25 Juli 2020

Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas

„Neuen Schwung für die Demokratie“ soll die Konferenz über die Zukunft Europas bringen. Aber was bedeutet das genau? In einer Gastbeitragsserie beschreiben hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft ihre Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an die Konferenz. Heute: John Erik Fossum. (Zum Anfang der Serie.)

EU Balloon
„Eine wichtige Lehre aus der Arbeit des Konvents war, dass politische Führung erforderlich ist, um einen Prozess bei einem breiten und unbestimmten Mandat zu seinem gewünschten Ende zu führen.“
Die Europäische Union bereitet sich derzeit auf eine groß angelegte Debatte über ihren künftigen Kurs und Ausrichtung vor. Eine Schlüsselfrage ist, ob dies vor allem eine sichtbarere und hochskalierte Fortsetzung der verschiedenen Formen bürgerschaftlichen Engagements sein wird, die bereits seit einigen Jahren bestehen, oder ob die Konferenz eine qualitativ neue Dimension hinzufügen und auf etwas Neues hinauslaufen wird.

Die Vorschläge der Institutionen

Wenn wir uns die mandatierten Funktionen ansehen, wie sie in den Vorschlägen der drei Kerninstitutionen der EU – des Europäischen Parlaments, der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates – dargelegt sind, stellen wir fest, dass diese sehr breit und umfassend sind. Tatsächlich gibt es in den Vorschlägen aller drei Institutionen keine wirklichen Grenzen für das, was diskutiert werden könnte. Das Parlament, aber auch die Kommission betonen, dass die Konferenz eine Bottom-up-Struktur haben soll, die die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger aktiviert und ein Bindeglied zwischen ihnen und dem politischen System der EU darstellt, auch im Sinne der Entscheidungsfindung. Insbesondere das Parlament unterstreicht diese partizipatorische Dimension und macht einen sehr ehrgeizigen, umfassenden und detailliert ausgearbeiteten Vorschlag, wie die Bürgerinnen und Bürger durch Bürger- und Jugendforen direkt in den Prozess eingebunden werden sollen.

Umgekehrt ist der Vorschlag des Europäischen Rates viel stärker auf die EU-Institutionen ausgerichtet und enthält nur vage Hinweise darauf, wie die Zivilgesellschaft einbezogen werden soll. Man könnte versucht sein zu sagen, dass sich in den Vorschlägen die unterschiedliche demokratische Sensibilität und gesellschaftliche Offenheit dieser Institutionen widerspiegelt. Schließlich haben sie ihre Wurzeln in verschiedenen Sphären des politischen Lebens: das Europäische Parlament in der repräsentativ-partizipatorischen Welt und der Rat in der Welt der zwischenstaatlichen Diplomatie.

Schwache und starke Öffentlichkeiten verbinden

Demokratisches Regieren besteht aus zwei Kernkomponenten: der demokratischen Deliberation, um Probleme zu identifizieren und Lösungen zu diskutieren, und darauf aufbauend einem Entscheidungsprozess, der Vorschläge auswählt, ihnen Ressourcen zuweist und sie durchführt. Idealtypisch organisieren politische Systeme dies in drei Stufen: erstens eine allgemeine oder „schwache“ Öffentlichkeit, die Fragen diskutiert; zweitens Parlamente und andere repräsentative Gremien als „starke“ Öffentlichkeiten, die diese Debatten interpretieren, fortentwickeln und zur Entscheidung bringen; drittens Regierungen und ihre Verwaltungen, die die Entscheidungen durchführen.

Das Europäische Parlament stellt fest, dass es sich „verpflichtet […], die Ergebnisse der Konferenz unverzüglich und ernsthaft mit Legislativvorschlägen, durch die Vertragsänderungen oder anderweitige Änderungen eingeleitet werden, weiterzuverfolgen“, und „fordert die anderen beiden Organe auf, dieselbe Verpflichtung einzugehen“. Die Kommission stellt fest, dass sie „bereit [ist], die Rückmeldungen und Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger in ihrer Legislativagenda zu berücksichtigen“. Der Rat stellt fest, dass „(d)ie Ergebnisse der Konferenz in einem Bericht an den Europäischen Rat im Jahr 2022 wiedergegeben werden sollten […]. Die Konferenz fällt nicht in den Anwendungsbereich von Artikel 48 EUV“.

Diese verschiedenen angestrebten Ergebnisse legen nahe, dass das Europäische Parlament versucht, eine möglichst enge Verbindung zwischen schwacher und starker Öffentlichkeit zu entwickeln. Auch die Kommission befindet sich auf einem ähnlichen Weg. Der Rat hingegen definiert die Konferenz als eine schwache Öffentlichkeit oder als ein nur beratendes Gremium. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die vom Rat vorgeschlagene Zusammensetzung der Konferenz im Großen und Ganzen aus ähnlichen Kategorien besteht wie die des Europäischen Konvents, der 2003-04 die Verfassung für Europa erarbeitet hat.

Die Konventserfahrung

In der Erklärung von Laeken wurde der Europäische Konvent damals lediglich als Vorbereitungsgremium benannt. Es gelang dem Konvent jedoch, selbst genügend Dynamik zu entwickeln, um einen Verfassungsvorschlag zu schmieden – eine Leistung, die sich bei der ursprünglichen Verkündung der Erklärung von Laeken nur wenige vorgestellt hatten. Auch die spätere Ablehnung der Europäischen Verfassung lässt sich nur schwer dem Europäischen Konvent zuschreiben.

Soweit die Erfahrungen des Konvents überhaupt in die Vorschläge zur Konferenz eingeflossen sind, scheint es, dass die Hauptaufgabe des Europäischen Parlaments darin besteht, sein Engagement mit der Zivilgesellschaft zu erweitern, um genügend Druck für die notwendigen Reformen aufzubauen. Umgekehrt versucht der Rat, die Tür für eine Wiederholung der Konventserfahrung zu verschließen, also zu verhindern, dass die Konferenz die notwendige Dynamik für eine Vertragsänderung erzeugt.

Drei Kernfragen: Probleme, Instrumente, Zeitrahmen

In meinen Augen war eine wichtige Lehre aus der Arbeit des Konvents, dass politische Führung erforderlich ist, um einen Prozess bei einem breiten und unbestimmten Mandat zu seinem gewünschten Ende zu führen. Es wäre hilfreich, mehr darüber zu erfahren, wie das Parlament dies im Zusammenhang mit der Konferenz sicherstellen will.

Im gegenwärtigen Kontext, in dem die Staats- und Regierungschefs anscheinend nicht bereit sind, der Konferenz eine entscheidende Rolle zuzubilligen, kommt der Führung in der EU eine wichtige Sortierfunktion zu. Die Corona-Pandemie hat neue Herausforderungen und neue Dringlichkeiten mit sich gebracht, die natürlich völlig unvorhergesehen waren, als die Idee zur Einrichtung der Konferenz aufkam. Drei Fragen scheinen besonders relevant zu sein: Welches sind die Hauptprobleme, die gelöst werden müssen? Wann müssen die Probleme gelöst werden? Welche Instrumente benötigt die EU zur Lösung dieser Probleme?

Bedarf an politischer Führung

Die Rolle der Konferenz muss im Zusammenhang mit diesen drei Fragen betrachtet werden. Es besteht ein klarer Bedarf an politischer Führung in dem Sinne, dass die Führungskräfte die richtigen Probleme den richtigen Instrumenten innerhalb des richtigen Zeitrahmens zuweisen müssen. Der zeitliche Rahmen der Konferenz beträgt zwei Jahre; ein Vertragsänderungsverfahren wird weitere Jahre in Anspruch nehmen. Je mehr sich die Konferenz deshalb mit der wirklichen Lösung von Problemen befassen soll, desto wichtiger ist es, dass sie sich auf die Fragen und Zeitvorgaben konzentriert, die von einem solchen Gremium vernünftigerweise erwartet werden können.

Für die Lösung drängender Probleme mit kurzen Zeitvorgaben und für die Lösung von Problemen, zu denen die Konferenz nicht viel beitragen kann, sind hingegen andere Reformen und Initiativen erforderlich. Solche Maßnahmen müssten so ausgestaltet sein, dass sie die Rolle der Konferenz stützen und verhindern, dass sie entgleist.

Zwei grundlegende Probleme zu lösen

Was die erste Frage betrifft, so möchte ich zwei grundlegende Probleme nennen, mit denen die EU derzeit zu kämpfen hat. Das erste ist die „Erwartungs-Kapazitäten-Lücke“ der EU: eine deutliche Diskrepanz zwischen den an die EU gestellten Erwartungen einerseits und den Ressourcen und Fähigkeiten, die die Mitgliedstaaten bereit sind, der EU zu übertragen, andererseits. Die Corona-Pandemie hat diese Lücke nicht nur aufgedeckt, sondern auch erheblich vergrößert, insofern sie die Diskrepanz zwischen dem, was die EU tun kann, und dem, was insbesondere die mächtigen und einfallsreichen Mitgliedstaaten allein tun können, aufgedeckt hat.

Das zweite Problem betrifft das Demokratiedefizit oder das, was wir als zwei Formen der demokratischen Abkoppelung bezeichnen können: vertikal (schwächere Verbindungen zwischen Institutionen und Bürger:innen/Zivilgesellschaft) und horizontal (Einflussverlust der Parlamente durch die krisenbedingte Schwerpunktverlagerung auf den Europäischen Rat und durch größere Informalität). Durch die horizontale Abkoppelung wird die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger geschwächt, die Exekutive über ihre direkt gewählten Vertreter zur Rechenschaft zu ziehen, wenn sich der Ort der Entscheidungsfindung hin zu Gremien wie dem Europäischen Rat verschiebt, die nur schwachen Kontrollen unterliegen, zwischen Regierungsebenen wechseln und Entscheidungen im Geheimen treffen.

Die strukturellen Ungleichgewichte der EU legen ein Dilemma für das Europäische Parlament dar: Mehr Macht zu erlangen, um die horizontale Abkoppelung zu verringern, setzt voraus, dass es sich gegenüber den anderen Institutionen kooperativ und entgegenkommend verhält. Die Ausübung von Kontrolle und Rechenschaftspflicht führt zu interinstitutionellen Konflikten, macht eine schrittweise Zunahme des parlamentarischen Einflusses weniger wahrscheinlich und lenkt die Aufmerksamkeit von den Bürgern ab (vertikale Abkoppelung). Es ist zu erwarten, dass das Parlaments die Konferenz als Vehikel zur Mobilisierung öffentlicher Unterstützung zu nutzen versucht, um sich aus dieser Zwangsjacke zu befreien.

Die Frage der richtigen Zeit

Die Konferenz kann etwas gegen beide Probleme unternehmen. Doch welchen Erfolg sie dabei hat, hängt nicht nur davon ab, ob ihre Empfehlungen tatsächlich umgesetzt werden, sondern auch von einer banaleren Frage: Wann müssen die Probleme gelöst werden? Auch wenn die beiden oben aufgeführten Probleme eindeutig struktureller Natur sind, haben sie eine unmittelbare und eine langfristige Dimension. Einige Probleme erfordern sofortiges Handeln, wie z.B. eine angemessene Reaktion auf COVID-19; andere Probleme können zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden. Der Wiederaufbaufonds ist eine wichtige kurzfristige Antwort; die Frage des ökologischen Wandels und die künftige Nachhaltigkeit der EU hängt hingegen von einer Weiterentwicklung und Ausweitung der EU-Eigenmittel ab.

Die Frage der Reihenfolge ist nicht einfach. In manchen Fällen kann die Lösung bestimmter Probleme Blockaden überwinden, mit positiven Nebeneffekten auf die allgemeine Problemlösungsfähigkeit der EU. Wenn es zum Beispiel in der Steuer- und Finanzpolitik einen Übergang von einstimmigen Abstimmungen zu irgendeiner Form von Mehrheitsentscheidungen gibt, kann das die Blockaderolle einer Minderheit von Veto-Akteuren beseitigen und dadurch einen Prozess des Kapazitätsaufbaus in Gang setzen, der der EU eine ganz andere Fähigkeit zur Bewältigung verschiedener Arten von Problemen verleiht.

Die Frage der richtigen Zeit hat noch eine weitere Dimension, nämlich ob die Reform der EU aus einer Position der Stärke oder der Schwäche heraus erfolgt. Mit anderen Worten: Die Arbeit der Konferenz wird von der Fähigkeit der EU beeinflusst werden, sich mit den unmittelbaren Problemen zu befassen, die die Corona-Pandemie aufgeworfen hat. Die Einigung über den Wiederaufbaufonds könnte wichtige Seiteneffekte auf die Konferenz haben.

Der Werkzeugkasten der EU

Schließlich müssen wir die Rolle der Konferenz im Zusammenhang mit der breiteren Frage prüfen: Welches sind die erforderlichen Instrumente, die die EU zur Lösung ihrer Hauptprobleme benötigt? Der Politikstil der EU hat derzeit eine Schlagseite, da einem hervorragenden Repertoire an Regulierungsinstrumenten nur schwache fiskalpolitische Fähigkeiten gegenüberstehen.

Die Entwicklung einer eigenen EU-Fiskalkapazität würde diese Diskrepanz verringern, den Werkzeugkasten der EU vergrößern, die Erwartungs-Kapazitäten-Lücke verringern und politische Verantwortlichkeiten klären. Insofern die EU dazu in der Lage ist, könnte die Konferenz selbst ein Werkzeug sein, um den Werkzeugkasten in diesem Sinn zu erweitern.


John Erik Fossum ist Professor am ARENA Centre for European Studies der Universität Oslo, Norwegen, und Forschungskoordinator für EU3D. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen politische Theorie, Demokratie, Konstitutionalismus in der EU und Kanada sowie die Europäisierung und Transformation des Nationalstaats. Seine Forschung trug umfassend zur Entwicklung und Anwendung von Föderalismus- und Demokratietheorie auf die EU als eigenständiges politisches System bei.


Erwartungen an die Konferenz über die Zukunft Europas – Artikelübersicht
  1. Was erwarten wir von der Konferenz über die Zukunft Europas? – Serienauftakt
  2. Die Zukunftskonferenz: drei Schwerpunkte für ein handlungsfähiges Europa ● Claudia Gamon
  3. Die Zukunft der Zukunftskonferenz, oder Der Rest ist Schweigen ● Dominik Hierlemann
  4. Eine Konferenz der BürgerInnen und Parlamente: Von der Konferenz über die Zukunft Europas zur Zukunft für Europas Konferenzen ● Axel Schäfer
  5. Kein Grund zur Eile: Eine gut vorbereitete und inklusive Konferenz zur Zukunft Europas sollte am 9. Mai 2021 beginnen [DE / EN] ● Julian Plottka
  6. Jugend, Wissenschaft, EuropaskeptikerInnen: Nur mit einer breiten Beteiligung wird die Konferenz über die Zukunft Europas zum Erfolg ● Gustav Spät
  7. Die richtigen Probleme mit den richtigen Instrumenten zur richtigen Zeit angehen: Gedanken zur Konferenz über die Zukunft Europas [DE / EN] ● John Erik Fossum
  8. Die Konferenz zur Zukunft Europas ist eine Chance – auch für den Europäischen Ausschuss der Regionen [DE / EN] ● Mark Speich
  9. Neuer Schwung für die Demokratie: Die Konferenz zur Zukunft Europas [DE / EN] ● Dubravka Šuica
  10. Kompromiss mit Potenzial: Die Konferenz zur Zukunft Europas ● Oliver Schwarz
  11. Das europapolitische Quartett: Kann die Konferenz zur Zukunft Europas noch ein Erfolg werden? ● Carmen Descamps, Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller

Bilder: EU-Heißluftballon: European External Action Service [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Porträt John Erik Fossum: University of Oslo [alle Rechte vorbehalten].
Übersetzung: Manuel Müller.

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