Das Europäische
Parlament hat
sich konstituiert, die Zusammensetzung
der neuen Europäischen Kommission steht weitgehend fest – aber
das europäische Wahljahr 2019 ist noch lange nicht vorbei. In gleich
mehreren EU-Ländern rumort und kriselt es, und es sieht sehr danach
aus, dass die bevorstehenden Wahlen in Österreich
(29. September) und Portugal
(6. Oktober) und Polen
(13. Oktober) nicht die letzten in diesem Jahr bleiben werden.
Insbesondere in den
größten Mitgliedstaaten herrschte in den letzten Wochen einige
Unruhe. Werfen wir also einen Blick in die Glaskugel: Hier eine
Übersicht über die sieben einwohnerreichsten EU-Länder in der
Reihenfolge der Wahrscheinlichkeit, dass in ihnen in den nächsten
Monaten Neuwahlen stattfinden.
Polen: Vielleicht ein Endspiel um
die nationale Demokratie
Das
einzige große Mitgliedsland, in dem mit Sicherheit noch in diesem
Jahr gewählt wird, ist Polen. Am 13. Oktober werden beide
Kammern des polnischen Parlaments, der Sejm und der Senat, neu
gewählt. Und es steht einiges auf dem Spiel: Die Angriffe der
rechtskonservativen polnischen Regierung auf die gemeinsamen Werte
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit waren in den letzten fünf
Jahren eine
permanente Herausforderung für die EU und führten zu einer
massiven Schwächung einiger polnischer Verfassungsinstitutionen,
insbesondere des Verfassungsgerichts. Nun bietet sich für die
polnische Bevölkerung die Chance, einen Regierungswechsel
herbeizuführen, ehe die Lage weiter eskaliert.
Wie
die Wahl ausgeht, ist indessen völlig offen; die (in Polen
üblicherweise stark schwankenden) Umfragen
sagen ein knappes Rennen zwischen Regierung und Opposition voraus. Es
könnte ein Endspiel um die nationale Demokratie werden. Mitte
August bot PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński jedenfalls
schon einmal einen Vorgeschmack auf den Wahlkampf, als er in
einem Atemzug die Demonstrationsfreiheit von LGBT-Aktivisten, die EU
und das polnische Gerichtswesen angriff.
Vereinigtes
Königreich: Ausweg aus der Verfassungskrise?
Das
Vereinigte Königreich steuert nicht nur auf den härtest möglichen
Brexit, sondern auch auf
eine veritable Verfassungskrise zu: Premierminister Boris Johnson
(Cons./EKR) scheint entschlossen, zum 31. Oktober aus der EU
auszutreten – obwohl das von seiner Vorgängerin Theresa May
ausgehandelte Abkommen, das die schlimmsten Folgen dieser Trennung
abfedern könnte, keine
Mehrheit im britischen Parlament gefunden hat, und eine
Alternativlösung nicht in Sicht ist. Allerdings ist dieser
No-Deal-Austritt auch unter den regierenden Conservatives umstritten,
und ohnehin ist die Regierungsmehrheit nach
einer Nachwahlniederlage Anfang August auf einen einzigen Sitz
zusammengeschmolzen. Um nicht vom Parlament bei seinen
Brexit-Plänen gehindert zu werden, hat Johnson deshalb eine
lange Tagungspause vom 12. September bis 14. Oktober angesetzt.
Bei vielen Abgeordneten stößt dieser Schritt auf heftige Ablehnung.
Die
Wahrscheinlichkeit ist deshalb hoch, dass es entweder vor oder
nach der Parlamentsschließung zu einem Misstrauensantrag gegen
Johnson kommen wird. Sollte dieser erfolgreich sein, würde nach der
britischen Verfassung eine Vierzehn-Tage-Frist zu laufen beginnen, in
der eine neue Regierung gebildet werden kann. In dieser Zeit würde
voraussichtlich der Chef der oppositionellen Labour Party (SPE),
Jeremy Corbyn, eine
Übergangsregierung zu bilden versuchen, die mit der EU eine
Verlängerung der Austrittsfrist vereinbart und dann möglichst
schnell Neuwahlen herbeiführt. (Statt Corbyn könnte auch
ein
zentristischer Kompromisskandidat zum Zug kommen, der allerdings
im Grundsatz dieselbe Agenda verfolgen würde.) Sollte während der
Vierzehn-Tage-Frist niemand eine Mehrheit im Parlament erreichen,
käme es automatisch zu Neuwahlen.
Alternativ könnte das Parlament auch versuchen, in der verbleibenden Zeit bis zur Tagungspause noch ein Gesetz zu verabschieden, das einen No-Deal-Brexit verhindert und die Regierung zwingt, bei der EU um eine Fristverlängerung zu bitten. In diesem Fall dürfte allerdings Johnson selbst Neuwahlen suchen, um die Stimmen von harten Austrittsbefürwortern und Sympathisanten der Brexit Party zu gewinnen, während das proeuropäische Lager zwischen Labour
Party und LibDems (ALDE) zersplittert ist. Zuletzt sahen die
derzeitigen Umfragewerte für die Conservative Party jedenfalls gar nicht so
schlecht aus.
Und selbst wenn Johnson sich jetzt gegen das Parlament durchsetzt und das Vereinigte Königreich wirklich am 31. Oktober aus der EU ausscheidet, hätte er ein Interesse daran, rasch an die Urnen zu gehen: Die verbliebene Ein-Sitz-Mehrheit der Regierung ist viel zu knapp, um damit zuverlässig den Rest der regulären Wahlperiode bis 2022 zu überstehen – und die patriotische Begeisterung über seine rücksichtslose Brexit-Strategie könnte bald vorüber sein, wenn nach dem Austritt die erwartbare Rezession einsetzt. Seine beste Chance dürfte deshalb darin liegen, sich möglichst bald in den Wahlkampf zu stürzen, solange ein nennenswerter Teil der britischen Bevölkerung noch die EU und nicht die eigene Regierung für die Probleme des Brexits verantwortlich macht.
Spanien: Der
Zeitplan für Neuwahlen steht bereits …
Im
Vergleich zu der britischen Krise stößt die politische Situation in
Spanien in der europäischen Öffentlichkeit auf deutlich weniger
Aufmerksamkeit. Aber auch hier bereiten
sich die Parteien auf Neuwahlen vor, die noch in diesem Jahr
bevorstehen könnten. Es wären (nach 2015,
2016
und April
2019) die vierten spanischen Parlamentswahlen in vier Jahren. Und
anders als im Vereinigten Königreich gibt es in Spanien bereits
einen klaren Zeitplan: Wenn bis zum 23. September keine neue
Regierung steht, wird
es automatisch zu Neuwahlen am 10. November kommen.
Dass
die Regierungsbildung in Spanien so schwer fällt, hat viel mit der
Veränderung des Parteiensystems zu tun, die das Land in den letzten
Jahren erlebt hat. Seit der Wiederherstellung der Demokratie in den
1970er Jahren gab es in Spanien auf nationaler Ebene niemals eine
Koalition. Vielmehr bildeten die großen Parteien (seit den 1980er
Jahren der sozialdemokratische PSOE/SPE und der konservative PP/EVP)
jeweils Alleinregierungen – sei es mit einer absoluten Mehrheit im
Parlament oder mit externer Unterstützung durch kleine, meist
regionalistische Parteien.
… aber noch
ist eine Einigung möglich
In
den letzten Jahren hat sich die Parteienlandschaft jedoch stark
geändert: Seit der Eurokrise haben PSOE und PP massiv an Wählern
verloren, während mit Ciudadanos (ALDE), Unidas Podemos (UP/EL-nah)
und Vox (EKR) inzwischen drei neue Parteien landesweit einen
nennenswerten Stimmenanteil erreichen. Eine absolute Mehrheit für
eine der großen Parteien ist in weite Ferne gerückt. Die
PSOE-Minderheitsregierung unter Pedro Sánchez, die 2018 mit
Unterstützung von UP (und weiteren Kleinparteien) die Regierung
übernahm, verfügte gerade einmal über ein Viertel der Sitze im
Parlament. Auch bei der Parlamentswahl im April 2019 wurde der PSOE
zwar stärkste Kraft, blieb für eine Mehrheit jedoch auf UP
angewiesen.
UP
aber wollte sich nicht noch
einmal darauf einlassen, bloßer Mehrheitsbeschaffer für den PSOE zu
sein, und bestand darauf, in einer Koalition mit eigenen Ministern
vertreten zu sein. Sánchez
lehnte dies jedoch ab, und
so scheiterten die Verhandlungen trotz weitreichender inhaltlicher
Gemeinsamkeiten. In der Folge
verpasste Sánchez im Juli die Parlamentsmehrheit
für seine Wiederwahl als Ministerpräsident – wodurch die
genannten Fristen zu laufen begannen, die zur Neuwahl im November
führen könnten.
Ob
PSOE und UP doch
noch rechtzeitig
zueinander finden, um
diese Wahl zu vermeiden, erscheint derzeit sehr fraglich.
Bislang ist keine
der beiden Parteien bereit, sich auf die andere zuzubewegen.
Allerdings haben PSOE und UP den
Umfragen zufolge von Neuwahlen auch nicht viel zu gewinnen: Beide
kämen etwa auf dasselbe Ergebnis wie im April, sodass sich die
Koalitionsfrage nach der Wahl sofort erneut stellen würde.
Es ist deshalb durchaus möglich, dass es doch noch zu einer Einigung
kommt. Eine andere
Möglichkeit ist aber auch, dass
sich die liberalen Ciudadanos in letzter Minute umbesinnen, die
Sánchez bislang
kategorisch ihre Unterstützung versagen. Bei
Neuwahlen würden die
Ciudadanos stark an den PP
verlieren – sie haben
deshalb das geringste Interesse daran, schon im November wieder an
die Urnen zu gehen.
Rumänien:
Parlamentsauflösung erst nach der Präsidentenwahl
Im
siebtgrößten EU-Mitgliedstaat wird im November auf
jeden Fall gewählt – allerdings nicht das Parlament, sondern
der Staatspräsident. Als klarer Favorit gilt der Amtsinhaber Klaus
Iohannis (PNL/EVP), der in Umfragen
auf rund 40 Prozent kommt und damit beste Chancen auf eine zweite
Amtszeit hat.
Doch
die Präsidentschaftswahlen haben aber noch weitere Wellen geschlagen
und zuletzt zum Bruch
der Regierungskoalition aus PSD (SPE) und ALDE (–) geführt:
Nachdem sich die beiden Parteien nicht auf einen gemeinsamen
Gegenkandidaten für Iohannis hatten einigen können, erklärte die
ALDE Ende August ihren Austritt aus der Regierung, sodass der PSD nun
ohne Mehrheit im Parlament dasteht.
Sollte
es dabei bleiben und keine andere Koalition gebildet werden, könnte
dies grundsätzlich dazu führen, dass der Staatspräsident das
Parlament auflöst und Neuwahlen ansetzt. Allerdings verbietet Art.
89 Abs. 3 der rumänischen Verfassung eine Auflösung des
Parlaments in den letzten sechs Monaten der Amtszeit des Präsidenten.
Eine Neuwahl könnte also frühestens Anfang 2020 stattfinden; bis dahin kommt es möglicherweise zu einer Übergangsregierung.
Italien: Salvini hat
sich verschätzt
Noch
Anfang August sah es in Italien so aus, als ob ein Urnengang
unmittelbar bevorstünde. Mitten in der Urlaubszeit ließ
Innenminister und Vizepremierminister Matteo Salvini das
Bündnis zwischen seiner rechtsextremen Lega (ID) und dem
populistischen Movimento Cinque Stelle (M5S/–) platzen und
forderte sofortige Neuwahlen. Der Hintergrund dieses Schritts war
offensichtlich: Die Lega, bei der Parlamentswahl
2018 mit 17,3 Prozent der Stimmen noch drittstärkste Kraft,
hatte bei der Europawahl
im Mai 2019 triumphiert und erreichte Umfragewerte
von 38 Prozent und mehr. Salvini konnte deshalb hoffen, den
Koalitionspartner M5S bei Neuwahlen abzuschütteln, selbst
Premierminister zu werden und freie Hand („pieni
poteri“) zur Umsetzung seiner europaskeptischen und
migrationsfeindlichen Agenda zu bekommen.
Womit
Salvini indessen nicht gerechnet hatte, war die Bereitschaft des M5S
und des oppositionellen PD (SPE), nun kurzerhand eine
alternative Koalition auf die Beine zu stellen. Nachdem das M5S
die früheren PD-Regierungen unter Enrico Letta, Matteo Renzi und
Paolo Gentiloni massiv kritisiert hatte, schienen die Gegensätze
zwischen den beiden Parteien zu groß zu sein. Tatsächlich war es
jedoch ausgerechnet Renzi selbst, der sich Mitte August als einer der
Ersten für ein Anti-Lega-Bündnis zwischen M5S und PD stark machte.
Und nach einigem Hin und Her gelang es den beiden Parteien gestern,
sich auf
die Grundzüge einer solchen Koalition zu einigen. Demnach wird
der bisherige, M5S-nahe Regierungschef Giuseppe Conte im Amt bleiben,
programmatisch soll es aber einen Neuanfang geben.
Ob
die M5S-PD-Koalition tatsächlich zustande kommt, werden jedoch erst
die nächsten Tage und Wochen zeigen. In beiden Parteien gibt es
weiterhin auch starke Vorbehalte dagegen, und inhaltliche
Streitpunkte gäbe es genug. Zudem wird das M5S voraussichtlich noch
eine Online-Mitgliederbefragung über das neue Bündnis durchführen.
Immerhin: In den Umfragen konnten beide Parteien, vor allem das M5S,
seit Anfang August zulegen, während die Lega verloren hat. Ganz
unpopulär ist der Kurs, Neuwahlen zu vermeiden, offensichtlich
nicht.
Deutschland: Wie
weiter mit der Großen Koalition?
Auch
in Deutschland wird es 2019 aller Voraussicht nach keine
Bundestagswahl geben, aber eine gewisse Fin-de-Règne-Stimmung
herrscht dennoch auch hier. Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) hat
sich bereits festgelegt, dass sie zur nächsten regulären Wahl 2021 nicht
noch einmal antreten wird. Zwar hat Merkel gleichzeitig auch immer wieder betont, dass sie auch nicht vor 2021 zurücktreten will, und auch die neue CDU-Chefin
Annegret Kramp-Karrenbauer hat erklärt, dass sie keine vorzeitige Übernahme der Kanzlerschaft anstrebe. Dennoch liegt der kommende Machtwechsel in der Luft. Und dann steht bis Oktober auch noch
die im Koalitionsvertrag vereinbarte Halbzeitbilanz an, die vor allem die in Umfragen
und Landtagswahlen stark gebeutelte SPD (SPE) zum Anlass nehmen
könnte, ihren Verbleib in der Großen Koalition zu überdenken.
Sollte
es tatsächlich zum Regierungsaustritt der SPD kommen, dürften
Neuwahlen unvermeidlich sein: Als größte Umfragegewinner der
letzten Monate werden die Grünen (EGP) kaum ein Interesse haben, der
Bundesregierung ohne eine vorherige Wahl beizutreten, und ohne sie
ist keine plausible Mehrheit jenseits der Großen Koalition in Sicht.
Allerdings könnten für die SPD die schlechten Umfragewerte gerade
auch ein Grund sein, noch den Rest der Wahlperiode auszuschöpfen –
und auf jeden Fall wird der weitere Kurs der Sozialdemokraten in
dieser Frage wesentlich davon abhängen, wer
im Dezember den Parteivorsitz übernimmt. Selbst wenn es zuletzt
Neuwahlen geben sollte, ist damit also nicht vor 2020 zu rechnen.
Frankreich: Weit und
breit keine Neuwahlen in Sicht
Das
einzige unter den sechs größten EU-Mitgliedsländern, in denen weit
und breit keine Neuwahlen in Sicht sind, ist Frankreich. Zwar sind
die Umfragewerte
von Präsident Emmanuel Macron (LREM/–) alles andere als
berauschend – die Popularität des Staatschefs, die während der
Gelbwesten-Proteste Ende 2018 ihren Tiefpunkt erreichte, hat sich
seitdem nur teilweise erholt. Doch Macron ist immer
noch Favorit, bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2022 für
eine zweite Amtszeit gewählt zu werden. Und vor allem verfügt LREM
im französischen Parlament über eine stabile Mehrheit, und es ist
nicht absehbar, dass sich daran in nächster Zeit irgendetwas ändern
könnte.
Wenn
derzeit wieder vermehrt über
eine europapolitische Führungsrolle des französischen
Staatspräsidenten gesprochen wird, so liegt das also nicht nur
an
der geschickten Gipfeldiplomatie, die er in den letzten Tagen
gezeigt hat. Emmanuel Macrons Stärke hat auch innenpolitische
Gründe: Er ist derzeit der einzige Staats- oder Regierungschef eines
großen EU-Mitgliedstaats, der auf nationaler Ebene weitgehend
krisenfrei regieren kann.
Bild: Rama [CC BY-SA 2.0 fr], via Wikimedia Commons.