- Carmen Descamps, European Liberal Forum, Madrid
- Julian Plottka, Institut für Europäische Politik, Berlin
- Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
- Manuel Müller, Der (europäische) Föderalist, Helsinki
- Von den ursprünglichen Ambitionen der Zukunftskonferenz wurde einiges verwässert. Wie machen wir jetzt das Beste daraus?
Manuel
„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz zur Zukunft Europas bringen, so hat es jedenfalls Ursula von der Leyen 2019 versprochen. Seitdem gab es zähe Verhandlungen zwischen Kommission, Rat und Parlament über Struktur und Mandat dieser Konferenz. Der geplante Starttermin am 9. Mai 2020 wurde verschoben, zwischenzeitlich gab es Zweifel, ob die Konferenz überhaupt stattfinden wird. Jetzt haben die drei Institutionen endlich eine Einigung erreicht. An diesem Mittwoch wollen sie eine Gemeinsame Erklärung unterzeichnen, deren Inhalt schon vor einigen Tagen geleakt wurde. Läuft alles nach Plan, soll es jetzt am 9. Mai 2021 losgehen.
Allerdings hält sich die Begeisterung über die Gemeinsame Erklärung bei den meisten Beobachter:innen in Grenzen – die ursprünglichen Ambitionen wurden ziemlich verwässert. In unserem Gespräch soll es heute darum gehen, ob und wie die Zukunftskonferenz überhaupt noch ein Erfolg werden kann.
Zum Einstieg habe ich drei Fragen, auf die ihr auf einer Skala zwischen 0 und 10 antworten könnt. Die erste: Für wie wahrscheinlich haltet ihr es, dass am Ende der Zukunftskonferenz eine Reform der EU-Verträge folgt?
Julian
0. Zu viele Mitgliedstaaten wollen keine Vertragsreform, und obwohl sich die Bundeskanzlerin 2020 dafür offen gezeigt hat, hat auch die Bundesregierung wenig Interesse daran.
Carmen
1 – durchaus wünschenswert, aber nicht wahrscheinlich.
Sophie
1. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich angesichts der jetzigen politischen Machtverhältnisse im Rat. Aber politische Dynamiken können sich auch verändern, wie wir in der Krise gesehen haben.
Manuel
Die Einschätzung, dass es wohl keine Vertragsreform geben wird, ist nicht nur in dieser Runde ziemlich weit verbreitet. Dabei war das doch eine der Schlüsselideen, die zu der Konferenz geführt haben: Bürger:innen und Medien an Bord holen, um durch erhöhten öffentlichen Erwartungsdruck die Blockade nationaler Regierungen bei zahlreichen Reformvorschlägen zu überwinden. Bislang haben die Regierungen diesem Versuch offenbar gut standgehalten …
Sophie
Ich glaube gar nicht unbedingt, dass die Hauptidee hinter der Konferenz war, Blockaden der nationalen Regierungen zu überwinden. Als wichtigsten Grund sehe ich eher die Legitimität der EU: Viele Bürger:innen sehen die EU kritisch, und die Verbindungen zwischen EU-Institutionen und Bürger:innen sind nicht die besten. Deshalb versucht man, mit deliberativen Ansätzen zwischen Wahlen den Bürger:innen mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten zu geben.
Ein Vorbild für künftige Bürgerbeteiligung?
Manuel
Das führt uns gleich zur zweiten Frage: Für wie wahrscheinlich haltet ihr es, dass das Format der Zukunftskonferenz ein Vorbild für künftige Bürgerbeteiligung auf EU-Ebene wird?
Carmen
5 – motiviert von vorsichtiger Hoffnung und einem Grundoptimismus. Den anfänglichen Vertrauensvorschuss und die Hoffnung auf einen großangelegten, pan-europäischen Partizipations-„Big Bang“ haben die beteiligten Institutionen aber durch das jetzige Hadern nach dem (größtenteils) pandemiebedingtem Aufschub wesentlich eingebüßt.
Sophie
6,5. Die Konferenz wird stattfinden, auch wenn die Voraussetzungen nicht die besten sind. Das heißt, dass sie sicherlich eine Vorbildfunktion haben wird. Wichtig ist, dass man nach dem Ende der Konferenz die Lehren daraus zieht und den Prozess weiterdenkt.
Julian
10. Seit 2001 fördert die Europäische Kommission die partizipative Governance, die EU ist hier inzwischen Spitzenreiter im globalen Vergleich. Weil das der Kommission eine zusätzliche Legitimationsbasis gibt, bin ich sicher, dass das Interesse groß ist, diese Vorreiterstellung beizubehalten. Nun auch deliberative Demokratie zu fördern, ist eine große Chance, diese Position zu verteidigen.
Sophie
Aber findest du, dass der jetzige Vorschlag für die Konferenzstruktur tatsächlich deliberative Demokratie unterstützt? Außer den European Citizens’ Panels klingt das, was in der Gemeinsamen Erklärung erwähnt wird, für mich eher nach einer breit angelegten Kommunikationsmaßnahme.
Carmen
Da stimme ich Sophie zu – und bin von deinem Optimismus überrascht, Julian. 🙂
Deliberative Prozesse oder PR-Veranstaltungen?
Julian
Ich glaube, die Gemeinsame Erklärung ist so unbestimmt, dass sie beides zulässt. Einerseits wird es viele PR-Events geben, die Kommission will da ja die nationalen Europe-Direct-Zentren als Netzwerk einbinden. Andererseits hat das Europäische Parlament in seinem Working Document schon so konkrete Ideen entwickelt, dass ich vermute, dass diese Ideen genutzt werden, um die Citizens’ Panels auszugestalten. Nachdem sich der Rat (zusammen mit der Kommission) in so vielen Punkten durchgesetzt und die Konferenz verwässert hat, glaube (bzw. hoffe) ich, dass sie dem EP jetzt nicht auch noch die Citizens’ Panels streichen werden.
Das Problem wird eher sein, dass wir de facto zwei Klassen von Veranstaltungen haben werden. Der Kreis derer, die an einem wirklich deliberativen Forum teilnehmen, wird sehr begrenzt sein. Und es ist zu befürchten, dass diejenigen, die nur an einer PR-Veranstaltung teilnehmen, am Ende verwirrt oder enttäuscht sind.
Carmen
Wir stehen hier auch vor einer Frage des Erwartungsmanagements: Deliberative Prozesse können Inspirationen und Ideen geben, wie Bürger:innen von Helsinki bis Madrid sich den Kurs der EU in den nächsten 10, 15 Jahren wünschen. Das dann letztendlich umzusetzen, auch im Handeln der nationalen Regierungen, dürfte aufgrund der vielen beteiligten Akteure im Mehrebenensystem der EU schwierig(er) sein. Deliberation ja, wesentliche Einflussnahme nein.
Sophie
In der Gemeinsamen Erklärung werden zunächst die „PR-Veranstaltungen“ genannt, anschließend die European Citizens’ Panels, und zuletzt die nationalen Bürgerbeteiligungsformate, die die Mitgliedstaaten organisieren können. Der Fokus ist eher auf PR als auf Deliberation.
Außerdem: Aus den Erfahrungen mit deliberativen Formaten auf lokaler und nationaler Ebene weiß man, dass die Methodologie eine besonders wichtige Rolle spielt: Lost man die Teilnehmer aus? Wie lange dauern diese Formate? Welches Thema wird genau besprochen, und vor allem, wie werden die Ergebnisse nachfolgend in den institutionellen Prozess eingespeist? Man sieht ja beispielsweise in Frankreich, dass es zu großer Frustration kommen kann, wenn die Ergebnisse ungenügend von der Regierung aufgenommen werden.
Ich bin mir nicht sicher, ob die EU hier den Schritt hin zu „echter“ Deliberation wagt – denn das würde bedeuten, dass man die Ergebnisse der Panels offen lässt und das Risiko in Kauf nimmt, dass die Ergebnisse der Konferenz nicht in die Richtung gehen, die sich die Akteure, die die Konferenz aufgesetzt haben, wünschen. Nur so hätten die Panels politische Relevanz. In der Gemeinsamen Erklärung ist das für mich aber nicht zu erkennen. Angesichts der fehlenden Ambition der Gemeinsamen Erklärung denke ich also nicht, dass es den Akteuren wirklich darum geht, den Bürger:innen durch deliberative Formate mehr Macht zu geben.
Legitimität durch Deliberation im „Intergouvernementalismus 3.0“?
Julian
Wenn ich die Diskussionen im Europäischen Parlament richtig erfasst habe, würde ich darauf mit einem klaren „Jein“ antworten: Die Frage scheint mir umstritten. Zu Beginn der Deliberation wünscht sich das Parlament wohl eine Phase des Zuhörens, in der die Bürger wirklich offen alle Themen ansprechen können. Diese Themen sollen dann gesammelt werden, und anschließend soll das Plenum Fragen an die Citizens’ Panels stellen, die dort weiter diskutiert werden. In dieser zweiten Phase hätten wir also genau die Nachsteuerung von oben, die du kritisierst.
Insgesamt würde ich aber sagen, das Glas ist zumindest halb voll und nicht halb leer. Verglichen mit allen früheren Bemühungen ist das, was sich das Europäische Parlament vorstellt, ein großer Fortschritt. Aber ganz klar, wirkliche Deliberation wäre in beiden Phasen notwendig, ohne die Intervention des Plenums.
Sophie
Stimmt – das Parlament ist der Akteur, der sich am meisten sich für Deliberation eingesetzt hat. Aber es sind auch noch andere im Spiel, die weniger davon überzeugt sind.
Julian
Bezogen auf den Rat ist das eine wirklich spannende Frage: Denn wenn sich Macron mit seinen Vorstellungen im Rat durchsetzen würde, böte sich hier eine ganz neue Legitimationsbasis für den Intergouvernementalismus, der sich außer auf die nationalen Wahlen dann auch auf die Deliberation stützen könnte. Letztes Jahr habe ich das in einem Beitrag „Intergouvernementalismus 3.0“ genannt. Am Ende könnte das dem Rat sogar im Legitimationswettstreit mit den anderen Institutionen helfen. Aber ich stimme dir zu, außer Macron scheinen wenige Staats- und Regierungschef:innen davon überzeugt zu sein.
Carmen
Eine interessante Perspektive! Dann muss ich meine eingangs vergebenen 5 Punkte für ein aussichtsreiches Vorbild für künftige Bürgerbeteiligung auf EU-Ebene wieder revidieren. Ich vergebe noch optimistischere 8!
Mediales Großereignis?
Manuel
Kommen wir zur dritten Frage: Jenseits der deliberativen Bürgerforen soll die Zukunftskonferenz ja auch eine breite Öffentlichkeit mit einbeziehen. Wie wahrscheinlich ist es, dass sie ein mediales Großereignis wird, das die Debatte über die EU verändert?
Julian
4 – allerdings nicht im Sinne der Wahrscheinlichkeit eines Großereignisses, sondern der Reichweite der Debatte (von 0 = Brüsseler Blase bis 10 = Stammtisch in der Bukowina). Ich glaube schon, dass die Konferenz mehr Bürger:innen als nur die Nerds von den Jungen Europäischen Föderalisten erreichen wird. Pulse of Europe hat gezeigt, dass die pro-europäische Basis inzwischen größer ist als nur die Brüsseler Blase, auch wenn es noch nicht die Breite der Gesellschaft ist.
Carmen
6. Dass die Konferenz eine ganz breite Öffentlichkeit im Habermas’schen Sinne erreicht oder die Debatte über die EU stark verändert, bezweifle ich. Aber ein mediales Großereignis kann es durchaus werden – mindestens aus Brüsseler Sicht und mit Hilfe der EU-Institutionen in den Mitgliedstaaten. Wünschenswert wären Debatten jenseits der bekannten europäischen Echokammern, mit Instrumenten, die mehr Zielgruppen erreichen als die EU-Bürgerdialoge (deren konkretes Follow-up für viele Bürger:innen unzureichend bzw. kaum nachvollziehbar ist), Umfragen oder Informationskampagnen.
Ich erhoffe mir in dieser Hinsicht ein Vorankommen durch die digitale Plattform, die in der Gemeinsamen Erklärung erwähnt wird – vielleicht sogar als App, mit multilingualem Austausch dank Künstlicher Intelligenz? So könnte die Konferenz auch für diejenigen erfahrbar sein, die sich zum Beispiel auf Gälisch einbringen wollen oder die noch nie Erasmus+ oder FreeInterrail genutzt haben, egal ob Jung oder Alt.
Sophie
4. Es kommt darauf an, in welches Mitgliedsland man schaut, weil die europäische Öffentlichkeit fragmentiert ist. In Frankreich zum Beispiel kann ich mir vorstellen, dass Emmanuel Macron den Abschluss der Konferenz für seine Präsidentschaftskampagne 2022 nutzen wird. Dadurch wird es sicherlich auch eine stärkere Medienaufmerksamkeit dafür geben.
Konferenzende 2022: Wahlkampfvorlage für Emmanuel Macron?
Carmen
Ich denke auch, dass Macron sich die Konferenz zu Nutze machen kann, sollte der Zeithorizont von einem Jahr beibehalten werden. Das Land hat gerade in jüngster Vergangenheit Erfahrungen mit deliberativen und partizipativen Inputs: Ähnliches gab es bereits 2019 mit den Consultations Citoyennes, deren Ideen damals in das Europawahlprogramm von Macrons Bewegung LREM einflossen. Oder der Grand Débat National als Reaktion auf die Gelbwestenkrise 2018 sowie die aktuelle Convention Citoyenne pour le Climat. Nach Macrons Vorstellung sollte der Grand Débat wohl auch ein Vorbild für die europäische Zukunftskonferenz sein, als er die Idee im März 2019 in seinem „Brief an Europas Bürger:innen“ zum ersten Mal vorschlug. Jedoch hätte Macron damals wohl kaum damit gerechnet, dass es durch die Pandemie zu einer solchen Verspätung kommt.
Julian
Aber wird Macron wirklich mit der Europapolitik als Thema in den Wahlkampf gehen? Wird er nicht zurückhaltender sein angesichts seiner aktuellen Umfragen?
Sophie
Gute Frage, aber ich erkläre mir sonst nicht die Frist für die Konferenz bis zum Frühling 2022? Die Konferenz sollte ursprünglich ja am 9. Mai 2020 beginnen und zwei Jahre dauern. Jetzt hat sie sich um ein Jahr verzögert. Aber statt das Enddatum anzupassen, hat man die Dauer verkürzt, sodass der Abschluss der Konferenz weiterhin in die französische Ratspräsidentschaft 2022 fällt.
Julian
Das fände ich mutig von Macron – aber begrüßenswert! Allerdings habe ich auch schon die ersten Gerüchte gehört, dass man im Frühjahr 2022 auch nur einen Zwischenbericht vorlegen könnte.
Öffentlichkeit und politische Relevanz
Manuel
Ich finde eure Einschätzungen zur Öffentlichkeitswirksamkeit der Konferenz noch ziemlich optimistisch. Macron mag den Abschluss der Konferenz für ein Wahlkampffeuerwerk nutzen, gut. Aber außerhalb Frankreichs? Damit die Konferenz für die Medien interessant wird, müsste sie doch als relevant gelten – seht ihr eine Chance, dass das passiert?
Sophie
Die Chance wäre sicher größer gewesen, wenn es eine starke Führungspersönlichkeit gegeben hätte. Aber auch wenn nationale Entscheidungsträger:innen die Konferenz auf die Agenda setzen, gibt es eine gute Aussicht auf Medienaufmerksamkeit.
Die Frage ist aber natürlich auch, wie die Relevanz der Konferenz zu messen ist. Ich finde es schade, dass die Ergebnisse am Ende nur in einen Bericht einfließen sollen, ohne dass gesagt wird, wie die Empfehlungen von den EU-Institutionen aufgenommen werde. Eine gute Verknüpfung der Konferenz mit den EU-Entscheidungsprozessen ist besonders wichtig, damit die Bürger:innen nicht das Gefühl bekommen, dass es alles umsonst war.
Julian
Bei den jetzt noch bestehenden Lücken in der Gemeinsamen Erklärung (die wohl nicht mehr alle vor dem 9. Mai gefüllt werden können), hängt das eine vom anderen ab. Die Konferenz braucht mediale Öffentlichkeit, um politischen Druck aufzubauen und eine Umsetzung ihrer Ergebnisse zu erzwingen. Andererseits ist die fehlende Festlegung der politischen Akteure ein Faktor, der das öffentliche Interesse begrenzt. Der einzige Hebel, den ich sehe, ist, das Konferenzplenum aufzuwerten, um das Commitment der Beteiligten zu erhöhen.
Carmen
👍 Ich kann euch beiden nur zustimmen – eine zentrale Persönlichkeit, zugleich Ansprech- und Identifikationsperson, hätte es sicher leichter gemacht. Dennoch beobachte ich durchaus ein mediales und auch politisches Interesse, beispielsweise in Spanien. Dies gilt es nun zu halten, und den Worten müssen Taten folgen.
Manuel
Das schließt nun wieder den Kreis zur ersten Frage: Die Regierungen haben die Verhandlungen über die Gemeinsame Erklärung monatelang verschleppt, haben versucht, Vertragsreformen von vornherein auszuschließen, und haben das thematische Mandat der Konferenz eng mit der Strategischen Agenda verknüpft, also einer schon existierenden Liste politischer Prioritäten. Das alles lässt so wenig Bereitschaft zu Veränderungen erkennen, dass sich die Medien und die Bürger:innen ständig werden fragen müssen, ob mit den Konferenzergebnissen überhaupt irgendetwas passieren wird. Stellt sich also die Frage: Kann die Konferenz als deliberativer Prozess und Öffentlichkeitsereignis Erfolg haben, wenn sie es nicht auch als Reformtreiber hat?
Wie geht es weiter: Reformspielräume nach 2022?
Julian
Ein anderer Faktor hinsichtlich Commitment und Follow-up ist auch wieder die Frage des Zeithorizonts. Sollte die Dauer der Konferenz verlängert und das Ergebnis erst dann verabschiedet werden, wenn klar ist, dass der Corona-Wiederaufbauplan wirkt (wenn er wirkt?), dann sind die Karten hinsichtlich der Durchsetzbarkeit von Reformen wieder neu gemischt. Dann haben nämlich auf einmal so verschiedene Länder wie Deutschland, Spanien und Ungarn ein gemeinsames Reforminteresse, die Instrumente des Wiederaufbauplans auf eine dauerhafte Grundlage zu stellen.
Das würde ganz neue Spielräume öffnen und auch die Frage nach Vertragsreformen nochmals neu stellen. Umgekehrt gilt: Sollte die Konferenz wirklich schon 2022 enden, stünde nach ihrem Abschluss gleich die nächste Reformdebatte am Horizont.
Sophie
Der Zeithorizont ist ein wichtiger Faktor, und insbesondere in Krisenzeiten gibt es manchmal unerwartete Entwicklungen. Trotzdem sehe ich auch nach 2022 kein window of opportunity für Vertragsreformen.
Die Überwindung der Nord-Süd-Spaltung beim Corona-Wiederaufbaufonds und die Rechtsstaatlichkeitskonditionalität für den neuen mehrjährigen Finanzrahmen waren zwar echte Erfolge, die zeigen, dass die Mitgliedstaaten sich auch bei großer Heterogenität einigen können. Aber Vertragsreformen sind noch eine andere Stufe. Ich sehe auch nicht, dass pro-europäische Regierungen sich dafür einsetzen würden. Dass der Rat die Option einer Vertragsreform im Rahmen der Konferenz gestrichen hat, zeigt, dass es wenig Grund zum Optimismus gibt.
Werden die Regierungen sich noch bewegen?
Manuel
Seht ihr denn irgendeine Hoffnung, dass die Regierungen im Laufe der Zukunftskonferenz noch reformbereiter werden? In den letzten Jahren haben sie sich ja immer nur unter großem Krisendruck bewegt.
Julian
Wenn der Zeithorizont bis 2022 fix ist, bleibe ich bei meiner „0“. Es gibt keine Aussicht auf Vertragsreformen. Danach könnte es, wie geschrieben, die Chance geben. Was Reformen betrifft, für die keine Vertragsänderung notwendig ist, sind die Aussichten etwas besser. Hier ist auch die Zusammensetzung des Konferenzplenums und die Arbeitsstruktur der Konferenz entscheidend: Schafft sie Commitment der Akteure oder nicht?
Carmen
Zustimmung – für Vertragsreformen ist der Zeithorizont viel zu kurz und die politischen Prioritäten sind mit der Pandemie derzeit ganz andere. Insbesondere in Südeuropa, das in der Vergangenheit bereits stark von der Wirtschafts- und Finanzkrise getroffen wurde und nun mit der Pandemie erneut auf die Probe gestellt war – auch aufgrund von damals auferlegten Sparmaßnahmen im Gesundheitssystem.
Hydra-Präsidentschaft: Ist so eine effiziente Arbeit möglich?
Manuel
Reden wir in dem Zusammenhang noch einmal über die geplante Struktur der Konferenz. Auch dazu gab es zuletzt ja einiges an Kritik – insbesondere an der dreiköpfigen Präsidentschaft und dem großen Executive Board, in dem Kommission, Parlament und Rat mit jeweils drei Mitgliedern und vier Beobachter:innen vertreten sein sollen. Kann mit solch barocken Strukturen trotzdem eine effiziente Konferenz-Arbeit stattfinden, umso mehr in dem kurzen Zeithorizont?
Julian
Meine größte Befürchtung ist, dass die Fragen, die in der Gemeinsamen Erklärung ungeklärt geblieben sind, auch im Executive Board nicht bis zum 9. Mai geklärt werden können.
Sophie
Es wird schwierig mit einer solchen Struktur. Es gab einen typischen Brüsseler Kompromiss: drei Präsidenten statt einer Führung. Dazu noch viele weitere Gremien: Neben der Joint Presidency ein Executive Board, ein Common Secretariat und eine Conference Plenary. Das macht die Entscheidungsprozesse natürlich nicht besonders einfach. Vielleicht funktioniert es aber im Endeffekt doch, je nachdem wie das Konferenzplenum zusammengesetzt ist und wie stark die Konferenz politisch unterstützt wird.
Wettstreit der Gremien?
Carmen
Die Governance-Frage ist für Bürger:innen letztlich wenig entscheidend, aber für das (Außen-)Image der Konferenz und damit für die Politikprozesse innerhalb der EU umso mehr. Wie anfangs angedacht und vom Parlament gefordert, hätte eine „eminente Führungspersönlichkeit“ sowohl die Konferenz-Arbeit als auch die Identifikation mit der Konferenz vereinfacht.
Aus Brüsseler Sicht fürchte ich, dass die hydraköpfige Führungsstruktur die Arbeit und die Ergebnisse der Konferenz – um die es ja eigentlich im Kern geht – verwässert. Stattdessen wird wohl jedes Gremium und dessen Mitglieder seinen Input angemessen berücksichtigt sehen wollen, was dann zu neuen Kompromissen führen kann, die aufmerksame europäische Beobachter:innen wahrscheinlich kritisch beäugen werden.
Manuel
Und was wird eigentlich das entscheidende Gremium sein – das Plenum, das sich womöglich nur halbjährlich (also insgesamt zwei Mal?) treffen soll, oder das Executive Board, das den Entwurf des Abschlussdokuments schreiben wird?
Julian
Das Plenum kann nur dann eine entscheidende Rolle spielen, wenn es Arbeitsgruppen einrichtet. Wenn das Plenum so groß wird, wie zu befürchten ist, ist dort kein effizientes Arbeiten möglich. Dann wird das Executive Board der entscheidende Akteur.
Wie lässt sich das Beste aus der Konferenz machen?
Manuel
Letzte Frage: Wie lässt sich jetzt das Beste aus der Konferenz machen? In den letzten Tagen gab es da vor allem zwei unterschiedliche Positionen: Soll man jetzt all-in gehen und der Konferenz eine möglichst hohe politische Bedeutung zuschreiben, weil es auf absehbare Zeit keine bessere Chance für Fortschritte geben wird (so sinngemäß z. B. der grüne Europaabgeordnete Daniel Freund)? Oder ist es wichtiger, Erwartungsmanagement betreiben, damit bei den Bürger:innen nicht am Ende der Konferenz die Enttäuschung überwiegt (so z. B. der Berliner Thinktanker Lucas Guttenberg)?
Julian
Erwartungsmanagement. Die Konferenz sollte:
- den Fokus auf wenige institutionelle Reformen (Spitzenkandidaten und Wahlrecht) setzen,
- die deliberative Demokratie gut ausgestalten,
- die Strategische Agenda kritisch reflektieren,
- sich damit auf die nächste Reformdebatte ab 2024 vorbereiten.
Die Konferenz wird nicht alle Reformbedarfe behandeln können, gleichzeitig wächst aber der Reformdruck kontinuierlich. Die Zukunftskonferenz wird deshalb nur ein weiterer Trittstein in der fortlaufenden Reformdebatte (Tegel, Bratislava, Rom, Weißbuch, …) sein. Der nächste Anlauf kommt spätestens nach der Europawahl 2024.
Carmen
Ich sehe in beidem einen Sinn. Gerade bis zum Beginn der Konferenz und in den Anfangsmonaten sollte man all-in gehen. Vielleicht – hoffentlich – fühlen sich damit mehr Regierungen zu konkreten Commitments verpflichtet, die nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner für die EU-27 vertretbar wären. Eine Wahlreform ist dabei sicher am konsensuellsten, Fragen der Finanzen oder Außenpolitik dürften schwieriger sein.
Sophie
Ich finde, sowohl als auch. Man sollte definitiv den Druck auf die Entscheidungsträger:innen erhöhen, so wie das zum Beispiel auch die Initiative Citizens take over Europe versucht. Gerade jetzt wäre es wichtig, über öffentlichen Druck eine inhaltliche Schärfung herbeizuführen.
Gleichzeitig sollte man aber gegenüber den Bürger:innen auch Erwartungsmanagement betreiben, damit es nicht so klingt, als wäre die Konferenz die Möglichkeit, um sich in der EU Gehör zu verschaffen. Das Risiko ist sonst zu groß, dass sie die entgegengesetzte Wirkung hat, als ursprünglich geplant war.
Carmen Descamps ist Non-Resident Research Fellow des European Liberal Forum sowie Projektmanagerin für die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Madrid.
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Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.
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Manuel Müller betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“. Er ist Senior Researcher am Institut für Europäische Politik und befindet sich derzeit als Re:constitution Fellow auf einem Gastaufenthalt an der Universität Helsinki. |
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