26 August 2021

Das europapolitische Quartett: Wie steht es um die Konferenz zur Zukunft Europas?

Mit dabei:
  • Carmen Descamps, European Liberal Forum, Madrid
  • Julian Plottka, Universität Passau, Berlin
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
  • Manuel Müller, Der (europäische) Föderalist, Berlin
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde im Nachhinein redaktionell bearbeitet.

Mehrstöckiges Haus mit Balkonen; an einem einzelnen Balkon ist eine Europaflagge befestigt
Fünf von 100.000 Europäer:innen sind bereits auf der digitalen Plattform zur Zukunftskonferenz aktiv.

Manuel
Willkommen zum zweiten „europapolitischen Quartett“ zur Konferenz über die Zukunft Europas! Bei unserem ersten Chat Anfang März hatten sich die drei EU-Institutionen – Parlament, Rat und Kommission – gerade auf die Grundstruktur der Konferenz geeinigt. Am 9. Mai fiel dann mit einer feierlichen Veranstaltung im Parlament der Startschuss für die Konferenz. Seit Ende April gibt es die digitale Diskussionsplattform, die allen Bürger:innen eine Beteiligung an der Debatte ermöglichen soll. Am 17. Juni fand in Lissabon eine erste „europäische Bürgerveranstaltung“ statt, zwei Tage später trat in Straßburg die Plenarversammlung der Konferenz zum ersten Mal zusammen. Die eigentliche inhaltliche Arbeit wird erst im September mit den „europäischen Bürgerforen“ beginnen. Aber wenn man bedenkt, dass die Konferenz im Frühling 2022 schon wieder enden soll, sind wir eigentlich bereits mittendrin. Bei uns geht es heute deshalb um eine erste Zwischenbilanz – und um einen Ausblick auf das, was uns in den nächsten Monaten erwartet.

Fangen wir mit einem kleinen Stimmungsbarometer an. Für dieses Quartett kommen wir aus drei verschiedenen europäischen Hauptstädten zusammen: Berlin, Brüssel und Madrid. Wie läuft in euren Ländern die Debatte zur Zukunftskonferenz?

Sophie
In Brüssel ist Sommerpause – das heißt, es sind erst mal alle im Urlaub. Im September wird es aber hoffentlich mit der Zukunftskonferenz weitergehen.

Julian
In Berlin ist zwar gerade gefühlt keine Sommerpause (die Schulferien sind sogar wirklich schon zu Ende), aber leider sind Ferien und Bundestagswahl nicht die einzigen Gründe für das geringe Interesse an der Konferenz. Die üblichen Verdächtigen sind und waren auch im Sommer aktiv. Aber jenseits der Föderalist:innen scheint selbst der politische Betrieb die Konferenz kaum zur Kenntnis zu nehmen.

Hohe Resonanz in Spanien

Carmen
Ich war ehrlich gesagt überrascht von der spanischen Medienresonanz, regional wie national, vor allem unmittelbar vor oder nach dem Launch am 9. Mai. Es gab auch Reaktionen oder Veranstaltungen von hiesigen Think Tanks wie Real Instituto Elcano oder CIDOB und kürzlich eine Summer School im Baskenland.

Hinzu kommen Anstrengungen, die Konferenz und ihren partizipativen Ansatz bekannt(er) zu machen. Der Congreso de los Diputados (das spanische Unterhaus) sammelt und veröffentlicht auf seiner Internetseite sogar Input zur Zukunftskonferenz, den Bürger:innen hochladen können. Spanien zeigt sich damit als ein engagiertes und interessiertes EU-Mitglied, das auch in Zukunft die europapolitische Debatte mitbestimmen möchte.

Sophie
Spannend, dass in Spanien viel darüber diskutiert wird. In Brüsseler EU-Kreisen war die Zukunftskonferenz natürlich auch ein großes Thema, wobei aber als Prioritäten in den letzten Monaten eher die außenpolitischen Fragen und die Rechtsstaatlichkeit gesehen wurden.

In Belgien hat sich die Regierung eher positiv geäußert, und die Belgier:innen sind überdurchschnittlich pro-europäisch, aber viel wurde bisher nicht organisiert auf nationaler Ebene. Die belgische Regierung gibt sich auch offen für „konkrete Vorschläge“ zu EU-Reformen, aber welche das genau sein werden, ist bisher unklar – es gab auch noch keine Bürgerpanels auf nationaler Ebene, um das zu diskutieren.

Julian
Carmen, sind das denn nur die europapolitischen Fachkreise? Oder gibt es in Spanien auch jenseits der üblichen Verdächtigen Resonanz?

Carmen
Das ist eine gute Frage. Die hiesigen Vertretungen des Europäischen Parlaments sowie der EU-Kommission informieren natürlich über die Konferenz und laden zum Mitmachen ein, und die Beteiligung von Think Tanks und Universitäten, gerade mit Veranstaltungen auf Spanisch für eine größtmögliche Teilhabe, sind ein guter Anfang. Interessant wird zu sehen, inwiefern darüber hinaus auch regionale Vertreter, also die 17 spanischen autonomen Regionen, aktiv werden. Das ist allein aus der Hauptstadt schwer zu beurteilen.

Für eine größere Beteiligung muss aber jedenfalls auch in Spanien nach der Sommerpause einen Gang hochgeschaltet werden. Ich hoffe, dass die Debatte mit dem Fortschritt der Impfkampagne und der Rückkehr zu Präsenzveranstaltungen an Fahrt gewinnt und auch jenseits der „üblichen Verdächtigen“ Interesse weckt. Ähnlich wie bei Sophie in Brüssel gibt es hier natürlich auch andere EU-Themen, die die nationale Debatte überlagern. Vor allem der Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“, von welchem Spanien bis zu knapp 20% (ca. 66 Milliarden Euro) erhalten könnte und sich damit direkt hinter Hauptrezipient Italien befindet.

1.813 Veranstaltungen europaweit

Manuel
Auf der digitalen Plattform gibt es eine Karte, auf der alle dezentralen Veranstaltungen zur Zukunftskonferenz eingetragen sind. Die Karte ist nicht besonders übersichtlich gestaltet, aber tatsächlich sieht es so aus, als ob Spanien da etwas herausragt – zusammen mit den Benelux-Ländern und, anscheinend, Budapest.

Julian
Die Überlagerung mit anderen EU- bzw. europäischen Themen scheint allerdings auch im Falle Budapest zumindest zum Teil die große Anzahl der Veranstaltungen zu erklären. Da finden sich zum Beispiel auch eine Veranstaltung zur V4-Präsidentschaft und eine Veranstaltung zum „ungarischen Batterientag“, bei dem es nur ganz am Rand um Europa geht. Bei den sehr geringen Veranstaltungszahlen auf der Karte geben dann zwei oder drei Extra-Veranstaltungen schon einen Ausschlag in der Statistik.

Manuel
Insgesamt verzeichnet die Plattform bis jetzt 1.813 dezentrale Veranstaltungen mit insgesamt 38.375 Teilnehmer:innen. Das klingt erst mal nach viel – aber wenn man bedenkt, wie viele „Quo vadis, Europa?“-Veranstaltungen von Think Tanks, EU-Institutionen oder Bildungsträgern auch in ganz normalen Jahren angeboten werden, ist mir nicht klar, ob die Zukunftskonferenz da überhaupt einen nennenswerten Unterschied gemacht hat.

Sophie
Alles, was ich bisher an Veranstaltungen über die Plattform mitbekommen habe, ist, dass die Fidesz-Partei von Viktor Orbán eine Konferenz zu den „christlichen Werten“ der EU organisiert hat. Das zeigt ein Dilemma, in dem sich die EU mit der Zukunftskonferenz befindet: Sie wagt deliberative Demokratie in einem politischen Kontext, der nicht besonders EU-freundlich ist.

Was hat die digitale Plattform bis jetzt erreicht?

Manuel
Dann lasst uns doch kurz über die Plattform selbst sprechen: Vier Monate nach dem Start haben sich dort 22.763 Teilnehmer:innen angemeldet, die 6.676 „Ideen“ (Reformvorschläge) gepostet haben – im Durchschnitt also etwas mehr als fünfzig am Tag. Diese Ideen wurden mit 12.207 Kommentaren und 33.745 „Unterstützungen“ (Likes) versehen.

Screenshot: 18. August 2021. Zum aktuellen Stand siehe hier.

Das ist mehr Debatte, als ein einzelner Mensch nachvollziehen könnte. Trotzdem sind 22.763 Teilnehmende gerade einmal 0,005 Prozent der EU-Bevölkerung. Von dem Ziel, die EU-Bürger:innen über die Plattform breit einzubinden, sind wir offensichtlich noch weit entfernt. Was hat die Plattform aus eurer Sicht bisher erreicht?

Carmen
Es gibt in jedem Fall noch Luft nach oben bei den Teilnehmendenzahlen, dennoch tendiere ich zu einem „Qualität statt Quantität“. Grundsätzlich ist eine Teilnahme für alle offen. Wenn die Veranstaltungen und die Plattform offene Debatten und konstruktive Vorschläge ermöglichen, die auch tatsächlich den Weg in die Konferenz finden, haben sie ihren Sinn doch erfüllt, oder?

Sophie
Das Problem, das ich sehe, ist, ob die Plattform tatsächlich Bürger:innen anzieht, die nicht bereits eine Affinität für politische Themen haben.

Die „üblichen Verdächtigen“

Julian
Da stimme ich Dir voll und ganz zu. Die Vorschläge auf der Plattform sind in der Tat zum Teil gut. Aber war nicht der Sinn der Sache, die Reichweite der Debatte zu vergrößern? Bisher haben es vor allem die Föderalist:innen geschafft, sich auf der Plattform zu platzieren.

In diesem Sinne ist es dann fast schon begrüßenswert, wenn auch europaskeptische Kräfte sich engagieren – auch wenn ich Anti-Demokrat:innen wie Orbán davon ausnehmen möchte. Der eigentliche Mehrwert wäre aber, Menschen einzubinden, die anders als die meisten derzeit auf der Plattform Aktiven sonst keine Beteiligungsmöglichkeit hätten. Da bin ich momentan eher skeptisch und glaube, dass die Bürgerforen das bessere Instrument sind.

Carmen
Das sehe ich auch so, was die Beteiligung der Föderalist:innen angeht. Erst einmal finde ich es begrüßenswert, dass die Föderalist:innen so aktiv sind und sich europaweit vernetzen, um das Instrument der Zukunftskonferenz zu nutzen. Ähnliches konnte man in der Vergangenheit z. B. auch bei Europäischen Bürgerinitiativen oder Konsultationen der Kommission beobachten, bei denen Aktivist:innen und Interessenvertreter:innen sich europaweit zusammengetan haben, um ihre Positionen einzubringen.

Aber natürlich sind wir damit auch wieder bei dem Problem, dass sich vor allem die „üblichen Verdächtigen“ zu Wort melden. Ehrlicherweise gehören wir ja selbst dazu 😉

Manuel
Mein Eindruck ist auch, dass sich auf der Plattform bisher vor allem Föderalist:innen wiederfinden – und einige europäisch gut aufgestellte zivilgesellschaftliche Akteure, speziell der Europäische Gewerkschaftsbund.

In den Medien gab es dagegen bisher vor allem Sichtbarkeit für die Allianz von europäischen Rechtsparteien, die Anfang Juli ihre Sicht auf die Zukunftskonferenz präsentierten (und nebenbei Spekulationen über eine neue große Rechtsfraktion im Europäischen Parlament auslösten). Das wirft die Frage auf: Nutzen Föderalist:innen und Nationalist:innen unterschiedliche Kanäle für die Konferenz? Oder nutzen sie die Konferenz zu unterschiedlichen Zwecken?

Was soll die Plattform erreichen?

Sophie
Für die Frage, was die Plattform erreichen kann, ist natürlich auch noch wichtig, was aus den Reformvorschlägen der Bürger:innen wird. Sicherlich werden sie in den finalen Bericht der Konferenz eingespeist, aber ob der dann auch von der EU-Kommission übernommen wird, bleibt in den Sternen geschrieben. Das Non-Paper, das zwölf Regierungen (u. a. Österreich und die Niederlande) im März verfasst haben, zeigt, dass die Mitgliedstaaten an die strategischen Prioritäten des Europäischen Rats festhalten wollen. Viele der Themen, die auf der Plattform aufgelistet sind, sind darin eh schon angesprochen.

Und wenn es um Bürgerbeteiligung gehen soll, die einen Großteil der 450 Millionen Bürger:innen einbinden soll, dann hätte die EU noch viel stärker in Kommunikation investieren müssen und lokale Partner finden sollen – oder mehr Bürgerforen organisieren sollen, was aufgrund der kurzen Laufzeit der Konferenz schwierig ist.

Manuel
Habt ihr denn bisher inhaltlich etwas aus der Debatte auf der Plattform mitgenommen? Mir selbst scheint es, dass viele der dort diskutierten Vorschläge – jedenfalls diejenigen, die auf größere Zustimmung stoßen – eigentlich altbekannte Ideen sind. Ein paar Beispiele: Die populärsten Forderungen im Bereich „Demokratie“ sind eine Europäische Föderation sowie transnationale Listen. In der Wirtschaftspolitik ist es die Umsetzung der Säule Sozialer Rechte, im Bereich „EU in der Welt“ die europäische Armee. Und beim Klima sind es ein Subventionsstopp für fossile Brennstoffe und die soziale Ausgestaltung der ökologischen Wende. Das ist alles schön und gut, aber neu ist es nicht.

Sophie
Das Problem sind aus meiner Sicht nicht die mangelnden Ideen, sondern die Tatsache, dass die meisten mit den derzeitigen Machtverhältnissen im Rat nicht politisch umgesetzt werden können. Das heißt, die Zielsetzung der Plattform, Reformideen vorzuschlagen, ist leider sehr begrenzt. Und wenn es um die Inklusivität der Debatte gehen soll, dann sind die Nutzer-Zahlen auch nicht besonders erfolgversprechend.

Ich glaube, die EU hätte sich vorher besser überlegen sollen, was genau sie mit der Plattform erreichen möchte – und sich viel stärker mit den Mitgliedstaaten und weiteren Partnern in den Ländern, die Bürger:innen erreichen, abstimmen und verbünden sollen.

Julian
Das könnte auch das inoffizielle Motto der gesamten Konferenz sein: „Die EU hätte sich vorher besser überlegen sollen, was genau sie damit erreichen möchte.“ 😋

„Habermas im Heute“?

Carmen
Was die Plattform aus meiner Sicht erreicht hat, ist jedenfalls eine erste Einbindung von Unionsbürger:innen und der Beginn einer transnationalen Debatte. Für einen genuinen Dialog über die Zukunft Europas und die Diskussion von Vorschlägen, ganz gleich ob konstruktiv oder destruktiv, halte ich die Plattform ungeeigneter. Um sie mit Inhalt zu füllen, braucht es auch die Veranstaltungen und die Bürgerforen.

Wenn wir uns die Plattform als „Habermas im Heute“ vorstellen, also die früheren Salons und Kaffeehäuser des 18. Jahrhunderts als Diskussionsforum und Schauplatz inklusiver Debatten zum Maßstab nehmen, sind wir mit der Plattform noch nicht ganz dort angekommen. Nicht nur wegen der Beteiligung, sondern auch wegen der manchmal noch ausbaufähigen Nutzerfreundlichkeit bei der Handhabung der Website, von der Darstellung bis zur Sprache / Übersetzung.

Julian
Na, an die Kaffeehäuser des 18. Jahrhunderts kommen wir schon heran, auch in diesem Chat. Während wir hier schreiben, trinke ich jedenfalls gerade einen La Pastora aus Costa Rica … ☕️

Aber Spaß beiseite, die Salons der Aufklärung waren in Wirklichkeit Elitenforen. Das jetzige Ziel ist doch, darüber hinauszugehen und die Bevölkerung insgesamt einzubeziehen. Das ist historisch selten und in der hier angestrebten Breite noch nie dagewesen. Gewissermaßen geht es darum, die Massenintegrationsfunktion der Parteien und Gewerkschaften durch neue Beteiligungsformen zu ersetzen.

Sophie
Sehr guter Punkt, dass die „intermediären Strukturen“ fehlen, um solche Debatten breitflächig zu gestalten. Deliberative Demokratie braucht Plattformen, die viele erreichen. Auf EU-Ebene fehlen uns die.

Carmen
Neben den Plattformen und neutralen Multiplikatoren in den Mitgliedstaaten wären sicher auch populäre Identifikationsfiguren aus Musik, Sport, Sozialen Medien etc. ein Weg gewesen, um auf die Konferenz aufmerksam zu machen. Aber auch das gibt es kaum.

Nächster Schritt: Bürgerforen

Manuel
Der nächste Schritt der Konferenz wird im Herbst dann der Start der Bürgerforen sein. Geplant sind vier Foren zu jeweils einem Themenblock („Werte, Rechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Sicherheit“ – „Klimawandel, Umwelt / Gesundheit“ – „Stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit, Beschäftigung / Bildung, Jugend, Kultur, Sport / digitaler Wandel“ – „Rolle der EU in der Welt / Migration“). Sie sollen zwischen September 2021 und Januar 2022 jeweils in drei zweitägigen Sitzungen tagen und dann konkrete Empfehlungen formulieren. Wie sind eure Erwartungen an die Foren?

Sophie
Die Bürgerforen sind ein besonders spannender Teil und aus meiner Sicht das zentrale Element der Zukunftskonferenz. Ich bin gespannt zu sehen, welche Methodologie genutzt wird: Welche Expert:innen werden eingeladen, wie viel Zeit wird den Teilnehmenden gegeben, wie werden die Prozesse strukturiert? Bei solchen Bürgerbeteiligungsformaten ist das Motto „The devil is in the detail“ besonders relevant.

Carmen
Absolut! Ich habe die größte Hoffnung in die Bürgerforen, gerade weil es sich um eine möglichst repräsentative, zufällige Auswahl von Unionsbürger:innen handelt. In den Mitgliedstaaten gab es in der Vergangenheit ja bereits ähnliche Projekte, die als Inspiration dienten: die irische Citizens’ Assembly, die Convention pour le Climat in Frankreich.

Oder auch Belgien, wo die Deutschsprachige Gemeinschaft 2019 eine permanente Vertretung per Zufall ausgewählter Bürger:innen eingerichtet hat, die neben dem bestehenden Parlament existiert. Dieses demokratische Experiment ist weltweit einzigartig, und so weit sind wir auf EU-Ebene noch nicht. Aber die Initiatoren dieses belgischen Bürgerdialogs haben auch die Zukunftskonferenz inspiriert und beraten.

Sophie
Ja, ich finde, die EU sollte den großen Erfahrungsschatz aus den Mitgliedsländern nutzen – allerdings gibt es auf nationaler Ebene den Vorteil, dass es auch eine politische Öffentlichkeit gibt, die diese Foren in die öffentliche Debatte bringen kann. Das ist auf EU-Ebene schwieriger, aber nicht unmöglich. Die EU könnte die Zukunftskonferenz auch nutzen, um genau diese fehlende europäische Öffentlichkeit zu stärken.

Carmen
Stimmt. Ich sehe vor allem die Chance, die zahlreichen segmentierten Teilöffentlichkeiten, die aktuellen Nachrichtenzyklen folgen (Europawahlen, Eurokrise etc.), stärker miteinander zu verbinden – über Staats- und Themengrenzen hinaus.

Wird man die Ergebnisse ernst nehmen?

Sophie
Allerdings gilt auch, dass Bürgerbeteiligungsformate nur erfolgreich sind, wenn die Bürger:innen ernst genommen werden und das Format politisches Gewicht bekommt. Ich hoffe also sehr, dass die EU-Institutionen die Ergebnisse der Bürgerforen anschließend auch aufgreifen – sonst kann es schnell zu „Scheinpartizipation“ werden und die Bürger:innen frustrieren, dass sie ihre Zeit und Mühe da reingesteckt haben, ohne dass die Vorschläge zu einem Ergebnis führen.

Julian
Um zu erreichen, dass die Ergebnisse ernst genommen werden, ist auch entscheidend, in welchem Format sie präsentiert werden. Was sollen die Foren erarbeiten? Eigene Abschlussberichte? Ein Liste mit Empfehlungen? (Oder gar einen neuen Vertragsentwurf? 😉) Ich denke, ein kohärenter Abschlussbericht erzielt die meiste Wirkung, oder was meint ihr?

Spannend wird aber auch, ob sich die Debatten in den Foren von denen auf der digitalen Plattform und den Debatten bei Veranstaltungen, an denen alle Interessierten teilnehmen können, unterscheiden. Dann sind wir an einer Grundsatzfrage partizipativer Demokratie. Welcher Debattenbeitrag hat welche Legitimation, wie ist er bei der Berücksichtigung zu gewichten?

Manuel
Nach der Geschäftsordnung der Konferenz sollen die Foren jedenfalls „konkrete Empfehlungen“ erarbeiten, was auch immer das bedeutet. Diese Empfehlungen mit den Ideen auf der Plattform und den Ergebnissen der dezentralen Veranstaltungen abzuwägen, wird dann die Aufgabe der Plenarversammlung sein, die im Frühling dem Exekutivausschuss der Zukunftskonferenz Vorschläge vorlegen soll. Und der Exekutivausschuss soll dann wiederum aus diesen Vorschlägen einen Abschlussbericht für die EU-Institutionen formulieren. Der Weg vom Bürgerforum zur politischen Umsetzung ist also ziemlich lang.

Julian
Konkrete Empfehlungen, ja, aber wie sollen die aussehen? Ich würde alle drei oben genannten Möglichkeiten mit der Vorgabe der Geschäftsordnung für vereinbar halten.

Vom Zuhören zum Handeln übergehen

Sophie
Ich denke, an den nationalen Vorbildern sieht man auch, was alles schief laufen kann, wenn „die Politik“ die Bürgerbeteiligungsformate nicht ernst nimmt: In Frankreich wurde Emmanuel Macron stark kritisiert, weil er die Empfehlungen der Convention pour le Climat kaum übernommen hat. Die EU sollte es tunlichst vermeiden, auch noch dafür kritisiert zu werden.

Carmen
Das ist natürlich ein Risiko. Es gab auf EU-Ebene schon die Bürgerdialoge, die in großem Stil von der Kommission initiiert wurden und mithilfe der Kommissar:innen in vielen europäischen Städten stattfanden. Auch damals gab es Nachfragen zum Follow-up der Dialoge, das weitgehend ausblieb bzw. kaum für Bürger:innen nachvollziehbar war. Inzwischen sollten wir das Stadium des listening eigentlich schon längst verlassen haben; die EU – und insbesondere der Rat – muss zum acting übergehen. Ewig lässt sich jedenfalls nicht mehr an das Vertrauen der Bürger:innen appellieren, sonst fürchte ich eine gewisse Partizipationsmüdigkeit.

Ein interessantes Ergebnis gab es da immerhin bei der Eröffnungsveranstaltung der Konferenz am 9. Mai: Parlamentspräsident David Sassoli unterstrich ausdrücklich, dass es keine Tabus geben solle, Vertragsänderungen inbegriffen. Das hatte die gemeinsame Erklärung der drei Institutionen zu dem Zeitpunkt nicht explizit erwähnt.

Julian
Ja, das ist der klassische Knackpunkt, den wir immer bei der Bürgerbeteiligung haben: die Responsivität! Ich sehe drei große Probleme:

  1. Responsivität heißt nicht immer eine 1:1-Umsetzung aller Vorschläge. Das wird zwar von den Bürger:innen, die sich beteiligen, oft erwartet. Responsivität bedeutet aber im Zweifelsfall nur den Anspruch auf eine ausführliche Begründung, warum ein Vorschlag nicht umgesetzt wird. Aber selbst darin ist die EU erfahrungsgemäß extrem schlecht.
  2. Wenn die EU Vorschläge umsetzt, dann geschieht das meist Jahre später und wird nicht mehr als Ergebnis der Bürgerbeteiligung wahrgenommen. Hier verschenkt die EU oft Pluspunkte, die sie machen könnte.
  3. Der Rat hat deutlich gezeigt, dass er an großen Reformen kein Interesse hat. Es wird deshalb am Europäischen Parlament hängen, nach der Zukunftskonferenz Druck zu machen, damit die Ergebnisse wirklich umgesetzt werden.

Ein typisches Produkt der EU-Politik

Manuel
Damit schließt sich der Kreis zu unserem europapolitischen Quartett im März, in dem wir über die Erfolgschancen der Zukunftskonferenz gesprochen haben. Letzte Frage für heute: Seid ihr seitdem eher optimistischer oder eher pessimistischer geworden?

Sophie
Meine Erwartungen hatte ich grundsätzlich nicht allzu hoch angesetzt, deshalb bleibe ich auf dem gleichen, relativ pessimistischen Niveau von März. Aber ich bin gespannt auf die Bürgerforen im Herbst und wie diese durchgeführt werden, und auf die Zusammenführung der Ergebnisse bis Mai 2022.

Wichtig scheint mir zu sein, dass wir die Zukunftskonferenz gut beobachten und daraus Schlüsse ziehen für die Zukunft: Es wird sicherlich nicht die letzte Gelegenheit gewesen sein für deliberative Demokratie auf EU-Ebene.

Carmen
Ich bin heute optimistischer! Denn das Experiment ist endlich gestartet, und auch wenn es an einigen Punkten durchaus noch hakt und mir der Zeitplan mit Blick auf die hohen Erwartungen und auf die aktuelle slowenische sowie die folgende französische Ratspräsidentschaft ein wenig Bauchschmerzen bereitet, blicke ich hoffnungsvoll auf den Herbst.

Positiv stimmen mich der Start der Bürgerforen, der Wahlkampf in Deutschland (bei dem die EU oft Gegenstand von Debatten sein wird), die voranschreitende Impfkampagne und damit die Chance auf Präsenzveranstaltungen und – nicht zuletzt durch die zahlreichen internationalen Krisen in den letzten Wochen – die fortschreitende Politisierung unserer Gesellschaften. Außerdem setze ich große Hoffnung in das Europäische Parlament und die Europaabgeordneten, die Debatte weiter zu popularisieren und insbesondere gegenüber dem Rat Druck aufzubauen.

Julian
Ich habe den Eindruck, die Zukunftskonferenz ist ein typisches Projekt der EU-Politik: weder ein krasses Scheitern noch der große Durchbruch. Sie bringt:

  • viele Ideen und Ansätze, die man aber noch besser hätte umsetzen müssen,
  • großes Engagement, die Bürger:innen einzubinden, das aber nicht so wirklich fruchtet,
  • und viele gute Vorschläge, von denen aber wohl nur wenige auch zeitnah umgesetzt werden.


Carmen Descamps ist Non-Resident Research Fellow des European Liberal Forum in Madrid.



Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Manuel Müller ist Senior Researcher am Institut für Europäische Politik und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Bilder: Balkon mit Flagge: Manuel Müller [alle Rechte vorbehalten]; Porträt Carmen Descamps: © Life Studio [alle Rechte vorbehalten]; Porträts Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller: privat [alle Rechte vorbehalten].

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