31 März 2022

Das europapolitische Quartett: Was bedeutet der Ukraine-Krieg für die EU?

Mit:
  • Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
  • Manuel Müller, Universität Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.

Demonstrantinnen und Demonstranten in Kiew mit Flaggen der Ukraine und der EU
Schon 2013 wehten Europaflaggen auf dem Maidan in Kyjiw.

Manuel
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert nun schon seit über einem Monat an. Das Wichtigste daran sind natürlich die Folgen vor Ort: die Toten und Verletzten, das Leid der Menschen und die Zerstörungen der Städte. Aber der Krieg hat auch Auswirkungen auf die EU, und um die soll es in unserem heutigen europapolitischen Quartett gehen.

Erstens gewinnt auf Policy-Ebene die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik neue Bedeutung. Zweitens beschleunigt der Krieg auch eine Verschiebung der öffentlichen Debatte über den Sinn der europäischen Integration: Statt innerem Frieden, Wohlstand und Demokratie rückt zunehmend die Selbstbehauptung gegenüber äußeren Gegnern in den Mittelpunkt. Und drittens ist da ja dann auch noch der ukrainische Beitrittsantrag …

Bleiben wir erst einmal bei den konkreten politischen Maßnahmen. Das Jacques Delors Centre in Berlin hat dazu kürzlich eine Übersicht über die Veränderungen veröffentlicht, die der Krieg ausgelöst hat – von verteidigungspolitischen Tabubrüchen über die ungeahnte Geschlossenheit in der Flüchtlingspolitik bis zu der recht schnellen Einigung über ein weitreichendes Sanktionspaket (auch wenn es jetzt schon wieder Streit über Ausnahmen für Energieträger gibt).

Was haltet ihr von diesen Entwicklungen? Stehen wir vor einer „Zeitenwende“, wie es jetzt immer wieder heißt? Oder handelt es sich nur um die neueste Wendung in der europäischen „Permakrise“, so wie zuvor die Währungsunion, die Migration, das Klima und die Pandemie europapolitische Debatten dominiert haben?

Eine verteidigungspolitische Zeitenwende?

Sophie
Ich weiß nicht, ob ich schon von einer verteidigungspolitischen „Zeitenwende“ auf europäischer Ebene sprechen würde. Es stimmt zwar, dass die EU jetzt durch die European Peace Facility zum ersten Mal selbst Waffenlieferungen finanziert. Aber sogar Deutschland hatte in der Vergangenheit bereits Waffen nach Syrien geliefert, um die Kurden zu unterstützen. Der Begriff ist bisher eher für Deutschland passend, sofern die neue Ausrichtung der Verteidigungspolitik anhält. Aber ich würde ihn noch nicht für die EU-Ebene nutzen.

Zustimmen würde ich, dass es eine sehr schnelle und geeinigte Antwort der EU war, die man nicht unbedingt erwartet hätte. Die Frage ist nun, ob diese Entwicklungen nur eine einmalige, kurzfristige Antwort auf den Krieg in der Ukraine waren oder auch eine längerfristige Umorientierung der EU bedeuten – womöglich mit einem stärkeren Fokus auf die „europäische Souveränität“ à la Macron.

Julian
Mit dem Begriff der Zeitenwende habe ich, wenn man ihn nur auf den Krieg in der Ukraine bezieht, auch meine Probleme. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass die Permakrise Entwicklungen, die sich in unterschiedlichen Bereichen schon länger anbahnten, zuspitzt und Entscheidungen erzwingt. In der jeweiligen Situation erscheint das dann subjektiv sicherlich als fundamentale Wende. Aber selbst mit Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine gab es genügend Menschen, die spätestens seit 2014 davor gewarnt haben, dass eine solche Entwicklung möglich ist. Das Neue ist, dass nun deren politische Forderungen schlagartig mehrheitsfähig geworden sind.

Sophie
Wenn man jahrelang Europapolitik verfolgt, wird man vorsichtig, große Fortschritte vorherzusehen. Vielleicht hat meine Skepsis gegenüber dem Begriff der „Zeitenwende“ damit zu tun. Ich persönlich bin aber auch fest davon überzeugt, dass eine Krise – oder ein Krieg in diesem Fall – allein keine positiven Veränderungen bringt: Es kommt einzig und allein auf die politische Antwort an, die darauf gegeben wird. Und diese politischen Antworten auf EU-Ebene zu finden bleibt eine Herausforderung, wenn man unter 27 Mitgliedstaaten einen Kompromiss finden muss.

Julian
Ich tippe darauf, dass es eher eine kurzfristige Einigkeit war, die unter dem Eindruck des akuten Schocks entstanden ist. Inzwischen zeigen sich ja schon wieder die ersten Bruchlinien zwischen den Mitgliedstaaten, nicht nur bei der Frage der Energie-Sanktionen. Auch bei Waffenlieferungen („Durch Ungarn nur, wenn sie anschließend noch ein anderes NATO-Land passieren, bevor sie in die Ukraine gehen“) und Beschaffung („Der Verteidigungsausschuss des Bundestages ist schon in Israel und schaut sich Arrow-3-Raketen an“) sieht es nicht nach Koordinierung aus. Auch in der Flüchtlingsfrage wäre ich sehr überrascht, wenn es diesmal einen Verteilungsschlüssel gäbe. Das ist alles noch weit von „europäischer Souveränität“ entfernt.

Ein Positives hatten die Reaktionen im Schock aber: Sie haben gezeigt, dass es doch möglich ist, in der EU gemeinsame Entscheidungen zu treffen, auch wenn es in anderen Fragen schwer zu überbrückende Gräben gibt. Vielleicht sind wir an einem Punkt angekommen, an dem die klassische Paketlösungsmethode Lösungen nicht mehr vereinfacht, sondern erschwert, weil einige schwerwiegende innereuropäische Konflikte das Potenzial haben, zur Dauerblockade zu werden. Unter dem Eindruck des Krieges sind diese Probleme vorübergehend in den Hintergrund getreten.

Auf dem Weg zur „hard power“?

Manuel
Immerhin: Wenn bestimmte Forderungen plötzlich mehrheitsfähig werden, hat das ja doch politische Auswirkungen. Mir scheint schon, dass wir eine Prioritätenverschiebung der EU erleben, die der Ukraine-Krieg nicht ausgelöst, aber sicher beschleunigt hat: eine „geopolitische“ Wende, in der europäische Innenpolitik (die traditionelle Agenda von innereuropäischem Frieden und Wohlstand und das neuere Ziel von überstaatlicher Demokratie) für viele Politiker:innen an Bedeutung verliert, während globale Fragen wichtiger genommen werden – und man zunehmend versucht, sie durch außen- und verteidigungspolitische hard power zu lösen.

Sophie
Ich war auch erstaunt, wie schnell sich vor allem in Deutschland das verteidigungspolitische Narrativ geändert hat – von Pazifismus kann hier nicht mehr die Rede sein (und aus guten Gründen). Allerdings sollte man aufpassen, dass wir die Ausrüstung der Bundeswehr multilateral und europäisch denken. Im Moment ist das nicht unbedingt der Fall, wir denken da weiter national.

Und was die europäische Ebene betrifft, stimme ich dir zu, Manuel. Nur ist es etwas zu früh, um zu wissen, ob wir uns tatsächlich hin zu einer hard power bewegen. Das würde nämlich Entscheidungen erfordern, die ich mir bisher angesichts der politischen Verhältnisse schwer vorstellen kann. Julian hat es bereits erwähnt: Es gibt Bruchlinien, die nicht so einfach zu überwinden sind. Aber vielleicht ist es ja das Comeback der differenzierten Integration!

Julian
Ich bin skeptisch, ob wir wirklich eine Verschiebung des Narrativs hin zu globalen Fragen haben. Bei der Bundeswehr sehe ich eher eine verteidigungspolitische Rolle rückwärts: Seit dem Kosovo-Krieg wurde sie mehr oder weniger erfolgreich (das können andere besser beurteilen) in Richtung einer global einsatzfähigen Armee entwickelt. Jetzt liegt der Fokus hingegen wieder klar auf der Territorialverteidigung. Das erinnert mich viel mehr an die Westintegration unter Adenauer. Der einzige (zugegeben entscheidende) Unterschied ist, dass wir Europäer:innen noch die Frage beantworten müssen, ob wir prinzipiell auch ohne die USA verteidigungsbereit sein wollen oder nur mit den USA. Diese Frage hatte sich damals für Adenauer nicht gestellt.

Entsprechend finde ich, dass das Friedensnarrativ auch sehr dem bei der Gründung der EU gleicht. Dass das zwischenzeitlich weiter, sogar global gedacht wurde ist, glaube ich, eher eine Besonderheit unserer Generation, weil Krieg in Europa für uns sowieso undenkbar war. Aber auch die soft power der EU war ja nur durch die US-amerikanische hard power möglich. Erst seit den 1990er Jahren wurde überhaupt diskutiert, ob es auch soft power ohne hard power geben kann, und die Bilanz dieses Versuchs lässt sich sehr unterschiedlich beurteilen. Auf Deutschland gemünzt würde ich sagen: Ohne Adenauer kein Brandt – die Mischung macht’s.

Kosmopolitische Werte vs. geopolitische Interessen?

Manuel
Vielleicht hat sich auch eher die Art verändert, wie die EU mit globalen Fragen umgeht: Lange Zeit hat sie vor allem auf friedliche multilaterale Zusammenarbeit, eine Stärkung der Vereinten Nationen und auf das Völkerrecht gesetzt und die „harten“ macht- und verteidigungspolitischen Fragen der NATO überlassen. Das war für die EU einerseits, wie jetzt häufig kritisiert wird, eine einfache Art, unangenehmen Themen aus dem Weg zu gehen.

Andererseits führte es aber auch zu einer höheren Glaubwürdigkeit ihrer „kosmopolitischen“ Agenda: Man konnte der EU abnehmen, dass sie (abgesehen von der Handelspolitik, in der sie schon immer auch eigennützig agierte) tatsächlich eine faire, freiheitliche, nicht auf Dominanz ausgerichtete Weltordnung im Sinn hatte. Jetzt hingegen betont sie stärker ihre eigenen geopolitischen Interessen und deren Durchsetzung – die manchmal (wie in der Ukraine) mit freiheitlich-demokratischen Werten übereinstimmen, aber eben nicht notwendig dasselbe sind.

Sophie
Manuel, ist das nicht vor allem die deutsche Position und Sichtweise? In Frankreich wünscht man sich schon länger eine stärkere EU, insbesondere in verteidigungspolitischen Fragen.

Manuel
Mag sein, aber vielleicht hat das auch mit dem recht speziellen französischen Blick auf die NATO zu tun …

Sophie
Grundsätzlich finde ich es auch nicht schlecht, dass wir uns wieder mit Interessen beschäftigen. Ich fand es schon immer sehr scheinheilig, so zu tun, als würden wir uns für den Weltfrieden einsetzen und nichts anderes. Was aber übrigens nicht bedeutet, dass man die EU-Grundwerte aus dem Fenster werfen sollte.

Julian
„Good cop EU, bad cop NATO“ ist natürlich auch eine bequeme Arbeitsteilung. Beide Rollen in der EU zu vereinen, wird sehr viel schwieriger.

Der Rechtsstaatsmechanismus als Preis für die Geschlossenheit?

Manuel
Sprechen wir noch mal über den innenpolitischen Preis, den die EU für die kurzfristige Einigkeit im Ukraine-Krieg bezahlt: Wie es aussieht, hat die Kommission die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus gegenüber Ungarn und Polen noch mal zurückgestellt. Auch das ist aus meiner Sicht eine Gefahr der „geopolitischen Wende“: dass Stärke und Geschlossenheit gegenüber demokratischen und rechtsstaatlichen Werten an Gewicht gewinnen.

Sophie
O ja! Putin zwar bestrafen wollen, dafür aber innerhalb der EU Putin-Methoden zulassen. Das wird langfristig nach hinten losgehen und der Legitimität der EU als Rechtsgemeinschaft sehr schaden.

Julian
Was mit Blick auf die Ukraine ein Treppenwitz wäre: Damit die Ukrainer:innen für europäische Werte kämpfen können, stellen wir die Durchsetzung der Werte in der EU zurück.

Sophie
In Polen und Ungarn sind es übrigens die NGOs, die zuvor in ihrer Arbeit behindert und in Ungarn sogar kriminalisiert wurden, die nun die ganze Flüchtlingshilfe vor Ort leisten – damit anschließend sich die polnische und ungarische Regierung bei der EU beklagen können, dass sie dafür doch Gelder brauchen.

Julian
Sophie, wie siehst Du das denn in Brüssel? Hat der Krieg hier einen Unterschied gemacht, oder hat die Kommission damit nur die ultimative Ausrede bekommen, um zu machen, was sie sowieso machen wollte?

Sophie
Gute Frage: Die EU-Kommission war schon immer sehr vorsichtig. Jede Institution schiebt die Verantwortung von sich und weist auf die anderen hin, die doch das effizientere Instrument hätten, um Grundwerte zu sichern. Das Grundproblem ist und bleibt, dass es keinen politischen Willen gibt, autoritäre Regierungen für ihr Handeln zu bestrafen, weil wir sie bei allen anderen Politikbereichen brauchen: Digitalisierung, Klimawandel, Sanktionen …

Julian
Ein bisschen dürfte hier ja auch die Personalie eine Rolle spielen – wenn man halt dem Europäischen Rat seine Wahl verdankt …

Der ukrainische Beitrittsantrag

Manuel
Kommen wir zum ukrainischen Beitrittsantrag: Die ukrainische Regierung scheint dazu bereit zu sein, mit Russland über ihre „Neutralität“ zu verhandeln, was wohl den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft bedeutet. Gleichzeitig hat sie nicht nur einen EU-Beitrittsantrag gestellt, sondern auch um ein besonderes, beschleunigtes Verfahren dafür gebeten. Georgien und Moldau, die ebenfalls mit russisch unterstützten Separatist:innen zu kämpfen haben, haben es ihr gleichgetan. Wie soll die EU damit umgehen?

Julian
Was ich interessant fand, war, dass viele Integrationsforscher:innen die Debatte über den ukrainischen Beitrittsantrag gleich mit einem Verweis auf die hohen Hürden in Art. 49 EUV abbügeln wollten. Mich überzeugt das nicht. Wenn uns die Permakrise eines gelernt hat, dann dass es immer einen Weg gibt, wenn der politische Wille da ist. Mit einer vertragsändernden Mehrheit (gegebenenfalls auch mit dem ein oder anderen nationalen Referendum) könnte man das Verfahren abkürzen, wenn man will. Ob man will, ist eine andere Frage.

Sophie
Wenn man davon ausgeht, dass die EU stärker zu einer Interessengemeinschaft wird, dann wäre ein EU-Beitritt der Ukraine (sowie der Republik Moldau und Georgiens) ein Fehler: Die Ukraine ist ein besetztes Land, das leider nicht mehr souverän ist. Die Kopenhagener Kriterien sind auch nicht erfüllt: Die Ukraine hatte vor dem Krieg enorme Korruptionsprobleme, die Institutionen und die Wirtschaft waren nicht bereit für einen EU-Beitritt – ganz abgesehen davon, dass 40 Millionen Ukrainer:innen die Machtverhältnisse innerhalb der EU drastisch ändern würden, was die Entscheidungsfindung nicht vereinfacht.

Ich bin außerdem dagegen, den Beitrittsprozess zu politisieren: Es gibt kein „beschleunigtes Verfahren“. Wir sollten uns an die Verfahren halten, die wir aufgesetzt haben – auch für die Westbalkan-Länder wäre es unfair, die Regeln jetzt zu ändern. Und schließlich: Ein EU-Beitritt würde der Ukraine im aktuellen Krieg nicht helfen. Schlimmstenfalls eskaliert der Konflikt wegen der Verteidigungsklausel in Art. 42 (7) EUV. Zwar sehe ich den symbolischen Mehrwert eines Beitritts, aber die Gefahr ist groß, dass wir damit der Ukraine falsche Hoffnungen machen.

Kopenhagen-Kriterien

Manuel
Aus meiner Sicht gibt es zwei wesentliche Argumente, die für einen ukrainischen EU-Beitritt sprechen. Zum einen ist es grundsätzlich besser, grenzüberschreitende Fragen mit supranationalen demokratischen Institutionen zu bearbeiten als mit diplomatischen Mitteln, sodass es a priori wünschenswert ist, dass beitrittswillige und -fähige Staaten sich der EU anschließen. Und zum anderen natürlich die Symbolik: In der Ukraine geht es auch um einen Kampf um die Demokratie, als deren Garantin die EU gesehen wird. Die Tür zuzuschlagen, wäre hier ebenso ein Fehler wie auf dem Westbalkan.

Gerade die Erfahrung dort erklärt aus meiner Sicht übrigens auch den Wunsch nach einem beschleunigten Verfahren: Nordmazedonien hat wiederholt erleben müssen, dass die EU das Beitrittsverfahren aus bloßen internen Gründen gestoppt hat, obwohl das Land eigentlich seine Aufgaben erfüllt hatte. Insofern ist das Beitrittsverfahren schon jetzt „politisiert“.

Was den Punkt mit den Kopenhagen-Kriterien betrifft, stimme ich dir allerdings völlig zu, Sophie. Der Korruptionsindex von Transparency International sieht für die Ukraine in den letzten zehn Jahren zwar eine leichte Verbesserung, aber noch 2021 hatte sie den zweitniedrigsten Wert in Europa – nur Russland steht noch schlechter da. Ein ähnliches Bild bieten der Rechtsstaatsindex des World Justice Project oder der Freiheitsindex von Freedom House. Aber vielleicht wäre ein schrittweises, zielgerichtetes, gut begleitetes Beitrittsverfahren nach dem Krieg genau die richtige Hilfe, hier die nötigen Reformen anzustoßen?

Julian
Mein Eindruck ist, dass die notwendigen Reformen schon angestoßen waren, die Ukraine aber vor dem Krieg am Anfang der mühevollen Ebene angekommen war, in der sich die Staaten des Westbalkans derzeit befinden. Die Frage ist dann: Wie treibt man die Reformen konsequent voran, wenn die Karotte immer weiter in die Ferne zu rücken scheint?

Ukrainische Souveränität und europäische Supranationalität

Sophie
Das Argument stimmt natürlich, aber es kommt auf die Perspektive an: Betrachtet man den EU-Beitritt eher aus außenpolitischer oder aus EU-innenpolitischer Sicht?

Und noch ein Punkt, der bisher nicht genannt wurde: Die Ukraine ist aus guten Gründen gerade sehr nationalistisch. Die wehenden Flaggen repräsentieren eine Demokratie, die sich gegen eine russische Invasion verteidigt. Doch bisher stellt man sich nicht die Frage, ob ein solcher Nationalismus langfristig auch mit der supranationalen Ausrichtung der EU kompatibel und wünschenswert ist.

Manuel
Ja, da stimme ich völlig zu: Der Krieg bringt in der Ukraine gerade eine starke Aufwallung an Souveränitätsbewusstsein und Nationalismus – was unter den gegebenen Umständen völlig nachvollziehbar und vielleicht auch notwendig ist, um Widerstandsbereitschaft der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, aber keine gute Voraussetzung, um Mitglied der supranationalen EU zu sein.

Am Ende sind nationale Souveränität und supranationale Demokratie zwei verschiedene Formen von Antiimperialismus: Beide richten sich gegen imperiale Machtansprüche, wie ihn die russische Regierung vertritt, wenn sie die Ukraine als ihre „Einflusszone“ sieht, die sie von Moskau aus fernsteuern will. Aber in vieler Hinsicht stehen nationale Souveränität und supranationale Demokratie eben auch im Widerspruch zueinander, denn Letztere setzt voraus, dass man bereit ist, sich einer gemeinsamen, überstaatlichen Rechtsordnung zu unterwerfen.

Julian
In der Tat ist der Nationalismus – zumindest in den einen oder anderen Auswüchsen – eine Herausforderung. Aber ich würde es zumindest als offene Frage formulieren, ob in der Ukraine Nationalismus und Supranationalismus im Widerspruch zueinander stehen müssen. Wenn die europäische Integration zum Instrument wird, das hilft, die ukrainische Souveränität wiederherzustellen, könnte das aus ukrainischer Sicht durchaus zusammenpassen. Im Gegensatz zu den zentral- und osteuropäischen Ländern gibt es in der Ukraine ja keinen direkten Übergang von der Unabhängigkeit zur europäischen Integration, sondern einen Krieg, in dem die EU als Unterstützerin gesehen wird.

Sophie
Ich glaube, die ukrainische Regierung sieht ihren Beitrittsantrag rein geopolitisch, nicht aus supranationaler Perspektive. Es geht ihr um eine Integration in „den Westen“, nicht unbedingt in ein supranationales Projekt.

Manuel
… was dann wieder die Frage aufwirft: Versteht die EU selbst sich nur als ein „geopolitischer Block“ oder als supranationale demokratische Gemeinschaft? Ich denke, das ist eine Debatte, die wir dringend führen müssen – um unsere Haltung gegenüber der Ukraine zu klären, aber auch gegenüber der Weltpolitik im Allgemeinen.



Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und am Lehrstuhl für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Bilder: Flaggen: Evgeny Feldman, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons; Porträts Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller: privat [alle Rechte vorbehalten].

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