10 Mai 2022

Die Passerelle in den Blick nehmen: Wie eine Vertragsänderung erreicht und das Veto im Rat abgeschafft werden kann

Von Andrew Duff.
Small wooden passerelle bridge
„Der beste Weg zu einer Reform besteht darin, die Anwendung der allgemeinen Passerelle zu erleichtern.“

Im Anschluss an die Konferenz über die Zukunft Europas will das Europäische Parlament eine Vertragsrevision anstoßen. Die Schlussfolgerungen der Konferenz sind ziemlich selbsterklärend und auch nicht überraschend. Es ist kein Schock für das System, dass die Konferenz, in hohem Maße angetrieben von ihrer Bürgerkomponente, „mehr Europa“ und nicht weniger will und dass ihr wichtigster institutioneller Vorschlag darin besteht, das nationale Vetorecht im Rat aufzugeben.

Man muss keine militante Föderalist:in sein, um zu erkennen, dass es die Europäische Union behindert, wenn der Rat weiter nach den Verfahren eines Staatenbunds agiert. Trotz ihrer Loyalitätsbekundungen gegenüber dem europäischen Projekt halten die nationalen Regierungen an ihren Vetos fest und machen die Entscheidungsfindung langsam, undurchsichtig und schwerfällig. Europaskeptische Kräfte haben immer versucht, sich der unausweichlichen Verbreitung dessen zu widersetzen, was wir seit dem Vertrag von Lissabon als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ kennen – das heißt, Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Rat plus Mitentscheidung des Parlaments (Art. 294 AEUV).

Die qualifizierte Mehrheit folgt einer föderalistischen Logik

Jeden Tag wird deutlicher, warum es unmöglich ist, das neue demokratische Gemeinwesen auf supranationaler Ebene aufzubauen, wenn ein Mitgliedstaat allein Entscheidungen blockieren kann – sogar aus fadenscheinigen Gründen, die nichts mit dem Inhalt der Sache zu tun haben müssen. Aus diesem Grund hat die Kampagne zur Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen eine solche Bedeutung erlangt. Bei jeder Vertragsreform seit den Römischen Verträgen von 1957 wurde das Mehrheitsverfahren auf die eine oder andere Weise vorangebracht.

Die Ausweitung qualifizierter Mehrheiten hat eine solide föderalistische Logik. Der Verfassungskonvent von 2002/03 unter dem Vorsitz von Valéry Giscard d’Estaing unternahm mutige Schritte zur Abschaffung des Vetorechts in den meisten Bereichen. Dies rief eine von Großbritannien angeführte Gegenreaktion hervor. Der Vertrag von Lissabon, der nach dem Scheitern des Giscard-Projekts ausgearbeitet wurde, ermöglichte es den Nationalist:innen, noch mehr Bereiche zurückzuerobern. Der Geltungsbereich der qualifizierten Mehrheit wurde weiter eingeschränkt, aber die Briten hassten das Verfahren so sehr, dass sie die Union ganz verließen.

Die Erfindung der „Passerelle“

Als Kompromiss wurde die „Passerelle-“ oder Brückenklausel erfunden. Diese Bestimmung erlaubt es dem Europäischen Rat, das Beschlussverfahren in allen Bereichen außer der Verteidigung von Einstimmigkeit auf qualifizierte Mehrheit umzustellen. Außerdem erlaubt sie dem Europäischen Rat, von „besonderen Gesetzgebungsverfahren“ zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren überzugehen. Solche Sonderverfahren des Rates tauchen im Vertrag überall dort auf, wo es um Themen geht, die für die Nationalsouveränist:innen besonders heikel sind. In diesen Bereichen beschließt der Rat einstimmig, nach Unterrichtung oder Anhörung des Parlaments, manchmal mit einem Zustimmungsrecht der Abgeordneten, aber nie in Form des regulären Mitentscheidungsverfahrens.

Besondere Verfahren des Rates gelten beispielsweise für Fragen der Besteuerung und der Harmonisierung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften (Art. 113 und 115 AEUV). Außerdem sind sie für Fälle vorgesehen, in denen die Unterschiede zwischen den einzelstaatlichen Praktiken besonders ausgeprägt sind, wie z. B. im Familienrecht, bei bestimmten Aspekten der sozialen Sicherheit und des Arbeitnehmerschutzes sowie bei der Wahl und Struktur der Energieversorgung. Zudem sind Sonderverfahren des Rates in rund einem Dutzend weiterer Bereiche erforderlich, darunter die Ausweitung der Unionsbürgerrechte (Art. 22 AEUV), das Erheben von Steuern (Art. 311 AEUV) und die Anwendung der berühmten „Flexibilitätsklausel“, die Maßnahmen zur Verwirklichung der Vertragsziele auch dann ermöglicht, wenn der Vertrag die erforderlichen Befugnisse nicht vorsieht (Art. 352 AEUV).

Die Einstimmigkeit macht die Passerelle praktisch unbrauchbar

Ein umfassender Einsatz der Brückenklausel würde die Union von den Mühen einer weiteren Vertragsrevision entlasten. Doch wenn die Passerelle so klug war, warum wurde sie dann in den letzten zwanzig Jahren nie eingesetzt, um Entscheidungsverfahren zu verändern? Das liegt daran, dass der Vertrag von Lissabon vorsieht, dass die Brücke nur genutzt werden kann, wenn alle Mitgliedstaaten im Europäischen Rat einstimmig zustimmen und kein einziges nationales Parlament Einwände erhebt. Das Erfordernis der Einstimmigkeit macht die Passerelle praktisch unbrauchbar.

Die Konferenz zur Zukunft Europas hat die Abschaffung des Vetorechts auf abstrakter Ebene erörtert und keine klare Anweisung gegeben, wie dieses Ziel bei einer Vertragsänderung zu realisieren wäre. Die Kommission, von der man in der Vergangenheit erwartet hätte, dass sie die Verfassungsreform der Union voranzutreiben hilft, hat überhaupt nichts getan. Der Rat ist, natürlich, gespalten. Es bleibt also allein das Parlament übrig, um den Prozess in Gang zu setzen (Art. 48 (2) EUV). Am 4. Mai stimmte das Parlament grundsätzlich für eine Änderung der Verträge. Das sollte es nun in der Praxis tun.

Die Passerelle anwenden

Einen einzelnen, einfachen Weg, die Einstimmigkeit im Rat abzuschaffen, gibt es nicht. Während Art. 22 EUV die Einstimmigkeit für Entscheidungen über die Ausrichtung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik vorschreibt, bietet sich im Bereich der Gesetzgebung ein kompliziertes Bild. Wenn die Europaabgeordneten nach einem Anknüpfungspunkt suchen, an dem sie ihre Hoffnungen auf Vertragsänderungen und einen neuen Konvent festmachen können, wären sie gut beraten, die Passerellen in den Blick zu nehmen – besonders die allgemeine Passerelle-Klausel in Art. 48 (7) EUV. Der beste Weg zu einer Reform besteht darin, die Nutzung dieser allgemeinen Passerelleklausel zu erleichtern, indem für ihre Anwendung statt einer einstimmigen Entscheidung nur noch eine qualifizierte Mehrheit notwendig wird.

Der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Parlaments sollte deshalb jetzt vorschlagen, den dritten Unterabsatz von Artikel 48 (7) EUV zu streichen. Dies würde das Recht beseitigen, dass ein einziges unwilliges oder nationalistisch gesinntes Parlament in einem einzelnen Mitgliedstaat die Passerelle blockieren kann. Die nationalen Parlamente als Kollektiv würden ihre Befugnisse gemäß dem Vertrag behalten, die Reform aus Gründen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit abzulehnen (Art. 12 (b) EUV).

Passerelle mit superqualifizierter Mehrheit

Der letzte Unterabsatz von Artikel 48 (7) EUV sollte dann wie folgt geändert werden:

„Der Europäische Rat erlässt diese Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit nach dem Verfahren in Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b nach Zustimmung des Europäischen Parlaments, das mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt.“

Diese Regelung bedeutet eine „superqualifizierte Mehrheit“, für die mindestens zwanzig Mitgliedstaaten nötig wären, die mehr als 65 Prozent der Bevölkerung der Union repräsentieren.

Und schließlich muss das Parlament auch die Abschaffung von Art. 353 AEUV vorschlagen, der die Anwendung der Passerelle auf vier Schlüsselbereiche des Vertrags verbietet, nämlich:

  • Artikel 311 über die „Eigenmittel“ oder Einnahmen der Union
  • Artikel 312 (2) über den mehrjährigen Finanzrahmen
  • Artikel 352, die Flexibilitätsklausel
  • Artikel 354, der das Beschlussfassungsverfahren für die Anwendung von Art. 7 EUV zur Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung der Werte der Union durch einen Mitgliedstaat regelt.

Die Zeit für Reformen ist jetzt

Eine Vertragsänderung auf diese einfache, aber wirkungsvolle Art und Weise sollte ausreichen, um im Europäischen Rat die einfache Mehrheit zu erhalten, die für einen Konvent und eine daran anschließende Regierungskonferenz erforderlich ist (Art. 48 (3) EUV). Sich beim ersten Vorstoß auf die Überarbeitung der Passerelle-Klausel zu beschränken, schließt gleichzeitig nicht aus, dass die Europaabgeordneten zu gegebener Zeit noch viel mehr auf die Reformagenda setzen könnten.

Ein einmal zustande gekommener Konvent wird in jedem Fall eine Eigendynamik entwickeln. Dies ist der richtige Weg, um die nächste Reformphase der EU-Verfassung einzuleiten. Die Zeit für den Kickstart ist jetzt.

Portrait Andrew Duff

Andrew Duff (@AndrewDuffEU) ist Academic Fellow am European Policy Centre. Sein neuestes Buch, „Constitutional Change in the European Union“, erscheint in Kürze bei Palgrave.


Dieser Artikel ist zuerst beim European Policy Centre erschienen und wird hier mit freundlicher Genehmigung des Autors veröffentlicht.


Übersetzung: Manuel Müller
Bilder: Passerelle: Wavian, CC BY 2.0, via Flickr; Porträt Andrew Duff: alle Rechte vorbehalten.

1 Kommentar:

  1. Toller Vorschlag und sehr verständlich. Vielen Dank. Ob denn das wenigstens gelingt?

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