibt. Außer Macron gibt es wenige, die wirklich eine strategische Sicht für die EU haben. Die Ampel-Koalition war zwar im Koalitionsvertrag ambitioniert, aber seitdem kam nichts aus Deutschland. Und von den EU-Institutionen scheint mir auch nur das Europäische Parlament ambitioniert voranzugehen. Die Kommission guckt auf den Rat, und der Rat folgt vor allem seiner Tradition – Hauptsache verwässern und verzögern.

Was NCEE von den Eurokrisenländern unterscheidet

Karte der EU. Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien, die Slowakei, Tschechien und Ungarn sind farbig hervorhehoben.
Mitgliedstaaten des Bukarest-9-Formats.

Julian
Noch einmal zu Manuels Parallele zur Krise in der Eurozone: Ganz kann man die beiden Debatten aber nicht vergleichen. Die deutsche Position damals folgte eben nicht nur deutschen Interessen, sondern auch einer wirtschaftspolitischen Sicht, die ab den 1980er Jahren lange Mainstream war. Im Zuge der Krise wandelte sich der wirtschaftspolitische Mainstream dann in Richtung linker Positionen, und es dauerte etwas, bis Deutschland nachzog. Ich würde sagen, dass Deutschland einfach zu lange eine alte Politik betrieben hat, die hier aber auch später als im Rest der Welt begonnen wurde.

In der Verteidigungspolitik gab es diesen dominierenden Mainstream hingegen meiner Ansicht nach nie. Europa war immer von einer Vielzahl unterschiedlicher strategischer Kulturen geprägt, die zu starken Kontroversen über Sicherheitspolitik geführt haben. Und es auch heute noch tun: In Österreich ist die Zustimmung zur Neutralität in der aktuellen Lage unverändert hoch – ganz anders als in Finnland und Schweden. Die einfachste Lösung für dieses Dilemma ist eine weitere Supranationalisierung der EU.

Manuel
Ja, mag sein. Ein Unterschied zwischen der Eurokrise und heute ist aus meiner Sicht auch, dass die Regierungen der damaligen Krisenstaaten, vor allem Italien und Spanien, recht geschickt versucht haben, sich mit den EU-Institutionen zu verbünden und „europäische“ Lösungen vorzuschlagen. Am Ende setzte sich dann in der Corona-Krise ja auch ein solidarischer, europäischer Fiskalpolitik-Ansatz durch.

Bei den NCEE-Ländern ist das – Stichwort Antiföderalismus – bisher kaum der Fall, obwohl das Europäische Parlament und die Kommission ja in Bezug auf die Ukraine eigentlich durchaus mit ihnen auf einer gemeinsamen Linie sind.

Minna
Ja – mal sehen, ob NCEE jetzt anfängt, eine proaktivere Europapolitik zu gestalten. Und was dabei herauskommt … wahrscheinlich nicht unbedingt, was man sich in Deutschland und Frankreich erhofft.

Das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen

Julian
Dass sich die NCEE-Regierungen nicht stärker mit den supranationalen Institutionen verbünden, ist insofern durchaus logisch, als eine Forderung nach europäischen Lösungen eben der Betonung der eigenen Souveränität widerspricht. Da sind die südlichen Staaten einfach pro-europäischer und sehen eher das Potenzial europäischer Politik, auf das die NCEE-Länder aus Prinzip zu verzichten bereit sind.

Minna
Für NCEE stellt sich gerade auch das Dilemma, dass die anti-deutsch-französische Stimmung für das Brexit-Narrativ instrumentalisiert wird – dass das Vereinigte Königreich der einzig wahre Partner der NCEE-Länder sei und auf Deutschland und Frankreich kein Verlass sei. Bei vielen in den NCEE-Ländern ist derzeit die Wut auf Deutschland und Frankreich so groß, dass sie sie etwas blind macht.

Manuel
Noch ein Unterschied vielleicht: In der Eurokrise gab es keine gemeinsame Identität der betroffenen Staaten. Man war zwar wütend auf Deutschland, aber nicht stolz darauf, ein Krisenland zu sein. Das despektierliche Akronym „PIIGS“ war der Gruppe von außen zugeschrieben worden und wurde in den Ländern selbst abgelehnt. Außerdem hatten die Regierungen natürlich Angst, eine gemeinsame „Krisenstaaten-Identität“ könnte dazu führen, dass Verschärfungen der wirtschaftlichen Probleme in einem Land leichter auch auf andere überspringen.

Im Vergleich treten die NCEE-Länder in der Russland-Frage deutlich selbstbewusster auf. Sie sehen sich als diejenigen, die schon früh die Gefahr des Putinismus erkannt haben, während Deutschland und Frankreich bis heute keine klare Haltung beziehen. Dieses Gefühl, auf der „richtigen“ Seite zu stehen, könnte eine Erklärung dafür sein, dass gerade die nordischen und baltischen Länder zwar zunehmend eine staatenübergreifende Identität entwickeln, aber ihre Bereitschaft zum Supranationalismus geringer ist als die der Krisenstaaten vor zehn Jahren.

Sophie
Das ist die ganze Problematik der derzeitigen Auseinandersetzung: Es wird eine moralische Debatte über außen- und sicherheitspolitische Themen gestülpt.

Eine neue polnische Führungsrolle?

Karte der EU. Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen und Schweden sind rot hervorgehoben. Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn sind orange hervorhehoben.
Minilaterale Bündnisse: Nordic-Baltic 6 (rot) und Visegrád 4 (orange).

Manuel
Einen anderen wichtigen Punkt finde ich auch die neue Rolle von Polen in dieser Konstellation. Traditionell hat der deutsch-französische Motor der EU ja vor allem dadurch funktioniert, dass Deutschland und Frankreich bilaterale Kompromisse stellvertretend für die Gesamt-EU schließen konnten. Typischerweise repräsentierte dabei Frankreich die Interessen der südlichen und westlichen, Deutschland der nördlichen und östlichen Staaten.

Wenn sich aber der Nordosten von Deutschland nicht mehr repräsentiert fühlt und Deutschland und Frankreich gemeinsam in die Kritik geraten, wird dieses Modell nicht mehr funktionieren. Und da auch Großbritannien nicht mehr als Proxy zur Verfügung steht, könnte nun Polen – als der größte ostmitteleuropäische Mitgliedstaat, traditioneller Verfechter einer harten Anti-Russland-Linie und Supranationalismus-Skeptiker – zum „Champion“ der NCEE-Länder werden. Angesichts der Rechtsstaatslage in Polen wäre das natürlich mindestens problematisch.

Minna
Ich glaube, Polen hat da keine Chance. Insbesondere die nordischen Länder gehören in Fragen der Rechtsstaatlichkeit klar zum Lager der Falken. Der Kern der NCEE ist eher ein neuer Zusammenhalt unter den nordischen und baltischen Ländern, die vor allem auf gemeinsamen sicherheitspolitischen Interessen im Ostseeraum beruht.

Manuel
Aber ist diese Ablehnung gegenüber einer polnischen Führungsrolle unter den nordisch-baltischen Ländern wirklich so stabil? Um nur ein Beispiel zu nennen: Der frühere estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves hat jüngst kritisiert, dass mit Scholz, Macron und Draghi drei „westliche“ Staats- und Regierungschefs gemeinsam in die Ukraine reisen wollen, und dabei von sich aus den polnischen Präsidenten Duda ins Spiel gebracht. (Am Ende war es dann der rumänische Staatschef Klaus Iohannis, der mit den dreien in Kyjiw war.)

Minna
Na ja, CEE gibt es als Staatengruppe ja schon länger – das N, also die nordischen Länder, sind jetzt neu dazugekommen. Ilves vertritt die Position, dass die CEE-Staaten einschließlich der baltischen Länder in der EU oft ignoriert wurden und Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg gefallen sind. In den baltischen Staaten finden es manche deshalb gerade fast ein wenig lustig, dass nun auch die nordischen Länder dieses Baltic treatment erleben, mit dem sie selbst schon länger zu kämpfen haben – nach dem Motto „Willkommen im Club“.

Das ist aber eine Sichtweise, die in den nordischen Ländern nicht unbedingt geteilt wird. Eine Bereitschaft, sich von Polen repräsentieren zu lassen, sehe ich da nicht.

Die Kommission und der polnische Rechtsstaat

Sophie
Gut so! Ich sehe die derzeitige Positionierung der EU-Kommission zur Rechtsstaatlichkeit in Polen sehr kritisch. Mit der Bewilligung des polnischen Corona-Wiederaufbauplans hat die EU einen Joker aus der Hand gegeben, ohne dass Polen ausreichend Reformen im Justizbereich umsetzen muss. Das ist gefährlich: Man kann sich nicht gegen Putins Autokratie stellen und gleichzeitig innerhalb der EU die gleichen repressiven Methoden erlauben.

Die Kommission erhofft sich dabei, dass Polen und Ungarn sich wegen ihrer unterschiedlichen Positionen zu Russland künftig nicht mehr im Artikel-7-Verfahren „decken“. Die nachlässigere Haltung der EU gegenüber Polen und eine härtere Positionierung gegenüber Ungarn soll zu einer Kluft zwischen beiden Ländern führen. Aber das ändert nichts daran, dass die polnische PiS-Regierung im eigenen Land Freiheitsrechte abbaut.

Julian
Der Mechanismus, den du beschreibst, ist natürlich das eigentliche Potenzial des „Minilateralismus“. Damit ist gemeint, dass sich Staatengruppen gemeinsam positionieren – was immer die Gefahr von Blockbildung beinhaltet, aber auch den Vorteil hat, dass es die Komplexität von Entscheidungen reduziert. Wenn Staaten auf Basis einer teilweisen Interessenkongruenz Paketlösungen zu Fragen vorformulieren, in denen innerhalb solcher Gruppen Dissens herrscht, dann steigert Minilateralismus die Entscheidungseffizienz in der EU und hilft, Blockaden zu überwinden.

Man muss diese Chance zu Paketlösungen dann aber auch nutzen und darf nicht aus geopolitischer Räson das Verhandlungspfund aus der Hand geben.

Sophie
Ja, das ist aber genau das Problem: Die Kommission behandelt Grundwerte wie jeden anderen Politikbereich, über den am Tisch verhandelt wird. Wenn aber Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit im eigenen Land zur Verhandlungsmasse werden, ist das hochproblematisch. Es steckt ja bereits im Wort „Grundwerte“: Das sind die Grundvoraussetzungen, bevor man überhaupt gemeinsam verhandelt!

Wird die Spaltung bleiben?

Manuel
Letzte Frage: Wird die Südwest-Nordost-Spaltung zu einem dauerhaften Thema in der EU oder nicht?

Carmen
Nein, das denke – und hoffe – ich nicht.

Julian
Nein, dafür sind die beiden Ländergruppen viel zu heterogen.

Carmen
Genau, die Staaten sind untereinander zu verschieden und die Positionen je nach Politikfeld zu unterschiedlich – Finanzen, Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Integrationstiefe. Bleiben wird aber, dass die Allianzen innerhalb der EU dynamisch sind und der europäische Konsens bei 27 Mitgliedstaaten (oder mehr?!) immer schwieriger zu erreichen sein wird.

Minna
Der Konflikt zwischen Erweiterung und Vertiefung wird sicher bleiben. Ansonsten wird die Spaltung zumindest so lange ein Thema bleiben, wie der Krieg dauert. Außer wenn Macron und Scholz auf einmal richtig viele Waffen an die Ukraine liefern würden … 😉

Sophie
Die Zukunft dieser Spaltung wird stark davon abhängen, wie sich der Krieg in der Ukraine weiterentwickelt. Ich hoffe, dass sie nicht dauerhaft zu einer größeren Fragmentierung in der EU führt.

Allerdings bin ich auch nicht grundsätzlich für eine absolute Einheit aller 27 Mitgliedsländer zu jedem Preis. Ich würde mir nur wünschen, dass einige Ländergruppen versuchen, die EU in einigen Politikbereichen voranzubringen – weil es dringend notwendig ist.


Carmen Descamps ist Stellvertretende Referatsleiterin Wirtschaft an der Deutschen Botschaft Madrid.
Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und am Lehrstuhl für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.

Frühere Ausgaben des europapolitischen Quartetts sind hier zu finden.


Bilder: Karten: Manuel Müller, erstellt mit MapChart [CC BY-SA 4-0]; Porträt Carmen Descamps: Life Studio [alle Rechte vorbehalten]; Porträts Minna Ålander, Manuel Müller, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel: alle Rechte vorbehalten.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.