07 Juni 2022

Europatag 2022: Die Zukunftskonferenz endet – aber ein Europa für alle Europäer:innen beginnt?

Was bleibt von der Konferenz zur Zukunft Europas? Hat sie ein neues Modell der Bürgerbeteiligung in Europa etabliert? Sollte sie zu einem Europäischen Konvent und einer Vertragsreform führen? Woran ist sie gescheitert, und welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

In dieser Artikelserie werfen Expert:innen aus Wissenschaft, Think Tanks und Zivilgesellschaft einen Blick zurück auf die Ergebnisse und voraus auf die Folgen der Konferenz. Heute: Ward Den Dooven.
Plenarsitzung der Zukuntskonferenz im Plenarsaal des Europäischen Parlaments
„Die Konferenz hat zahlreichen Menschen die Möglichkeit gegeben, ihre Stimme einzubringen, und sie können nun ihre Empfehlungen in den Vorschlägen des Abschlussberichts wiederfinden. Dies ist an sich schon ein großer Erfolg, der nicht außer Acht gelassen werden darf.“

Am Europatag, dem 9. Mai, wurde der Abschlussbericht der Konferenz zur Zukunft Europas dem Gemeinsamen Vorsitz überreicht: Ursula von der Leyen, Roberta Metsola sowie Emmanuel Macron, der mit Frankreich die rotierende Ratspräsidentschaft innehat. Ein letztes Mal kam es dabei zu jener gespaltenen Wahrnehmung, die die Konferenz von Anfang an geprägt hatte.

Auf der einen Seite gab es diejenigen, die die Entwicklungen aufmerksam verfolgten und bemerkten, was da passierte: ein großes Experiment der partizipativen Demokratie, das am Ende die demokratische Landschaft dauerhaft umgestalten könnte. Auf der anderen Seite gab es die breite Öffentlichkeit, in der die Abschlussveranstaltung leider ähnliche Aufmerksamkeit erfuhr wie der gesamte Konferenzprozess: Elemente, die hätten verbessert werden können, wurden eifrig diskutiert, viele der tatsächlichen Errungenschaften blieben weitgehend unbemerkt.

Ein Experiment transnationaler Bürgerbeteiligung

Doch das sollte den Enthusiasmus nicht dämpfen. Vielmehr könnte dieser einzigartige Anlass – das Ende des bisher größten Experiments transnationaler Bürgerbeteiligung – dazu führe, dass der 9. Mai in Zukunft zu einem Europatag für alle Europäer:innen wird. Wie das? Nun: Unter den zahlreichen Vorschlägen und Maßnahmen, die im Abschlussbericht enthalten sind, findet sich auch die Idee, den Europatag zu einem Feiertag für alle Unionsbürger:innen zu machen, um so eine gemeinsame europäische Identität zu fördern.

Aber die Ziele der Konferenz waren noch viel breiter. Blicken wir also erst einmal auf die letzte Phase der Konferenz zurück: Hat sie mit ihrem Ziel, den Stimmen der Bürger:innen zur Zukunft Europas Gehör zu verschaffen, zur Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beigetragen? Was hat die Konferenz gebracht, nachdem ein ganzes Jahr auf allen Regierungsebenen Diskussionen über die Zukunft geführt und die europäischen Bürger:innen einbezogen und angehört wurden? Und was sind die nächsten Schritte, die unternommen werden müssen?

Gedanken zur Konferenz

Konkret haben sich die verschiedenen Komponenten des Konferenzplenums (das Vertreter:innen der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments, des Rates, der nationalen Parlamente und der Bürger:innen umfasste) auf einen Bericht geeinigt, der dem gemeinsamen Vorsitz der Konferenz vorgelegt wurde. Dieser Bericht besteht aus 49 konkreten Zielen zu allen neun Großthemen, die während des Prozesses diskutiert wurden, ergänzt durch 325 Maßnahmen zu ihrer Verwirklichung.

Mit Blick auf diesen Abschlussbericht drängen sich zwei erste Überlegungen auf: Eines der Ziele der Konferenz war es, auf allen politischen Ebenen Debatten über die Zukunft der EU anzustoßen. Spiegelt der Bericht die verschiedenen Kanäle, in denen diese Debatte stattfand, korrekt wider? Und wo steht die Diskussion über Vertragsänderungen derzeit?

1. Vom Input zum Output

Wie sind die verschiedenen Kanäle, über die Empfehlungen formuliert wurden, in die Konferenz eingeflossen? Aus einer Mehrebenen-Perspektive wird schnell klar, dass die verschiedenen Input-Kanäle bei der Erstellung des Abschlussberichts unterschiedlich einflussreich waren. Die wichtigste Quelle für den Abschlussberichts sind eindeutig die Empfehlungen der Europäischen Bürgerforen, ergänzt durch Beiträge der nationalen Bürgerforen einiger Mitgliedstaaten und durch den aggregierten Output der mehrsprachigen digitalen Plattform.

Doch während der Abschlussbericht einige Vorschläge eindeutig auf bestimmte Empfehlungen aus nationalen Veranstaltungen zurückführte, stellte er zu Empfehlungen, die von der digitalen Plattform stammten, keine derartigen Verbindungen her. Stattdessen verwies der Abschlussbericht immer wieder auf eine von dem Meinungsforschungsunternehmen Kantar erstellten Zusammenfassung der Plattform-Vorschläge. Wie wirkt sich das Fehlen einer direkten Verbindung auf die Bewertung des Prozesses aus? Mit Recht kann man sagen, dass für die Teilnehmer:innen der Plattform (sowie anderer Veranstaltungen als den europäischen oder nationalen Bürgerforen) die Verbindung zwischen ihren Beiträgen und dem Abschlussbericht stärker herausgestellt werden müsste.

Andererseits hat die Konferenz – mit Unterstützung der lokalen und regionalen Gebietskörperschaften und der Zivilgesellschaft – zahlreichen Menschen die Möglichkeit gegeben, ihre Stimme einzubringen, und sie können nun feststellen, dass viele ihrer Empfehlungen sich in den Vorschlägen des Abschlussberichts wiederfinden. Auch wenn für künftige Formate klare Grundregeln aufgestellt werden müssen, wie die einzelnen Arbeitsströme in das Ergebnis einfließen, so ist doch festzustellen, dass hier Möglichkeiten geschaffen wurden, die es vorher nicht gab. Dies ist an sich schon ein großer Erfolg des Prozesses, der nicht außer Acht gelassen werden darf.

2. Vertragsreform: Werden Institutionen der Herausforderung gerecht?

Zweitens: Von den 49 Vorschlägen und 325 Maßnahmen erfordern einige für ihre Umsetzung eindeutig eine Vertragsänderung. Dazu gehören zum Beispiel die Forderung nach qualifizierter Mehrheit statt Einstimmigkeit in mehreren Bereichen, ein Initiativrecht für das Europäische Parlament, die Einführung eines neuen Unionsbürgerstatuts, EU-weite Referenden, die Schaffung einer Europäischen Gesundheitsunion, europäische Mindestlöhne, die Stärkung des Untersuchungsrechts des Parlaments, die Diskussion über eine Europäische Verfassung, die Einführung transnationaler Wahllisten ... Hier ist in den letzten Wochen viel passiert.

Obwohl die Europäische Kommission eine Änderung der Verträge nie als Ziel an sich betrachtet hat, hat sie immer wieder bekräftigt, dass sie ihren Beitrag leisten würde, falls die Bürger:innen Empfehlungen vorschlagen, die diese erfordern. Bei der Abschlusszeremonie der Konferenz betonte von der Leyen zwar, wie viel die EU bereits innerhalb des aktuellen Vertragsrahmens tun kann, bekräftigte aber auch ausdrücklich diese Offenheit zur Vertragsreform.

Das Europäische Parlament wiederum hat die Idee einer Vertragsänderung eindeutig unterstützt. Zwar argumentieren zwei der Fraktionen im Parlament (ID und EKR), dass die Vorschläge nicht die öffentliche Meinung in der EU widerspiegeln und sie sie daher nicht unterstützen werden. Doch fünf andere Fraktionen (EVP, S&D, RE, G/EFA und die Linke) sind sich über die große politische Errungenschaft der Ergebnisse der Zukunftskonferenz einig. Das Europäische Parlament hat deshalb bereits auf seiner Plenartagung im Mai eine erste Entschließung verabschiedet, in der es einen Konvent zur Überarbeitung der Verträge fordert, in den Worten von Parlamentspräsidentin Metsola der logische nächste Schritt.

Der Europäische Rat ist am Zug

Damit ist nun der Europäische Rat am Zug. Vor ein paar Monaten war es noch kaum vorstellbar, dass eine einfache Mehrheit der Mitgliedstaaten – die Mehrheit, die erforderlich ist, um eine Vertragsrevision einzuleiten – für einen Konvent stimmen würde. Doch die aktuelle geopolitische Lage könnte die Gegner einer weiteren EU-Integration dazu bringen, ihren Standpunkt zu überdenken.

Verbunden mit der ungewöhnlichen Anzahl pro-europäischer Koalitionsregierungen an der Spitze von Mitgliedstaaten könnte dies eine Gelegenheit bieten, eine solche einfache Mehrheit für den Beginn eines Konvents zu finden. Wie von der Leyen und Metsola sprach sich auch Macron auf der Abschlussveranstaltung der Konferenz für eine Vertragsänderung aus, ebenso wie bei anderen Gelegenheiten der italienische Ministerpräsident Mario Draghi und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz.

Zwei offene Briefe

Am selben Tag wie Macrons Erklärung veröffentlichten jedoch nicht weniger als 13 Mitgliedstaaten einen offenen Brief, in dem sie sich gegen „unüberlegte und verfrühte“ Forderungen nach einem Konvent aussprachen. Nicht alle 13 sind allerdings zwangsläufig gegen eine Vertragsänderung. So hat beispielsweise der Europaminister des Unterzeichnerstaats Tschechien, Mikuláš Bek, erklärt, seine Regierung sei „nicht gegen ein Gespräch über die Öffnung der Verträge“, sie sehe dies nur „nicht als einzig möglichen Ansatz“.

Zudem antworteten sechs weitere Mitgliedstaaten bereits mit einem anderen offenen Brief, in dem sie sich „grundsätzlich offen für notwendige Vertragsänderungen“ erklärten. Hätte Frankreich nicht die rotierende Präsidentschaft inne, würde es wahrscheinlich ebenfalls zu den Unterzeichnern gehören.

Auch wenn nur eine einfache Mehrheit für die Einberufung eines Konvents erforderlich ist, wird der Europäische Rat nicht zu gespalten erscheinen wollen. Der Gipfel im Juni wird entscheidend dafür sein, ob eine Einigung über das Follow-up zur Zukunftskonferenz erzielt werden kann oder nicht. Wie auch immer die Sache ausgeht, man sollte den Positionen der Unterzeichnerstaaten der Briefe genügend Aufmerksamkeit schenken und darauf achten, ob sich die Länder entlang alter Konfliktlinien spalten lassen oder ob es ihnen gelingt, durch Vielfalt zur Einheit einer gemeinsamen Position zu finden.

Wenn nicht ein Konvent, dann vielleicht eine Regierungskonferenz?

Aber ist ein Konvent denn die einzige Möglichkeit, einen Dialog über mögliche Vertragsänderungen zu führen? Eine weniger beachtete Alternative wäre eine Regierungskonferenz. Dies könnte ein schnellerer Weg zur Vertragsreform sein, und vielleicht sogar ein Weg, der den Regierungen der Mitgliedstaaten eher zusagt. Beim Vergleich mit einem Konvent sind jedoch einige Dinge zu beachten.

Zunächst einmal müsste gemäß Art. 48 (3) EUV das Europäische Parlament seine Zustimmung zu einer Regierungskonferenz erteilen. Da durch die Einberufung einer Regierungskonferenz in der Regel die Reichweite der Verhandlungen eingeschränkt werden soll, kann man sich fragen, ob das Parlament diese Verantwortung an die Mitgliedstaaten delegieren würde. Immerhin zielen mehrere Reformvorschläge darauf ab, die Kompetenzen des Parlaments zu erweitern (Initiativrecht, Rolle im EU-Haushalt usw.).

Zweitens: Macht es wirklich Sinn, die Gestaltungsmacht über die Vertragsreformen und damit die Zukunft der EU den Mitgliedstaaten zu überlassen, statt allen Institutionen einen Sitz am Tisch einzuräumen – insbesondere nachdem bei der Konferenz mit großem Aufwand nach Konsens gesucht wurde?

Drittens benötigen Gespräche im Rahmen einer Regierungskonferenz in der Regel weniger Zeit. Dies wirft jedoch Fragen hinsichtlich der (wahrgenommenen) Undurchsichtigkeit der zwischenstaatlichen Verhandlungen auf. Im Vergleich zu einem Konvent, bei dem die Institutionen und Mitgliedstaaten vor den Augen der Öffentlichkeit einen gemeinsamen Nenner finden müssen, erscheint eine Regierungskonferenz viel weniger transparent.

Die Konferenz zur Zukunft Europas hat es nicht nur geschafft, den Stimmen der Bürger:innen Gehör zu verschaffen und eine Chance für die Entstehung einer echten europäischen Öffentlichkeit zu erzeugen; sie hat der Öffentlichkeit auch die unterschiedlichen Interessen der EU-Institutionen und der einzelnen Mitgliedstaaten vor Augen geführt. Dies anzuerkennen ist ein entscheidendes Element, um die Ausgestaltung der Konferenz-Folgemaßnahmen zu verstehen, insbesondere in der Debatte über mögliche Vertragsreformen.

3. Auf dem Weg in eine partizipative Zukunft?

Eine letzte Überlegung noch zu von der Leyens Rede auf der Abschlussveranstaltung: Sie kündigte dort an, dass in Zukunft (europäische) Bürgerforen organisiert werden sollen, die es der Kommission ermöglichen, die Stimmen der Bürger:innen bei der Vorlage wichtiger Gesetzesvorschläge zu berücksichtigen.

Die Konferenz war ein intensiver Prozess. Dass dennoch der Appetit auf Deliberation und Bürgerbeteiligung nicht verloren gegangen ist, sondern eher noch gestärkt wurde, ist ein vielversprechendes Zeichen für die Zukunft der (transnationalen) Demokratie. Im Vorfeld zu von der Leyens Rede zur Lage der Union im September (in der sie konkrete Vorschläge für das Konferenz-Follow-up ankündigen wird) werden viele versuchen, auf die Ausgestaltung dieses partizipativen Raums Einfluss zu nehmen. Doch wie Kommissarin Dubravka Šuica sagte, scheint eines sicher: „Der Zug der deliberativen Demokratie hat Fahrt aufgenommen und es gibt kein Zurück mehr.“

Die partizipativen Instrumente der EU sollen erweitert werden. Damit werden hoffentlich auch die Menschen außerhalb der EU-Politikblase mehr Möglichkeiten bekommen, sich bei den Themen einzumischen, die ihnen am wichtigsten sind.

Das Ende der Konferenz, eine Zeit für Optimismus?

Man kann also vorsichtig optimistisch sein, was das Ergebnis der Konferenz angeht. Die meiste Zeit über wurde sie übersehen und vernachlässigt. Jetzt steht sie plötzlich im Rampenlicht, und viele Augen scheinen in dieselbe Richtung zu blicken. Vorsicht ist jedoch vielleicht das Wichtigste, das man aus dieser Erfahrung mitnehmen kann.

Ja, die Konferenz war ein großes Experiment der partizipativen Demokratie, das in Zukunft in verschiedenen Formaten wiederholt werden kann und sollte, auch wenn sich noch einiges besser machen lässt. Ja, ihr Ergebnis ist ehrgeizig, und einige dieser Vorschläge können den Weg für eine zukunftsfähige EU weisen.

Aber selbst wenn sich sowohl die Institutionen als auch die Mitgliedstaaten jetzt auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen (was schon schwierig genug sein dürfte), sollte man sich vor Augen halten, warum der letzte Versuch einer europäischen Verfassung 2005 gescheitert ist. Deren Stecker wurde gezogen, nachdem die Bürger:innen in Frankreich und den Niederlanden in Referenden mit Nein gestimmt hatten. In der Folge kam es zu einer jahrzehntelangen Abneigung gegen Vertragsänderungen.

Ein Wendepunkt für die europäische Demokratie

Und heute? Einerseits ist anzumerken, dass eine Regierungskonferenz aufgrund einer unterschiedlichen Wahrnehmung das Risiko verringert, dass die Vertragsreform in Referenden abgelehnt würde. Andererseits zielte die Konferenz darauf ab, Bürger:innen und Institutionen auf eine gemeinsame Linie für die EU zu bringen und so die mit einem Konvent verbundenen Risiken zu verringern.

Aber die Wirklichkeit sieht so aus, dass sich während der gesamten Konferenz nur ein sehr kleiner Teil der Bürger:innen der Ereignisse bewusst war und noch weniger sich aktiv daran beteiligt haben. Auch wenn sich die Denkweise in den Institutionen durch die Konferenz geändert haben sollte, stellt sich die Frage, ob sich die Denkweise der Gesellschaft in ähnlicher Weise entwickelt hat. Sind die Bürger:innen bereit, mehr Macht an eine supranationale Organisation abzugeben, die von vielen immer noch als demokratisch defizitär wahrgenommen wird?

Wie auch immer es ausgeht, am Ende wird sich die Konferenz als ein Wendepunkt für die europäische Demokratie erweisen. Als sie begonnen hat, haben das nicht viele erwartet.

Portrait Ward Den Dooven

Ward Den Dooven ist Project Officer für vernetzte Demokratie bei der Democratic Society und Associate Fellow beim Egmont-Institut für Internationale Beziehungen. Er hat einen Master in europäischer Politik und Governance am Europa-Kolleg sowie einen Master in Wirtschaft, Recht und BWL an der KU Leuven absolviert.




Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Sitzung des Zukunftskonferenz-Plenums: EPP group [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Porträt Ward Den Dooven: alle Rechte vorbehalten.

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