17 April 2019

Für die niedrige Europawahl-Beteiligung gibt es nachvollziehbare Gründe – wählen gehen lohnt sich trotzdem

Allzu lange Schlange stehen muss man bei der Europawahl eher selten.
Wie hoch ist die Wahlbeteiligung? Bei kaum einer Parlamentswahl spielt diese Frage eine so wichtige Rolle wie bei der Europawahl. Während das Ausmaß der Enthaltungen den Medien auf nationaler Ebene meist nur eine Nebenmeldung wert ist, wird es im Falle der EU oft zum Gradmesser für den Erfolg der Wahl insgesamt genommen – oder, genauer, für den Misserfolg, denn bis jetzt ging die europaweite Beteiligung kontinuierlich von Europawahl zu Europawahl zurück, von 62,0 Prozent im Jahr 1979 auf 42,6 Prozent im Jahr 2014.

Verzweifelte Kampagnen

Da es leicht ist, diese ständig sinkende Wahlbeteiligung als Zeichen für eine sinkende Zustimmung zum europäischen Integrationsprozess zu deuten, bemüht sich die EU bereits seit langem darum, Bürger zur Wahlteilnahme zu ermuntern. Allerdings benötigt man nicht viel Phantasie, um aus den Slogans der offiziellen Informationskampagnen eine wachsende Verzweiflung herauszuhören: Von „It’s your choice!“ im Jahr 2009 über „This time it’s different“ 2014 bis zum aktuellen „This time I’m voting“. Auch viele proeuropäische Vereine und Bürgerinitiativen bemühen sich alle fünf Jahre darum, die Wahlbeteiligung zu steigern, und haben bis jetzt eine Enttäuschung nach der nächsten erfahren.

Die Wahlbeteiligungsmotivierer setzen dabei meist auf eine Kombination aus emotionalem Appell – wählen gehen als Zustimmung zur „europäischen Idee“ – und rationalen Argumenten: Immerhin greift die Gesetzgebung der EU heute tief in das Alltagsleben ihrer Bürger ein. Gleichzeitig hat das Europäische Parlament über die Jahre immer mehr Macht gewonnen und kann bei fast allen Entscheidungen mitbestimmen. Die Europawahl ist deshalb eine Chance, Politik mitzugestalten, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Die Europawahl ist keine Richtungsentscheidung

Folgt man der Logik dieser Argumente, dann ist die niedrige Wahlbeteiligung tatsächlich kaum nachzuvollziehen. Ist das geringe Interesse an der Europawahl also nur auf das Unwissen der Bevölkerung zurückzuführen, die die Tragweite der Wahlentscheidung nicht verstanden hat? Braucht es nur noch mehr und noch bessere Informations- und Sensibilisierungskampagnen, damit endlich die Trendwende gelingt?

Mir scheint, dass diese Hoffnung trügt – denn das eigentliche Problem liegt tiefer. Auf den Punkt gebracht besteht es darin, dass Europawahlen keine Richtungsentscheidungen sind: Noch niemals hat eine Europawahl zu einer grundsätzlichen politischen Veränderung auf europäischer Ebene geführt, und es ist auch nicht absehbar, dass das in Zukunft der Fall sein wird.

Das Parlament entscheidet fast alles mit, aber fast nichts allein

Der Sinn einer demokratischen Wahl besteht üblicherweise darin, den Kurs eines politischen Systems zu überprüfen. Mit Regierungs- und Oppositionsparteien gibt es (mindestens) zwei konkurrierende Akteure, die jeweils für eine unterschiedliche politische Richtung stehen. Welche Seite eine Mehrheit gewinnt, wirkt sich deshalb unmittelbar auf die weitere Politik des Landes aus. Und auch wenn nach der Wahl zuweilen Kompromisse in Koalitionsverhandlungen notwendig werden, kann ein halbwegs interessierter Wähler doch recht gut nachvollziehen, dass seine Wahlentscheidung unmittelbare, deutlich erkennbare Folgen hat.

Anders bei der Europawahl: Zwar kann das Europäische Parlament heute tatsächlich in fast allen Belangen der EU mitbestimmen, doch es gibt kaum eine Frage, in der es ganz allein entscheidet. Ob es um die Wahl der Europäischen Kommission geht, um den Haushalt oder um die Gesetzgebung, überall ist ein Konsens mit den nationalen Regierungen im Ministerrat notwendig. Im Ministerrat wiederum wird nicht mit einfacher, sondern mit qualifizierter Mehrheit entschieden, sodass die Hürden für eine Einigung hier eher höher liegen als im Parlament.

Die Große Koalition ist faktisch nicht abwählbar

Diese institutionellen Konsenszwänge führen dazu, dass europäische Beschlüsse meist nur dann möglich sind, wenn die großen Parteien der Mitte – die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE, meist ergänzt um die liberale ALDE – miteinander zusammenarbeiten. Nur sie bringen es sowohl im Europäischen Parlament als auch im Rat auf genügend Stimmen. Zugleich zwingt dieser Umstand alle drei Parteien zu ständigen Kompromissen: Sollte eine von ihnen dazu übergehen, sich wie eine Oppositionspartei zu verhalten und grundsätzlich gegen die Linie der anderen beiden zu stimmen, könnte das die Europäische Union dauerhaft blockieren.

An dieser informellen „ewigen Großen Koalition“, die die EU seit jeher beherrscht, wird sich auch 2019 nichts Grundsätzliches ändern. Zwar lassen die Umfragen deutliche Verluste für EVP und Sozialdemokraten erwarten, die dadurch nicht mehr zu zweit auf eine Mehrheit im Parlament kommen werden. Das wird aber wohl nur dazu führen, dass sie künftig noch enger mit den Liberalen kooperieren, die bei der Wahl deutlich hinzugewinnen dürften.

Eine „Schicksalswahl“, wie sie in diesen Wochen gern bezeichnet wird, wäre die Europawahl allenfalls, wenn die Parteien der Mitte so stark abstürzen würden, dass stattdessen die Europagegner, die das politische System der EU insgesamt ablehnen, in die Nähe einer Parlamentsmehrheit kämen. Das ist aber nicht abzusehen: Den Umfragen zufolge legen die europaskeptischen Rechtsfraktionen zwar zu, kommen aber gemeinsam weiterhin nur auf rund ein Viertel der Sitze. Selbst bei Entscheidungen, für die eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten notwendig ist (etwa im Rahmen des Artikel-7-Rechtsstaatsverfahren), werden die Rechten wohl keine Sperrminorität erreichen und könnten von den Mitte-Parteien – sofern diese geschlossen auftreten – einfach überstimmt werden.

Wahlkampf mit angezogener Handbremse

Zugleich führt die ewige Große Koalition dazu, dass die Mitte-Parteien selbst den Wahlkampf oft mit angezogener Handbremse führen: Da sie wissen, dass sie nach der Wahl zu Kompromissen gezwungen sein werden, fällt es ihnen schwer, sich vor der Wahl gegeneinander zu profilieren. Auf nationaler Ebene gewinnen Wahlen gerade durch die entgegengesetzten Positionen der Parteien ihre Bedeutung. Wenn hingegen auf europäischer Ebene die Sozialdemokraten Maßnahmen versprechen, von denen bekannt ist, dass die Konservativen sie nicht mittragen werden (oder umgekehrt), dann macht das nicht etwa die Wahl spannender, sondern nur das Versprechen weniger glaubwürdig.

Auch das Spitzenkandidaten-Verfahren, das der Wahl zusätzliche politische Bedeutung verleihen sollte, durchbricht dieses Dilemma nur zum Teil. Seitdem das Parlament die Wahl des Kommissionspräsidenten an sich gezogen hat, haben die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament zwar eine unmittelbare Auswirkung auf die Besetzung eines wichtigen politischen Amtes. Doch zum einen handelt es sich dabei eben nur um einen einzelnen Posten, während der Rest der Kommission parteipolitisch weiterhin bunt durchmischt ist. Und zum anderen schlägt sich auch im Spitzenkandidaten-Verfahren letztlich die großkoalitionäre Logik nieder: Auch bei der Wahl des Kommissionspräsidenten führt an einer Zusammenarbeit der beiden größten Fraktionen, gegebenenfalls erweitert um Liberale oder Grüne, kaum ein Weg vorbei.

Nur Reformen könnten die Wahlbeteiligung nennenswert heben

Diese Unvermeidlichkeit der ewigen Großen Koalition macht das weitreichende Desinteresse an der Europawahl besser verständlich. Auch wenn viele Wähler die institutionellen Zusammenhänge nicht im Einzelnen mitverfolgen, hat die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zu Ernüchterung geführt: Warum zur Europawahl gehen, wenn sich dadurch doch nichts ändert?

Mir selbst scheint diese Ernüchterung durchaus nachvollziehbar, und da sie strukturell im institutionellen System der EU verwurzelt ist, ist auch nicht damit zu rechnen, dass sie sich allein durch bessere Kommunikation in Form von Informations- und Mobilisierungskampagnen überwinden lässt. Um die Wahlbeteiligung bei Europawahlen nennenswert zu heben, sind institutionelle Reformen nötig – etwa die Wahl der Kommission allein durch das Parlament, der vollständige Abbau nationaler Vetorechte, womöglich ein Ende der Mitentscheidungsrechte des Rates in einigen Politikbereichen. Erst dadurch würde das Parlament so sehr an Macht gewinnen, dass die Wählerinnen und Wähler bei der Europawahl eine echte Richtungsentscheidung treffen können.

Nichtwählen ist auch keine Lösung

Daraus sollte man nun allerdings nicht den Schluss ziehen, dass sich der ganze Aufwand ohnehin nicht lohnt und wir bei der Europawahl einfach zu Hause bleiben sollten, bis die nötigen institutionellen Reformen zur Aufwertung des Europäischen Parlaments umgesetzt sind. Denn obwohl die Wahl kurzfristig keine drastischen Auswirkungen auf den politischen Kurs der Europäischen Union haben wird, ist Nichtwählen jedenfalls auch keine Lösung.

Denn zum einen bleibt das Wahlergebnis, trotz allem, auch im jetzigen politischen System der EU nicht ganz folgenlos. Die institutionellen Rahmenbedingungen führen zwar dazu, dass die großen europäischen Parteien zu ständigen Kompromissen gezwungen sind. Doch die genaue Gestalt dieses Kompromisses hängt auch vom Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen ab. Dass zum Beispiel EVP und Sozialdemokraten im nächsten Parlament wohl zu zweit keine Mehrheit mehr haben, dürfte die Position der Liberalen deutlich stärken. Diese Effekte sind nicht allzu plakativ, gerade im Vergleich zur Regierungs-Oppositions-Dynamik, wie man sie auf nationaler Ebene kennt. Aber auf die Dauer haben sie konkrete Folgen für die europäische Politik.

Und manchmal kommt es, wie die letzten Jahre gezeigt haben, im Parlament sogar auf jede einzelne Stimme an. Beispielsweise wurden bei der umstrittenen Urheberrechtsreform vor wenigen Wochen Änderungsanträge im Plenum mit nur fünf Stimmen Mehrheit abgelehnt. Der Sargentini-Bericht zur Einleitung eines Artikel-7-Verfahrens gegen die ungarische Regierung erreichte im Herbst 2018 54 Stimmen mehr als erforderlich. Die E-Privacy-Reform, bei der es um Datenschutz bei elektronischer Kommunikation geht, wurde 2017 im Innenausschuss sogar mit nur einer einzigen Stimme Mehrheit angenommen. Solch knappe Abstimmungen sind nicht häufig und treten in der Regel nur dann auf, wenn Fraktionen intern gespalten sind. Aber sie zeigen beispielhaft, welche Tragweite schon wenige Stimmen Unterschied haben können.

Eine höhere Beteiligung stärkt das Parlament gegen den Rat

Zum anderen gibt es aber auch verfassungspolitische Gründe, um bei der Europawahl teilzunehmen: Gerade weil die Wahlbeteiligung so ein wichtiges Thema in der öffentlichen Diskussion geworden ist, spielt sie auch für die wahrgenommene Legitimität des Parlaments eine wichtige Rolle – und damit für die Frage, ob die notwendigen institutionellen Reformen in Zukunft durchsetzbar sein werden. Denn viele Schlüsselfragen bei der institutionellen Zukunft der EU betreffen das Kräfteverhältnis zwischen dem auf gesamteuropäischer Ebene gewählten Parlament und den Regierungen im Europäischen Rat, die jeweils auf ihre eigene nationale demokratische Legitimation verweisen können.

Das gilt etwa für die Frage, wer eigentlich die Europäische Kommission ernennt: Formal braucht diese die Zustimmung sowohl des Parlaments als auch der nationalen Regierungen. In der Praxis konnte das Parlament 2014 für den Kommissionspräsidenten das Spitzenkandidaten-Verfahren durchsetzen, scheiterte aber mit dem Versuch, auch für andere Kommissionsmitglieder eigene Kandidaten zu lancieren. Und auch die Frage der nationalen Vetorechte, etwa in der Steuergesetzgebung, ist letztlich ein Konflikt zwischen einem nationalen und einem europäischen Demokratieverständnis.

Je eher das Parlament in dieser andauernden Machtprobe darauf verweisen kann, dass es tatsächlich den demokratischen Willen der europäischen Bevölkerung repräsentiert, desto einfacher wird es in der Öffentlichkeit auf Unterstützung stoßen. Die niedrige Europawahlbeteiligung hingegen hilft den nationalen Regierungen, um dem Europäischen Parlament demokratische Legitimität abzusprechen und ihre eigene Rolle im politischen System der EU zu verteidigen.

Den Teufelskreis durchbrechen

Und an dieser Stelle beißt sich die Katze in den Schwanz: Damit die Europawahl sichtbare Bedeutung bekommt und die Wahlbeteiligung steigt, müsste das Europäische Parlament durch institutionelle Reformen gegenüber den nationalen Regierungen gestärkt werden. Diese institutionellen Reformen sind jedoch umso schwieriger durchzusetzen, je niedriger die Wahlbeteiligung ausfällt. Im schlimmsten Fall kann daraus ein Teufelskreis entstehen, der die Legitimität des Europäischen Parlaments erodieren lässt und die Entwicklung einer überstaatlichen Demokratie in Europa dauerhaft beschädigt.

Es bleibt aber möglich, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Ein erster Schritt dafür ist, am 26. Mai wählen zu gehen.

Bild: Ruth_W [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

12 April 2019

In anderen Medien: Streitgespräch mit Ulrich Speck für die Süddeutsche Zeitung

In anderen Medien: Für die Süddeutsche Zeitung habe ich mit Ulrich Speck vom German Marshall Fund darüber diskutiert, wie es jetzt mit der europäischen Integration weitergehen soll. Müssen wir den Status quo konsolidieren, weil mehr als pragmatisches Durchwursteln gerade nicht drin ist? Oder mehr Demokratie wagen, um die EU aus ihrer Legitimitätsfalle zu holen?

Das Streitgespräch ist hier zu finden.

03 April 2019

In anderen Medien: Auf SWR2 zu jungen europäischen Bewegungen

In anderen Medien: In einem Feature für SWR 2 Wissen hat Sabine Hackländer proeuropäische Bewegungen und Parteien porträtiert, in denen vor allem junge Menschen sich vernetzen und für die europäische Integration einsetzen – von Pulse of Europe über die Jungen Europäischen Föderalisten und The European Moment bis zu Volt und DiEM25. Ich habe ein paar einordnende O-Töne dazu beigetragen.

Das Feature wurde am 1. April gesendet und ist hier als Podcast zu finden.