- Die EU lernt die Sprache der Macht. Aber sie darf darüber nicht ihre kosmopolitische Seele verlieren.
Wenig vereint so sehr, wie einer gemeinsamen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat in der EU einen plötzlichen Integrationsschub und ungeahnte Entschlossenheit zum gemeinsamen Handeln ausgelöst. Obwohl in der Außen- und Verteidigungspolitik jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht besitzt, gelang es der EU, sich innerhalb weniger Tage auf weitreichende Sanktionen gegen die Regierungen von Russland und Belarus zu einigen, finanzielle Hilfspakete für die Ukraine zu schnüren und sogar eigene Waffenlieferungen zu organisieren.
In den Worten des Hohen Vertreters Josep Borrell (PSOE/SPE) wird die EU gerade zur „Militärunion“, und sie scheint dabei mit sich im Reinen zu sein. Immerhin hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) selbst kurz nach ihrer Wahl 2019 angekündigt, Europa müsse „die Sprache der Macht lernen“, und Borrell forderte bereits 2020, die EU solle sich „selbst als geostrategischen Akteur der obersten Kategorie begreifen“. Auch dass Europa „strategische Souveränität“ anstreben müsse, war schon vor dem Krieg in der Ukraine ein beliebtes Schlagwort sowohl der französischen als auch der deutschen Regierung. Wird die politische und militärische Selbstbehauptung auf einer zunehmend feindseligen Weltbühne zur neuen raison d’être der Europäischen Union?
Schon das Paneuropa-Manifest warnte vor der russischen Gefahr
Nun ja: Ganz neu ist die Vorstellung, dass die europäische Einigung dem Schutz gegen äußere Gegner diene, nicht. Schon in Richard Coudenhove-Kalergis Paneuropäischem Manifest von 1923 ging es neben Frieden und Wohlstand auch um die Verhinderung einer „Unterwerfung durch Russland“. Die „zersplitterten und uneinigen Kleinstaaten Europas“, so argumentierte er, könnten der „russischen Weltmacht“ nur widerstehen, wenn sie sich zu einem gemeinsamen „Defensivbündnis“ zusammenschlössen.
Auch später spielte die gemeinsame Verteidigung gegen sonst übermächtige Gegner immer wieder eine treibende Rolle. Jean Monnet, Ideengeber und ab 1952 erster Präsident der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, hatte seine ersten Erfahrungen mit supranationalen Strukturen im Rahmen der interalliierten Wirtschaftszusammenarbeit während der Weltkriege gemacht. 1950 sprach sich Winston Churchill zur „Abschreckung gegen eine russisch-kommunistische Aggression“ für eine gemeinsame europäische Armee aus; kurz darauf konkretisierte die französische Regierung diese Idee im Pleven-Plan. Zwei Jahre danach wurde der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft unterzeichnet.
Dessen Ratifikation scheiterte zwar 1954 im französischen Parlament, was die militärische Integration im EG-Rahmen für lange Zeit ausbremste. Doch ganz verloren ging das Motiv der Selbstbehauptung in der europäischen Integration auch später nicht. Ab 1970 institutionalisierten die Mitgliedstaaten ihre außenpolitische Kooperation in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Ab den 1990er Jahren wurde die Unfähigkeit der EU, die Kriege in ihrer jugoslawischen Nachbarschaft zu verhindern, zu einem Ansporn für den schrittweisen Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. 2004 entstand die Europäische Verteidigungsagentur, seit 2009 ist die Beistandsklausel in Art. 42 (7) EUV in Kraft. Seit 2017 gibt es eine vertiefte Verteidigungskooperation der meisten Mitgliedstaaten in der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Ab den 2000er Jahren gewann außerdem der Kampf gegen den Terrorismus an Bedeutung für die EU, ab 2015 auch der Schutz der europäischen Außengrenzen, für den die EU seit 2021 erstmals über einen eigenen uniformierten Dienst verfügt.
Im Selbstverständnis der EU ging es um Frieden und Wohlstand
In der offiziellen Rhetorik der europäischen Institutionen und der nationalen Europapolitiker:innen spielte die politische und militärische Selbstbehauptung nach 1954 allerdings keine zentrale Rolle. Dass man sich in einer Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion befand, war klar, wurde aber in europapolitischen Reden eher nicht an die große Glocke gehängt. In der öffentlichen Wahrnehmung war die EU vor allem ein Friedens- und Wohlstandsprojekt, ab den 1990er Jahren auch ein Projekt der individuellen (Reise-)Freiheit und der überstaatlichen Demokratie. Der Schutz vor äußeren Bedrohungen galt hingegen in erster Linie als Aufgabe der NATO – in der die europäischen Staaten auch die wichtigste globale Militärmacht, die USA, als Verbündeten an ihrer Seite wussten.
Wenn doch einmal die weltpolitische Handlungsfähigkeit Europas als Zweck des Einigungsprojekts gesehen wurde, dann geschah das meist in einem Kontext, der gegen die US-amerikanische Dominanz gerichtet war. Als etwa der französische Präsident Charles de Gaulle in den 1960er Jahren für ein „europäisches Europa“ eintrat, das „durch sich selbst und für sich selbst existiert und in der Welt seine unabhängige Politik verfolgt“, meinte er damit insbesondere die Unabhängigkeit von der NATO. Und auch als Jürgen Habermas und Jacques Derrida nach dem Irakkrieg 2003 über eine „Wiedergeburt Europas“ schrieben, geschah dies in Abgrenzung vom „hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten“.
Einsatz für eine kosmopolitische Weltordnung
Dabei ging es den beiden Philosophen (anders als de Gaulle) allerdings noch nicht einmal im eigentlichen Sinne um europäische Selbstbehauptung – sondern um die EU als „eine Form des ‚Regierens jenseits des Nationalstaates‘ […], das in der postnationalen Konstellation Schule machen könnte“. Die Europäer:innen müssten sich der „Herausforderung stellen, eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen und voranzubringen“. Der Erfolg der EU bei der inneren Friedensstiftung zeige, dass „die Domestizierung staatlicher Gewaltausübung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschränkung souveräner Handlungsspielräume verlangt“.
Das Ziel der europäischen „Wiedergeburt“ war für Habermas und Derrida also gerade nicht das Mitmischen der EU in einem globalen Großmachtpoker – sondern ihr Einsatz für eine supranationale, rechtsbasierte, postsouveräne Weltordnung. Auch dies passte zum vorherrschenden Selbstverständnis der EU, die in ihrer Außen- (und speziell Außenhandels-)Politik zwar schon immer auch eigene Interessen vertrat, dem eigenen Anspruch nach aber vor allem ein Vorbild in Sachen Frieden, Wohlstand, Freiheit und Demokratie sein sollte.
Seit 2015 rückt Selbstbehauptung ins Zentrum der EU-Rhetorik
Wirklich ins Zentrum der institutionellen Rhetorik der EU gelangte die Idee der europäischen Selbstbehauptung erst ab etwa 2015. Das hatte zum einen wohl diskursstrategische Gründe: In den Jahren zuvor hatte war die Erzählung von der europäischen Einigung als Wohlstandsgarant durch die Eurokrise massiv erschüttert worden – was bei vielen Europapolitiker:innen die Überzeugung nährte, dass die EU ein „neues Narrativ“ für ihre Legitimation brauche. Als Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) 2015 die Forderung nach einer Europa-Armee lancierte, sahen darin viele auch ein integrationspolitisches Leuchtturmprojekt, das jenseits finanzpolitischer Streitereien identitätsstiftend wirken könnte.
Und zum anderen bietet natürlich auch die weltpolitische Lage allerlei Anlass, globalen Fragen verstärkte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Globale Finanzkrisen, Terrorismus und Pandemien, der Klimawandel und die dadurch zu erwartenden Konflikte und Fluchtbewegungen machen deutlich, dass die EU keine Insel der Seligen ist, die sich nur mit sich selbst beschäftigen müsste. Zugleich scheint die EU angesichts des globalen Rückgangs der Demokratie und der Krise der liberalen Weltordnung, der zunehmend aggressiv auftretenden autoritären Regierungen in China und Russland und des Rechtsrutschs der Republican Party in den USA auf der Weltbühne immer einsamer dazustehen. Enger zusammenzurücken, um im globalen Sturm nicht unterzugehen, erscheint da als eine durchaus plausible Losung.
Das neue geopolitische Vokabular
Seither mehren sich im Wortschatz der Europapolitiker:innen die geopolitischen Schlagworte: von der „Weltpolitikfähigkeit“ zur „strategischen Autonomie“, von der „geopolitischen Kommission“ zur „europäischen Souveränität“. Anders als bei Habermas und Derrida geht es dabei in der Regel nicht mehr um eine kosmopolitische Agenda, sondern in erster Linie um den „Schutz der europäischen Werte und Interessen“.
In diesem Sinne legt auch der neue Strategische Kompass der EU, der in diesem Jahr verabschiedet werden soll, im Vergleich zu seinem Vorgänger von 2016 seinen Schwerpunkt weniger auf „Soft Power“ und mehr auf die Notwendigkeit, auf eine Welt voller Bedrohungen mit eigenen militärischen und technologischen Kapazitäten reagieren zu können. Zugleich tritt die EU gegenüber anderen weltpolitischen Akteuren auch selbst immer öfter mit harscher Rhetorik auf – etwa wenn sie China (zu Recht, aber wenig diplomatisch) seit 2019 offiziell als „Systemrivalen“ bezeichnet.
Das Selbstbehauptungsnarrativ bedroht die Werte der EU
Wenn Selbstbehauptung zum zentralen Motiv der europäischen Integration wird, ist das aber auch mit Gefahren verbunden. Die Rückkehr von Souveränitäts- und Großmachtdenken konterkariert das Selbstverständnis der EU als ein wertegeleitetes Projekt, in dem Grenzen an Bedeutung verlieren, Menschen sich unabhängig von ihrer Nationalität als gleichberechtigte Bürger:innen begegnen und gemeinsame politische Probleme durch überstaatliche demokratische Verfahren gelöst werden. Wo Politik von der Angst vor äußeren Bedrohungen geprägt ist, wird schnell Stärke und innere Geschlossenheit über demokratische Legitimität gestellt, Abschottung über Weltoffenheit, Machtpolitik über Menschenrechte.
Noch ist die EU nicht an einem solchen Punkt. Nach wie vor ist sie einer der Akteure, die sich weltweit am klarsten für das Völkerrecht, den Multilateralismus und die Stärkung der Vereinten Nationen einsetzen. Aber auf rhetorischer Ebene ist es ein schmaler Grat – und je intensiver die europäische Politik den Schutz vor äußeren Gegnern und die Selbstbehauptung in einer feindseligen Welt als Hauptmotiv für die europäische Integration zeichnet, desto schwerer wird es ihr fallen, wenn sie in Zukunft bei ihren Bürger:innen um Vertrauen in die Weltinstitutionen oder gar um die Aufgabe europäischer Souveränität zugunsten einer globalen Demokratie werben will. Auch nach innen hin sollten die diskriminierenden Anfeindungen, denen unbeteiligte russische Bürger:innen in Europa in den letzten Tagen teils ausgesetzt waren, eine Warnung sein, wie leicht sich außenpolitische Feindbilder im öffentlichen Bewusstsein festsetzen und eine Gesellschaft vergiften können.
Heute mehr denn je braucht die EU ihre kosmopolitische Vision
Was heißt das nun für die europäische Reaktion auf den Krieg in der Ukraine? Kein Zweifel: Die Aggression der russischen Regierung war ein massiver Völkerrechtsbruch, und es war richtig, darauf mit schnellen und weitreichenden Sanktionen zu reagieren. Und auch langfristig muss die EU strukturell in der Lage sein, auf Angriffe zu reagieren – umso mehr, wenn wie hier auch ihre eigenen demokratischen Werte auf dem Spiel stehen. Aus der zuweilen geäußerten Forderung, man solle akzeptieren, dass es sich bei der Ukraine um eine russische „Einflusszone“ handle, und dementsprechend eine „Neutralisierung“ des Landes anstreben, spricht erst recht eine imperialistische Denkweise, die den mehrheitlichen Wunsch der ukrainischen Bevölkerung nach einer Teilhabe am demokratischen Westen zur Nebensache in einem geopolitischen Machtspiel degradiert.
Aber gerade weil in diesem Fall Härte notwendig ist, sollten wir jetzt besonders aufpassen, wie wir über den Ukraine-Krieg sprechen – und uns nicht aus Entsetzen über die russische Aggression eine Welt herbeireden, in der die globale Gemeinschaft als bloße Illusion gilt, allein das Recht des Stärkeren zählt und der wichtigste Zweck der EU darin besteht, uns für den weltweiten Kampf aller gegen alle zu rüsten.
Beim Projekt der supranationalen Integration geht es um sehr viel mehr als um das. Heute mehr denn je muss die EU ihre Vision einer postsouveränistischen, kosmopolitisch-demokratischen Ordnung aufrechterhalten, statt sich nur als eine Großmacht unter Großmächten zu verstehen.
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