30 Mai 2022

Unter schlechten Europasternen: Spannende Ideen aus der Zukunftskonferenz – aber das Format ist heikel

Was bleibt von der Konferenz zur Zukunft Europas? Hat sie ein neues Modell der Bürgerbeteiligung in Europa etabliert? Sollte sie zu einem Europäischen Konvent und einer Vertragsreform führen? Woran ist sie gescheitert, und welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

In dieser Artikelserie werfen Expert:innen aus Wissenschaft, Think Tanks und Zivilgesellschaft einen Blick zurück auf die Ergebnisse und voraus auf die Folgen der Konferenz. Heute: Bernd Hüttemann.
Statue von Asterix, auf einem Stein sitzend
„Machen wir uns nichts vor: Die Konferenz zur Zukunft Europas hat ihr hochgestecktes Ziel nicht erreicht.“

Im Comic „Asterix auf Korsika“ lernen die Gallier eine besondere Art der Demokratie kennen: Dort füllen die rebellischen Korsen die Wahlurnen, versenken diese im Meer, und anschließend gewinnt der Stärkere im Kampf.

Ganz so schlimm ist das Projekt „EU-Zukunftskonferenz“ nicht gelaufen. Besonders das Ziel, zufällig ausgewählte Bürger:innen in Diskussion und Ergebnisse einzubringen, war einen Versuch wert – nicht zuletzt im Sinne der europapolitischen Bildungsarbeit. Die Ideen aus der Konferenz sind durchaus lesenswert. Aber als Vorbild für eine neue Form der europäischen Demokratie ist die Konferenz dennoch kaum geeignet.

Die konzeptlosen „Bürgerdialoge“ von 2018

Die Grundidee, Bürgerdialoge zur Zukunft Europas durchzuführen, ging zunächst von den Exekutiven und ihren Technokrat:innen aus. Ansätze, Europa „den Bürgern“ durch „Town-Hall-Meetings“ oder „Agoras“ näher zu bringen, gibt es schon lang. Bereits in den 80er Jahren nutzte die Europäische Kommission das Framing eines „Europas der Bürger“, um der damaligen Eurosklerose zu begegnen. In jüngster Zeit war es vor allem der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der in seiner Sorbonne-Rede 2017 eine radikale Neugestaltung der EU durch Bürger:innen einforderte: Sie „müssen [die Zukunfts-]Debatte neugestalten, von der Basis aus, von unten, aus dem echten Leben“.

Ein Jahr später führten die EU und ihre Mitgliedstaaten unterschiedlichste nationale und EU-weite „Bürgerdialoge“ durch, allerdings nur halbherzig und mit aus Perspektive der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) wenig ermutigenden Ergebnissen. Vollkommen zusammenhanglose Dialoge wurden, auch in Deutschland, krampfhaft zusammengefasst und mangelhaft ausgewertet. In den meisten Mitgliedstaaten waren es bloße PR-Veranstaltungen für Regierungsvertreter:innen mit Bürger:innen.

Das konzeptlose Unterfangen war so unzureichend koordiniert, dass sich der Europäische Rat auf eine Zusammenfassung der Ergebnisse nicht einigen konnte. Die österreichischen und rumänischen EU-Ratspräsidentschaften gaben schließlich einen Bericht heraus. Trotz des Versprechens der Staats- und Regierungsspitzen, die Ergebnisse der Bürgerdialoge in die Strategische Agenda für die EU 2019-2024 einfließen zu lassen, verfolgten die Mitgliedstaaten die Empfehlungen kaum weiter.

Misstrauen in die Parteiendemokratie

Präsident Macrons Wunsch nach einer bürgergetriebenen Reform ging von Anfang an einher mit seinem tiefen Misstrauen in die parlamentarische Parteien-Demokratie. Schließlich ist Frankreich eine Präsidialdemokratie, während die meisten anderen EU-Staaten repräsentative pluralistische Demokratien sind. Macrons gaullistische Grundeinstellung drückte sich auch in seiner Gegnerschaft zum parlamentarisch geprägten Spitzenkandidatenprinzip aus, das mit der Wahl Ursula von der Leyens bei der Europawahl 2019 auch und gerade an ihm scheiterte.

Aber Macron konnte seine Kandidatin nicht ohne das Europäische Parlament durchsetzen. Von der Leyen musste den Fraktionen des Parlaments deshalb einen ganzen Strauß von Versprechungen übergeben, um dann mit knappem Ergebnis gewählt zu werden. Eines dieser Versprechen war, eine „Konferenz zur Zukunft Europas“ zu organisieren, die im Kern aus den in Art. 48 EUV genannten Institutionen bestand, aber eine starke Bürgerbeteiligung vorsah.

Das Ziel der Konferenz war jedoch von Anfang an unklar: Sollte die Zukunftskonferenz ein ergebnisorientierter Prozess sein, der Reformen – einschließlich EU-Vertragsänderungen – ausarbeiten würde? Oder nur wieder ein neuer Dialog, der öffentlichkeitswirksam die Bürgernähe der EU demonstriert?

Ein problematisches Demokratieverständnis

Doch das Dilemma der Zukunftskonferenz bestand nicht nur in dem unklaren Ziel. Problematisch war auch das Demokratieverständnis, das ihr zugrunde lag. So gehört es seit langem zum populistischen wie technokratischen Ton, dass die repräsentative Entscheidungsdemokratie in der Krise sei. Als sichtbarstes Beispiel wird die geringe Wahlbeteiligung in nationalen Parlamentswahlen genannt. Um dem entgegenzuwirken, wird propagiert, dass anstelle von Wahlen und parlamentarischen Prozessen mehr Partizipation, mehr öffentlicher Raum und mehr Diskurs im Mittelpunkt stehen müsse. Unter dem Habermas’schen Schlagwort einer „deliberativen Demokratie“ wird die parlamentarische Demokratie relativiert.

Eine sehr weitgehende Form der deliberativen Demokratie ist die Einführung einer „Lottokratie“ (Jan-Werner Müller), in der zufällig ausgewählte Bürger:innen anstelle von Gewählten über die Gesetzgebung entscheiden. Ein solches Modell kommt in der Praxis allerdings kaum vor. In der Regel werden Bürgerdialoge in Bürgerräten so konzipiert, dass sie lediglich Empfehlungen an die Repräsentant:innen eines Staates und/oder eines Parlamentes geben.

Wirkliche Vertragsreformen kann nur ein Konvent bringen

Auch das Design der Zukunftskonferenz vereinte letztlich mehrere Elemente: repräsentative Demokratie (mit den gewählten Vertreter:innen der Institutionen im Plenum der Konferenz), eine Online-Debattenplattform (die jedoch kaum genutzt wurde), zufällig ausgewählte europäische Bürgerräte (der innovativste Aspekt) sowie sonstige wild zusammengewürfelte Bürgerdiskussionen (das gescheiterte Modell von 2018). Diese Mischung der Formate sorgte für Verwirrung, was sich in den ersten Wochen der Zukunftskonferenz auch in schlecht vorbereiteten Plenar- und Ausschusssitzungen zeigte.

Zudem waren die von der Zukunftskonferenz erarbeiteten Vorschläge nicht bindend. Das einzige Verfahren, um die EU-Verträge wirklich zu ändern, bleibt die in Art. 48 EUV hinterlegte Konventsmethode.

Anders als vielfach beschrieben, ist diese ein Ausdruck repräsentativer Demokratie: Im Konvent versammeln sich Vertreter:innen von Parlamenten und Exekutiven, und seine Vorschläge können letztlich nur von einer Regierungskonferenz umgesetzt werden. Eine „Bürgergesellschaft“ kann zwar auch bei dieser Reformmethode eine große Rolle spielen, allerdings nicht in institutionalisierter Form, sondern nur durch öffentlichen Druck von außen.

Wer hatte Interesse am neuen Format?

Hätte daher nicht die Konventsmethode ausgereicht, wenn sie ohnehin das einzige Verfahren ist, um die Verträge zu ändern? Warum noch ein Bürgerbeteiligungsformat vorschalten, das den Prozess noch länger und ungewisser macht? Am Ende waren es ganz unterschiedliche Akteur:innen, die ein Interesse daran hatten:

  • Exekutiven, die ihr Handeln nur aus PR-Gründen am Bürgerwillen ausrichten: Wie schon 2018 konnten sie bürgerschaftlichen Aktionismus vortäuschen.
  • Fans der deliberativen Demokratie, auch in Wissenschaft und Medien: Ihnen geht es um die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit.
  • Fans einer marktkritischen „Zivilgesellschaft“, als bürgerschaftliches Antidot zu einer vermeintlich vorherrschenden „Wirtschaftslobby“.
  • Gegner:innen einer parlamentarischen Demokratie, normativ teils bei den Fans der deliberativen Demokratie, teils bei den Technokrat:innen der Exekutiven verortet. Ihr Ziel war die Schwächung des Europäischen Parlaments.
  • „Demokratie-Unternehmen“ und Interessengruppen, die sich professionell der Durchführung von Bürgerräten verschrieben haben. Unter ihnen werden Aufträge verteilt und Forschungsgelder in Aussicht gestellt.

Und was ist mit den Bürger:innen selbst? Damit das neue Format auch ihnen nutzt, hätte es eine breite Einbindung geben müssen. Dies wurde aber ebenso wenig erreicht wie die Schaffung einer breiten Öffentlichkeit. Kaum jemand nahm die Formate wahr. Am Ende drang die Zukunftskonferenz nur zu Europainteressierten und den wenigen glücklichen ausgelosten Beteiligten vor.

Und nun? Alles ist offen

Immerhin: Zuletzt gelang es der Zukunftskonferenz, Inhalte zu Papier zu bringen, auf die man sich in weiteren Debatten beziehen kann. Bei der Abschlussveranstaltung am 9. Mai in Straßburg wurde ein Bericht mit 49 Vorschlägen vorgelegt. Über deren Umsetzung sind die Mitgliedstaaten jedoch gespalten: Emmanuel Macron hat sich gleich am 9. Mai für Vertragsänderungen ausgesprochen. Bundeskanzler Olaf Scholz zögerte, folgte aber mit einem knappen Statement in seiner Regierungserklärung am 19. Mai. Ein Non-Paper, das Deutschland mit fünf weiteren Mitgliedstaaten im Mai unterzeichnet hat, nimmt diesen Ton auf: Vertragsänderungen sollten, soweit notwendig, in Betracht gezogen werden.

Bei 13 Mitgliedstaaten hat sich hingegen bereits Widerstand aufgebaut. Diese Gruppe aus nordischen wie auch mittel- und osteuropäischen Staaten stellte gleich zur Abschlusszeremonie der Zukunftskonferenz klar, dass sie Vertragsänderungen nicht mittragen werden. Mitunterzeichner sind auch Tschechien und Schweden, die nach dem reformwilligen Frankreich die nächsten EU-Ratspräsidentschaften innehaben werden.

Der Europäische Rat ist gespalten

Das Europäische Parlament hat unterdessen die Rolle des Antreibers übernommen und in einer Entschließung angekündigt, dass es bis zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungsspitzen im Juni einen Vorschlag für einen Europäischen Konvent vorlegen wird.

Die Mitgliedstaaten entscheiden dann mit einfacher Mehrheit und brauchen 14 Stimmen aus ihren Reihen, die den Weg zu einem Konvent mitgehen wollen. Das könnte mehr als knapp werden. Selbst wenn es gelingen sollte, den Konvent einzuberufen, bleibt die Frage, ob die EU den weitreichenden Prozess von Vertragsänderungen, die einstimmig beschlossen und in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden müssten, mit einer hauchdünnen Mehrheit beginnen möchte.

Nicht nur auf den Konvent fokussieren

In dieser Phase sollten sich die EU-Institutionen nicht allein auf die Einberufung eines Konvents fokussieren, sondern alle Optionen zur Umsetzung der 49 Vorschläge im Blick nehmen. Dies schließt zum Beispiel auch die Anwendung der Passerelle-Klausel ein, die u.a. in Artikel 48 (7) EUV verankert ist. Durch diese „Brückenregel“ können die Staats- und Regierungsspitzen selbst die Abschaffung von Einstimmigkeitsregeln im Rat für Auswärtige Angelegenheiten durchsetzen und damit die EU zu einer handlungsfähigen außenpolitischen Akteurin aufwerten.

Das Europäische Parlament forderte bereits im „Bresso-Brok-Bericht“ von 2017 eine gezieltere Anwendung der Brückenklausel und auch der damalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wies 2018 in seiner Rede zur Lage der Union auf das schlafende Potenzial dieser Regelung hin. Genutzt wurde sie jedoch seither nicht.

Passerelle-Klausel und Wahlrechtsreform

Darüber hinaus sind zahlreiche Vorschläge der Zukunftskonferenz auch über einfache EU-Rechtsakte direkt umsetzbar: Die prominent geforderte Wahlrechtsreform, die aus den verschiedenen nationalen Wahlen eine kohärente Europawahl mit gleichem Wahleintrittsalter, Wahldatum und transnationalen Listen machen soll, hat das Europaparlament erst Anfang Mai vorgeschlagen. Nun liegt dieser Vorschlag im Rat.

Das Problem bei beiden Vorschlägen – der Anwendung der Passerelle-Klausel wie auch der Wahlrechtsreform – ist, dass die Mitgliedstaaten darüber einstimmig entscheiden müssten. Auch hierfür müssten die reformwilligen Mitgliedstaaten also bereit sein, politisches Kapital zu investieren.

Der größte „Bürgerdialog“ der EU ist die Europawahl

Zudem sollten die europäischen Parteienfamilien die Vorschläge in ihre Wahlprogramme zur Europawahl 2024 aufnehmen. Europaabgeordnete und insbesondere die Spitzenkandidierenden müssten dann ein Versprechen abgeben, ob und welche Vorschläge sie bei einer Wahl umsetzen möchten. Denn der größte verbindliche europäische Bürgerdialog findet alle fünf Jahre mit der Europawahl statt.

Russlands Aggression könnte dafür sorgen, dass 2024 die Menschen noch enger hinter den europäischen Institutionen stehen, was die junge europäische Parlamentsdemokratie nochmals stärken wird. Auch dürfte das 2019 gescheiterte Spitzenkandidatensystem wieder auferstehen. Denn wahrscheinlich wird sich Ursula von der Leyen von der Europäischen Volkspartei (EVP) zur Spitzenkandidatin küren lassen. Diese Entscheidung wird mit Gegenkandidaturen und Wahlkampf-Polemik garniert nochmals die Aufmerksamkeit steigern.

Nun geht es um die Stärkung der parlamentarischen Demokratie

Wenn der frühere liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt nun aber fordert, die EU-Zukunftskonferenz künftig regelmäßig zu wiederholen, kann man dazu nur sagen: Bitte nicht! Denn machen wir uns nichts vor: Die Konferenz zur Zukunft Europas hat ihr hochgestecktes Ziel nicht erreicht. Zwar hat sie durchaus lesenswerte Ergebnisse hervorgebracht. Aber sie wurde in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen und hat auch die Reformblockade im Europäischen Rat nicht überwinden können. Die gleiche Übung alle fünf Jahre neu zu veranstalten, wäre Zeit- und Ressourcenverschwendung.

Eine pluralistische Demokratie braucht öffentlichen Raum und Beteiligungsformate. Aber vor allem lebt sie von Repräsentativität und gewählten Verantwortungsträger:innen. Nur wenn verlässliche Entscheidungsstrukturen gestärkt werden, wird den Bürger:innen klar, dass sie bei ihrer Stimmabgabe zum Europäischen Parlament tatsächlich eine europäische Entscheidungswahl haben. Hierauf sollte die institutionelle Agenda der EU in den nächsten Jahren gerichtet sein.

Portrait Bernd Hüttemann

Bernd Hüttemann ist Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) sowie Lehrbeauftragter an der Universität Passau. Dieser Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.




Bilder: Asterix-Statue: Martin Lewison [CC BY-SA 2.0], via Flickr; Porträt Bernd Hüttemann: Mathias Bothor [alle Rechte vorbehalten].

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