02 Mai 2022

Das europapolitische Quartett: Nach den Wahlen in Ungarn, Frankreich und Slowenien – wie weiter mit dem europäischen Parteiensystem?

Mit:
  • Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
  • Manuel Müller, Universität Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.

Janez Janša und Viktor Orbán
Janez Janša wurde abgewählt. Viktor Orbán bleibt im Amt.

Manuel
Die Europawahl 2019 wurde in der öffentlichen Debatte oft als ein Duell „Emmanuel Macron gegen Viktor Orbán“ beschrieben. Als nationale Politiker standen die beiden selbst zwar gar nicht zur Wahl – aber sie galten als die wichtigsten Führungsfiguren der zwei wichtigsten entgegengesetzten Lager in Europa: Hier der französische Staatspräsident, der sich als liberal-progressiver Proeuropäer profiliert hatte, dort der ungarische Regierungschef, der mit nationalistischer und christlich-konservativer Rhetorik den Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit betreibt.

Im vergangenen Monat wurden nun beide wiedergewählt: Anfang April holte Orbáns Fidesz bei der ungarischen Parlamentswahl mit 54 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit der Mandate. Drei Wochen später setzte sich Macron in der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahl mit rund 59 Prozent gegen Marine Le Pen durch. Gleichzeitig erlitt bei der Parlamentswahl in Slowenien der Orbán-nahe Ministerpräsident Janez Janša (SDS/EVP) eine krachende Niederlage gegen den grün-liberalen Newcomer Robert Golob (GS/–).

In unserem heutigen Quartett soll es darum gehen, was diese Wahlen für die EU bedeuten. Werden die kommenden Jahre zum Wiederholungsspiel des Europawahlkampfs 2019?

Sophie
Aus meiner Sicht nicht unbedingt. Die Wiederwahl Macrons und die Wahlniederlage von Janša in Slowenien sind gute Neuigkeiten für die EU: Pro-europäische Regierungen sind wichtig, damit die europapolitische Agenda bis zu den Europawahlen 2024 vorangetrieben werden kann. Natürlich kann sich vieles mit den zukünftigen Wahlen ändern, vor allem auch in Italien nächstes Jahr. Aber derzeit ist Orbán mit seiner autoritären Pro-Putin-Linie in der EU eher isoliert – und mit Polen verhandelt man und hofft, dass die rechtspopulistische PiS sich nicht weiter in Richtung Autoritarismus bewegt.

Eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie

Julian
Da widerspreche ich: Wenn das Bild „Macron vs. Orbán“ den Konflikt zwischen Befürworter:innen und Gegner:innen der europäischen Integration symbolisieren soll, dann erwarte ich eine Wiederholung. Ich denke, dass auch der Europawahlkampf 2024 wieder von einer „Geht wählen, rettet die EU“-Kampagne geprägt sein wird.

Auf den ersten Blick ist das eine schlechte Nachricht, weil es scheinbar wieder eine Depolitisierung der Debatte ist, was potenziell Politikverdrossenheit fördert. Auf den zweiten Blick sehe ich – insbesondere, wenn ich mir die Wahlprogramme für den Bundestagswahlkampf 2021 ansehe – aber Anzeichen, dass sich mit pro-europäischen Kampagnen Wähler:innen gewinnen lassen. Der Konflikt verläuft nicht mehr zwischen Systembefürworter:innen und -skeptiker:innen. Ich finde, es ist an der Zeit, diese negative postfunktionalistische Sicht auf den Gegensatz „Macron vs. Orbán“ zu überwinden. In Wirklichkeit geht es bei diesem Gegensatz vielmehr um eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie, die in der Politikwissenschaft als „GAL vs. TAN“ (grün/alternativ/libertär vs. traditionell/autoritär/nationalistisch), „Integration vs. Demarkation“ oder „Inklusion vs. Exklusion“ beschrieben wird.

Manuel
Das heißt, du siehst die Polarisierung Macron / Golob vs. Orbán / Le Pen / Janša als neuen Normalzustand für die europäische Politik?

Julian
Ja. Die spannende Frage ist eigentlich: Wird der ehemals dominante Links-vs.-rechts-Konflikt durch einen neuen dominanten Inklusion-vs.-Exklusion-Konflikt ersetzt? Oder werden wir dauerhaft einen zweidimensionalen Konfliktraum haben.

Wahlen gewinnen mit pro-europäischen Positionen

Sophie
Das ist ein guter Punkt, Julian. Wenn diese Konfliktlinie an Bedeutung gewinnt, stellt sich aber auch die Frage, wie die Parteien damit umgehen können. Problematisch wäre es jedenfalls, wenn es bei der nächsten Europawahl wieder nur um eine Pro-vs.-anti-EU-Debatte geht – schon allein, weil das inhaltsleer ist. Am Ende begünstigt das auch die hohe Wahlenthaltung, die z.B. dazu geführt hat, dass in Frankreich Marine Le Pens Rassemblement National bei der letzten Europawahl die stärkste Partei wurde.

Julian
Ein erster Schritt ist, zu vermitteln, dass Menschen für Europa sind und sich damit Wahlen gewinnen lassen. Der ECFR hat mit Blick auf die frugal four gezeigt, dass die dänische Bevölkerung weniger europaskeptisch ist als ihre Regierung. In einer Umfrage waren die Dän:innen für einen höheren EU-Haushalt, sofern die Regierung konkret sagt, wofür das Geld sinnvoll ausgegeben wird. Das ist genau der Punkt: Die Pro-Europäer:innen müssen für konkrete europapolitische Inhalte werben und eben nicht mehr für „die EU“.

Ich fürchte nur, bis zur Europawahl in zwei Jahren kriegen wir die Parteien und Regierungen nicht davon überzeugt. Auch wenn ich, wie zuvor geschrieben, erste positive Tendenzen sehe.

Sophie
In Polen ist es ja ähnlich, dass die Bevölkerung pro-europäischer ist als die derzeitige PiS-Regierung. Nur: Wie genau stellst du dir vor, dass Pro-Europäer:innen für europapolitische Inhalte werben? Angesichts der Kompetenzverteilung zwischen der nationalen und EU-Ebene und der daraus entstehenden Komplexität ist es nicht besonders einfach, parteipolitische Slogans anhand der Europapolitik zu entwerfen. Oft ist die europäische Dimension in nationalen öffentlichen Debatten überhaupt nicht vorhanden.

Zugegeben: Macron hat es ganz gut hinbekommen, weil er konkrete Konzepte entworfen und eine Sprache genutzt hat, die die Franzosen anspricht, beispielweise mit Schlagwörtern wie „Souveränität“ oder noch „une Europe qui protège“. Aber ich habe die ganze Zeit Peter Mairs These im Kopf: Dass die EU geschaffen wurde, um der Politisierung der nationalen Ebene zu entkommen und Entscheidungen zu treffen, die nicht mehrheitlich befürwortet werden. Das erklärt, warum diese Pro-vs.-anti-EU-Konfliktlinie so stark geworden ist.

Alternativen jenseits von „dafür oder dagegen“

Manuel
Dass man mit proeuropäischen Positionen Wahlen gewinnen kann, denke ich auch. Bei dieser Umpolung der Debatte macht mir allerdings Sorgen, dass ja in keinem politischen System dauerhaft dasselbe Lager gewinnt. Und wenn dann zum Beispiel in Frankreich die einzige plausible Alternative zu Macron Le Pen ist, dann ist die Gefahr hoch, dass irgendwann eben doch auch die autoritären Nationalist:innen an die Regierung kommen.

Schon dass jetzt in Ungarn und Polen rechtsautoritäre Regierungen an der Regierung sind, stellt die EU-Institutionen ja vor eine existenzielle Herausforderung: Das politische System der EU ist sehr konsensorientiert, was für die traditionellen politischen Gegensätze (ökonomisch links vs. rechts, gesellschaftlich liberal vs. konservativ etc.) einigermaßen passabel funktioniert hat. Aber lassen sich Konsenslösungen finden, wenn das „andere“ Lager aus Orbán und Le Pen besteht?

Julian
Genau das müssen wir überwinden. Wenn die Kernfrage lautet: „Welches Europa wollen wir?“, haben wir eben eine politische Debatte. Welche Außenpolitik wollen wir? Welche Sozialpolitik wollen wir? Welche Wirtschaftspolitik wollen wir? Der Kern ist glaube ich, die Debatte von „dafür vs. dagegen“ hin zu einer Debatte über diese Politik oder jene zu bringen.

Denn „gegen die EU“ kann man leicht sein, indem man auf den „Brüsseler Wasserkopf“ schimpft oder andere populistische Narrative bedient. Gegen eine konkrete Politik zu sein, ist schwieriger. Das macht die Debatte differenzierter und gibt dann auch wieder anderen Akteur:innen Raum.

Sophie
Das Problem ist dabei allerdings auch, dass die Themensetzungen in den verschiedenen EU-Mitgliedsländer sehr unterschiedlich sind, wenn es um die Europapolitik geht. Bei einer Bundestagswahl einigen sich alle darauf, welche Themen für die Bevölkerung relevant sind; in der EU ist es ganz anders. Da spielt für die französische Öffentlichkeit vielleicht Verteilungspolitik eine wichtige Rolle, in Deutschland ist es eher die Wirtschaftspolitik, in Polen die Energiepolitik etc.

Aber zu deiner Frage nach den Konsenslösungen, Manuel: Nein. Wenn bestimmte Entscheidungsträger:innen die EU von innen aushöhlen möchte, sollte es keine Konsensbereitschaft mehr geben. Da werden die EU-Institutionen ihren politischen „Habitus“ ändern müssen.

Institutionelle Konsenszwänge

Manuel
Ich sehe das genauso, aber das führt uns dann wieder zu der Debatte um das politische Entscheidungssystem: Die Konsensorientierung der EU ist ja nicht nur Habitus, sondern entsteht auch aus institutionellen Zwängen – Einstimmigkeitsverfahren im Rat, die durch die nationalen Regierungen gewählte Kommission etc. Um gegen Wahlsiege von Nationalpopulist:innen in einzelnen Mitgliedstaaten resilienter zu werden, müsste die EU diese institutionellen Zwänge überwinden. Das aber ginge nur durch eine Vertragsreform, bei der wiederum alle Mitgliedstaaten, also auch die Orbán-Regierung, ein Vetorecht haben.

Sophie
Das stimme dir völlig zu, Manuel. Aber nicht nur Orbán ist gegen Vertragsreformen; ich denke, dass auch die französische oder deutsche Regierung das nicht wirklich aktiv vorantreiben möchten. Aber man könnte auch innerhalb der Verträge schon viel verändern. Vertragsänderungen sind nicht das Allheilmittel, das wir (als EU-Expert:innen) uns oft erhoffen. Die Migrationspolitik ist ein Paradebeispiel: Wir hätten die Möglichkeit, Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zu treffen, aber wenn Themen politisch empfindlich sind, erfordern sie die politische Unterstützung aller Regierungen, um auch umgesetzt zu werden.

Julian
Ich möchte auch behaupten, dass die europäische Entscheidungsfindung schon in der Vergangenheit nur funktioniert hat, weil Paketlösungen geschnürt wurden, bei denen jede:r Seines bekommt. Einen Konsens im wahren Sinne des Wortes gab es sehr selten, sondern immer Formelkompromisse, die alle unterschreiben konnten. Mit Orbán und Le Pen wird das noch schwieriger – außer man zeigt, dass eine Ablehnung der Politik auf EU-Ebene deren Wähler:innen wehtut.

Aber Entscheidungen auf EU-Ebene dürfen auch nicht zu einem „Wie hegen wir Orbán ein?“-Spiel werden. Das würde drastisch die Effizienz europapolitischer Entscheidungen reduzieren. Letztlich stößt hier der Intergouvernementalismus an seine Grenzen und unterminiert die Handlungsfähigkeit der EU und der nationalen Regierungen. Das lässt sich nur lösen, indem man entweder die Zusammenarbeit reduziert und jedes Land seinen eigenen Weg geht, oder indem man die Verfahren durch Reformen effizienter macht.

Sophie
Einverstanden. Aber weil du schreibst „Mit Orbán und Le Pen“, möchte ich doch kurz korrigieren: Orbán hat in der EU was zu sagen, Marine Le Pen nicht. Auch wenn manche Medienkommentare etwas anderes suggerieren: Sie hat die Wahl verloren.

Nationale Unterschiede bei der Veränderung des Parteiensystems

Manuel
Kommen wir noch mal zum europäischen Parteiensystem zurück: Im Europäischen Parlament gehört Macrons LREM der liberalen RE-Fraktion an; Orbáns Fidesz ist seit letztem Jahr fraktionslos, nähert sich aber offenbar der rechtsextremen ID-Fraktion an. Die beiden größten europäischen Parteien sind aber immer noch die christdemokratische EVP und die sozialdemokratische SPE, und trotz ihres allmählichen Niedergangs in den letzten Jahren werden sie das wohl auf absehbare Zeit auch bleiben.

Offensichtlich liegt das daran, dass die politische „Umpolung“ des politischen Systems je nach Land unterschiedlich verläuft. In manchen Ländern (wie Deutschland, Schweden, Spanien, Portugal) existiert weiterhin weitgehend das alte Parteiensystem mit seiner EVP-SPE-Alternanz. In anderen Mitgliedstaaten (darunter die drei, die gerade gewählt haben, aber zum Beispiel auch Italien, Bulgarien und anderen) ist davon wenig übrig.

Aus meiner Sicht ist das eine spezielle Herausforderung für das europäische Parteiensystem: Einerseits können wir beobachten, wie sich die europäischen Parteien stärker institutionalisieren – zum Beispiel durch die Spitzenkandidat:innen, bald vielleicht durch transnationale Listen. Andererseits wird aber das Parteiensystem insgesamt instabiler, und auch die nationale Fragmentierung wächst.

Julian
Na ja. Auch in Deutschland existiert das alte 2,5-Parteiensystem schon lange nicht mehr. Wir haben inzwischen ein Sechs-Parteien-System.

Sophie
Und ich wäre auch nicht so optimistisch, was die Institutionalisierung der europäischen Parteien betrifft. Ob sich das Spitzenkandidatensystem 2024 wieder durchsetzt, hängt noch von vielen Faktoren ab.

EVP und SPE spielen in Frankreich kaum noch eine Rolle

Julian
Grundsätzlich verweise ich auf meinen Punkt oben: Die Frage ist, ob die Instabilität ein Kennzeichen der aktuellen Transformation oder ein dauerhaftes Kennzeichen des Systems wird. Mit einer Übergangsphase können wir sicherlich leben, weil dann in absehbarer Zeit neue Stabilität zu erwarten ist. Wenn die Instabilität dauerhaft wird, müssen die politischen Systeme auf nationaler und europäischer Ebene angepasst werden.

Manuel
Aber was, wenn die Transformation in manchen Ländern dauerhaft ist, aber in anderen nicht? Das erscheint im Moment ja keine ganz unplausible Aussicht.

Julian
Welche Transformation meinst du denn? Geht es um die ideologische Umorientierung von „links vs. rechts“ zu „GAL vs. TAN“, dann vermute ich, dass es mittelfristig eine Stabilisierung in einem ein- oder zweidimensionalen Konfliktraum gibt.

Geht es um die Veränderung von Parteiorganisationen, da hat zum Beispiel Frankreich ja eine lange Tradition an Instabilität. Ich denke, das kann das europäische Parteiensystem auffangen. Einziger Spoiler könnten populistische Parteien seien, die eben politisch nicht zu verorten sind. Hier würde ich aber vermuten, dass deren Erfolg mit einer Stabilisierung des Parteiensystems wieder abnimmt.

Manuel
Ich meinte tatsächlich vor allem die Transformation der Parteiorganisation, und hier vor allem die nationalen Unterschiede. In der Vergangenheit verlief zwar nicht in allen, aber in den allermeisten Mitgliedstaaten die zentrale politische Linie zwischen EVP und SPE. Inzwischen dominieren je nach Mitgliedstaat ganz unterschiedliche Parteien.

Das bringt zum einen das Problem mit sich, dass Wähler:innen für die EU-Ebene ein Parteiensystem kennenlernen müssen, das sie von der nationalen Ebene nicht gewohnt sind. In Frankreich zum Beispiel sind EVP und SPE derzeit kaum noch präsent, und in Estland gehören inzwischen fast alle Parteien, die nach den Umfragen damit rechnen können, ins Europäische Parlament einzuziehen, der liberalen RE-Fraktion an. Und zum anderen besteht die Gefahr, dass sich Parteiengegensätze mit nationalen Gegensätzen überlagern – also zum Beispiel RE durch den starken Einfluss von Macron als eine „französisch bestimmte“ Fraktion wahrgenommen wird.

Sophie
Zur „langen Tradition Frankreichs an Instabilität“: Die gab es vor allem in der Vierten Republik, als Frankreich noch kein semipräsidentielles, sondern ein parlamentarisches System war. Heute gibt es zwar immer noch viele Veränderungen in der Parteienlandschaft, aber sie wirken sich nicht mehr so sehr auf die Stabilität des politischen Systems aus. Solange die französische Regierung Macht hat, ist das System stabil, wenn auch wegen des schwachen Parlaments nicht unbedingt besonders repräsentativ.

(Nach derselben Logik könnte übrigens auch auf europäischer Ebene eine Stärkung des Europäischen Parlaments zu mehr Instabilität führen. Das heißt nicht, dass das zwingend eintreffen würde – aber es zeigt, wie stark wir auch mit nationalen Brillen auf die Debatte rund um institutionelle Reformen schauen. In Deutschland wird ein starkes Parlament meistens als etwas Gutes für die Demokratie und die politische Stabilität angesehen, in Frankreich nicht unbedingt.)

Rechte Regierungen im Europäischen Rat

Aber zur Transformation der Parteienlandschaft und ihren Auswirkungen auf die EU: Grundsätzlich schlagen sich nationale Veränderungen in der Parteienlandschaft stark auf die europäische Ebene durch – besonders bei großen Ländern, die viele Parlamentarier:innen stellen. Der Wahlsieg Macrons hat dazu geführt, dass die RE-Fraktion im Europäischen Parlament eine ganz neue Rolle spielt. Und klar: Wenn Parteien sich nicht mehr entlang der traditionellen politischen Achsen positionieren, wird es komplizierter für die Konsensfindung und die Strukturierung des europäischen Parlamentarismus.

Wenn wir allerdings über den Aufstieg rechter Parteien sprechen, sehe ich die Gefahr weniger im Europäischen Parlament als im Europäischen Rat – aufgrund des nationalen Veto-Rechts, und auch weil der Rat ganz allgemein im derzeitigen System eine wichtigere Rolle spielt als das Parlament.

Manuel
Das sehe ich genauso. Übrigens auch, weil es (nicht zuletzt aufgrund der europäischen Konsensstrukturen) für rechte Parteien leichter ist, über die nationale Ebene politische Gestaltungsmacht zu erobern. Im Europäischen Parlament sind die Rechten weit von einer Mehrheit entfernt. Aber in einzelnen Mitgliedstaaten können sie durchaus an die Regierung kommen und dann über den Rat die europäische Politik mitbestimmen.

Julian
Die Rolle des Europäischen Rates sehe ich hier auch als extrem problematisch. Jenseits der Frage nach ideologischen Konflikten innerhalb von Parteiensystemen stellt sich mit Blick auf Ungarn auch konkret die Frage, wie man autoritären Regimen innerhalb der EU umgeht. Darf ein Regierungschefs mit zweifelhafter demokratischer Legitimation im Europäischen Rat überhaupt etwas mitentscheiden? Das, was einmal das „andere Demokratiedefizit“ auf der nationalen Ebene genannt wurde, ist auch ein Demokratiedefizit im Rat und im Europäischen Rat.

Sophie
Richtig: Die ungarische Wahl am 3. April ist nicht fair verlaufen, und jetzt entscheidet Orbán für alle 450 Millionen EU-Bürger:innen mit. Das ist sehr problematisch.

Wenn bei nationalen Wahlen die ganze EU auf dem Spiel steht

Manuel
Absolut. Theoretisch ist das ja auch der Grund, weshalb in Art. 7 EUV ausdrücklich der Entzug von Stimmrechten im Rat erwähnt wird – nur dass das Artikel-7-Verfahren aus bekannten Gründen praktisch kaum einsetzbar ist.

Aber auch das führt uns wieder zu der Frage, wie wir uns vom Einfluss einzelner nationaler Regierungen freimachen können. Am Ende ist es ja doch auch ein institutionelles Problem, wenn Europawahlen kaum je zu einschneidenden Veränderungen im politischen Kurs der EU führen, während bei nationalen Wahlen wie in Frankreich oder Ungarn regelmäßig die Funktionsfähigkeit der EU insgesamt auf dem Spiel steht.

Sophie
Der Punkt stimmt: In Brüssel sieht man, wie stark die Europapolitik von nationalen Wahlen abhängig ist. Sobald eine wichtige nationale Wahl vorbei ist, steht schon die nächste vor der Tür, die dann auch die Ratskonstellation und somit die Machtverhältnisse ändert. Aber die EU von dem Einfluss der nationalen Regierungen „freizumachen“ sehe ich nicht als die Lösung. Auf absehbare Zeit bleibt die EU ein politisches System, dessen institutionelles Gefüge sowohl supranationale als auch intergouvernementale Elemente aufweist. Deswegen brauchen wir zwar eine Stärkung des Europäischen Parlaments und der Kommission, aber gleichzeitig auch eine Europäisierung auf nationaler Ebene.

Julian
Vor allem müssen der Rat und der Europäische Rat aufhören, als permanente internationale Konferenz zwischen Diplomat:innen zu agieren, und stattdessen zu einer zweiten Parlamentskammer werden. Dafür brauchen wir aber eine fundamentale institutionelle Reform des Ratssystems.

Was kann die EU tun?

Manuel
Nach 2017 war in Deutschland viel davon die Rede, dass die Bundesregierung Macron in der Europapolitik nicht hängen lassen dürfe, da sonst 2022 ein Wahlsieg Le Pens drohe. Das ist nun nicht passiert, Macron hat sich noch einmal fünf Jahre Präsidentschaft gesichert – aber mit deutlich geringerem Vorsprung. Und in anderen Ländern stehen die nächsten Schlüsselwahlen bereits bevor, etwa in Italien (spätestens im Mai 2023) und Polen (Herbst 2023).

Kommen wir also zur Gretchenfrage: Was kann, was soll die EU gegen den Aufstieg rechter, demokratiefeindlicher Akteur:innen tun? Insbesondere auch: Was sollten die Regierungen anderer Mitgliedstaaten wie Deutschland tun, um einen Fratelli/Lega-Sieg in Italien, einen PiS-Sieg in Polen oder auch einen RN-Sieg in Frankreich 2027 unwahrscheinlicher zu machen?

Sophie
Die EU sollte tun, was sie am besten kann: regulieren. Beispielsweise um den Medienpluralismus zu verteidigen, Desinformation zu bekämpfen und um die digitalen Plattformen dazu zu zwingen, Hassrede und Polarisierung zu unterbinden. Die EU sollte außerdem noch stärker auf Korruptionsbekämpfung und Rechtsstaatlichkeit achten. Sie sollte alle ihre Mittel – auch Sanktionen – nutzen, um das Signal auszusenden: Wer anti-demokratisch handelt, hat in der EU keinen Platz.

Nicht zuletzt sollte die EU sich auch stärker mit Ungleichheit beschäftigen und sicherstellen, dass strukturschwache Regionen unterstützt werden. Die französische Präsidentschaftswahl hat es wieder gezeigt: Die Wähler:innen von Marine Le Pen sind arm und wohnen auf dem Land. Darauf kann die EU, genauso wie die nationalen Regierungen, politische Antworten finden.

Julian
Mittelfristig müssen wir die institutionellen Reformen angehen – wobei ich inzwischen denke, dass dies zu einem „Europa der (permanent) konzentrischen Kreise“ führen wird, mit abgestuften Beteiligungsrechten und -pflichten.

Kurzfristig sollte Deutschland stärker auf einzelne Länder zugehen und durch gemeinsame Initiativen die demokratischen Kräfte stärken, wo diese an der Macht sind. Wir müssen zeigen, dass nicht alle zentral- und osteuropäischen Staaten nationalpopulistisch sind – und dass sie mit einer demokratischen Regierung Einfluss in der EU haben.



Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und am Lehrstuhl für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Bilder: Janša und Orbán: European People’s Party, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons; Porträts Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller: privat [alle Rechte vorbehalten].

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