- Zu Zeiten des Marshall-Plans waren Argumente für die europäische Integration noch einfach zu finden.
Es ist inzwischen fast
schon zu einem abgedroschenen Gemeinplatz geworden, dass die
Europäische Union ein neues Narrativ braucht. Gemeint
ist damit ein übergeordnetes Argument – etwas, was der
europäischen Integration einen Sinn verleiht, ein Ziel, für das es
sich einzusetzen lohnt, auch wenn damit zuweilen Rückschläge und
Kosten verbunden sind. Der ehemalige Staatssekretär im Auswärtigen Amt Werner Hoyer (FDP/ELDR) und
der Bundestagsabgeordnete Peter Beyer (CDU/EVP), die European Cultural Foundation und eine Diskussionsrunde auf einer Tagung des Goethe-Instituts, sie alle haben sich in den
letzten Jahren über diese Notwendigkeit geäußert. Und auch der vor
einigen Wochen vorgestellte Zwischenbericht der „Außenministergruppe zur Zukunft Europas“, die auf
Initiative von Guido Westerwelle (FDP/ELDR) Vorschläge für eine
politische Union entwickeln will, stellt als Erstes fest, dass die
„heutige ‚Erasmus-Generation‘“
sich schon zu sehr an die Integrationserfolge gewöhnt habe und
deshalb das „hergebrachte ‚Narrativ‘
der Europäischen Union als Instrument zur dauerhaften Überwindung
von Krieg in Europa“ nicht mehr ausreiche.
Die
alten Narrative
In
der Anfangszeit der Europäischen Gemeinschaften gab es vor allem
zwei solche Meta-Argumente, mit denen der Einigungsprozess begründet
wurde: Europa, so hieß es, würde den Frieden sichern und den Wohlstand mehren.
Beide Narrative hatten damals ihre Berechtigung und haben sie
teilweise bis heute: Natürlich spielte die europäische Integration
in den fünfziger Jahren eine zentrale Rolle bei der
Wiederherstellung von Vertrauen zwischen Deutschland und seinen
westlichen Nachbarn, natürlich war sie in den neunziger Jahren
wesentlich für die Stabilisierung des Kontinents nach dem
Zusammenbruch der Sowjetunion, natürlich gehen auch die
Aussichten auf Aussöhnung auf dem westlichen Balkan in den letzten
Jahren stark auf die Beitrittsperspektive zurück, mit der die EU die
dortigen Länder lockt. Und natürlich förderte die Öffnung
der nationalen Märkte, der Abbau von Zöllen und anderen
Handelshemmnissen, die Freiheit des Kapital-, Waren-,
Dienstleistungs- und Personenverkehrs das Wirtschaftswachstum.
Aber
die Zeit verging, viele Ziele der europäischen Integration wurden erreicht, und die beiden althergebrachten Begründungsmuster begannen an Zugkraft zu verlieren. Einen aggressiven,
waffenbereiten Nationalismus gibt es in Europa heutzutage so gut wie
nicht mehr; und selbst wenn die EU morgen zu existieren aufhören
würde, ist nicht zu erwarten, dass zwischen ihren Mitgliedstaaten in
absehbarer Zeit noch einmal ein Krieg ausbrechen würde. Und wie uns
die Eurokrise vor Augen führt, bringt auch die wirtschaftliche
Integration ihre Tücken mit sich – und dass ein Zerfall der
Währungsunion wohl alle Beteiligten noch weitaus teurer zu stehen
käme als ihre Rettung, ist ein trauriges Argument für mutige neue
Einigungsschritte.
Die
alten Narrative sind also nicht genug, und eigentlich sind sich da
auch alle einig. Trotz dieser Einigkeit herrscht jedoch bis
heute eine erstaunliche Unklarheit, wie das so häufig geforderte „neue
Narrativ“ aussehen soll. Wie Conor Slowey kürzlich sehr treffend
in seinem Blog The European Citizen geschrieben hat:
A common thread to discussions in pro-European circles seems to be that the pro-European case would find more supporters if it was explained. This irritates me for two reasons: itʼs a boring discussion that doesnʼt solve or further anything, and pro-Europeans are terrible at explaining things. Probably because they constantly talk about explaining things rather than actually explaining them.
Es scheint in Diskussionen pro-europäischer Kreise ein häufiger Gedankengang zu sein, dass die pro-europäische Sache mehr Unterstützer fände, wenn sie erklärt würde. Das irritiert mich aus zwei Gründen: Es ist eine langweilige Diskussion, die nichts löst oder vorantreibt, und Pro-Europäer sind schrecklich, wenn es darum geht, Dinge zu erklären. Wahrscheinlich, weil sie immer darüber sprechen, Dinge zu erklären, statt sie wirklich zu erklären.
Also
lasst uns mal loslegen, Pro-Europäer. Was soll unser neues Narrativ
sein? Warum wollen wir die europäische Integration überhaupt? Hier
drei Vorschläge.
Erstens:
Ein starkes Europa
Ein
in der Narrative-Debatte immer wieder zu hörendes Argument ist, dass
sich die europäischen Staaten zusammenschließen müssen, um sich in
der Welt besser behaupten zu können. Zwischen Großmächten wie den
USA, Russland oder China und angesichts des Aufstiegs neuer Akteure
wie Indien oder Brasilien ist jeder einzelne europäische Staat zu
klein, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. Wirtschaftlich,
diplomatisch und militärisch werde die EU nur dann wahrgenommen,
wenn sie geschlossen auftritt.
Folgt
man dieser Überlegung, so führt der Königsweg zu einer weiteren
Integration über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Da
das Eigene immer nur im Gegensatz zum Fremden wahrgenommen wird, kann
eine Intensivierung der gemeinsamen Außenpolitik auch die Entstehung
einer europäischen Identität befördern. Indem sich die Europäer
auf globaler Ebene als Einheit erfahren, würden sie sich auch ihrer
gemeinsamen Interessen und Werte bewusst, die es sich gegenüber dem
Rest der Welt zu verteidigen lohnt. Dieses Narrativ lag etwa der von
Jürgen Habermas und Jacques Derrida ausgelösten (und kürzlich von Craig Willy in seinem Blog aufbereiteten) Debatte
Anfang 2003 zugrunde, als im Vorfeld des Irakkriegs eine ganze Reihe
europäischer Intellektueller „Europa“ als Gegengewicht zur
US-amerikanischen Hegemonie verteidigten.
Offen
gesagt, kann ich diesem Narrativ allerdings nicht besonders viel
abgewinnen – denn es funktioniert nicht ohne einen
außereuropäischen Gegner. Häufig ist es mit einer gewissen
unausgesprochenen Nostalgie gegenüber der guten alten Zeit
verbunden, als die Sowjetunion noch existierte und die Furcht vor der
Bedrohung aus dem Osten Westeuropa einigte. Der Identitätsschub von
2003 war rasch dahin, nachdem George W. Bush im Weißen Haus von
Barack Obama abgelöst wurde. Und vor einiger Zeit habe ich jemanden
sagen hören, dass eine Lösung für die Eurokrise wohl schnell
gefunden wäre, wenn nur China und Russland eine ernstere Gefahr
darstellen würden. Aber wollen wir das wirklich? Wenn der Sinn der
europäischen Integration nur darin besteht, uns für den harten
Kampf mit den anderen Großmächten zu wappnen – sollten wir dann
nicht stattdessen besser all unsere Energie darin stecken, dass die
Politik auf globaler Ebene etwas kooperativer wird?
Zweitens:
Ein soziales Europa
Überzeugender
finde ich ein anderes Narrativ: das der europäischen
Sozialstaatlichkeit. Denn es ist zwar richtig, dass die
wirtschaftliche Integration der letzten Jahrzehnte den Wohlstand in
Europa gemehrt hat – doch zugleich führte die Marktöffnung auch
zu einer steigenden Ungleichverteilung dieses Wohlstands. Der Wegfall
nationaler Grenzen führte zu neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten,
aber um diese Möglichkeiten nutzen zu können, muss man selbst schon
einige Voraussetzungen mitbringen: Grenzüberschreitende Aktivitäten
erfordern Sprachkenntnisse, was besser Gebildete bevorteilt. Während
man für ein Angebot seiner Arbeitskraft im Ausland erst umziehen
muss, erfordern Auslandskapitalinvestitionen nur einige Mausklicks,
sodass Kapitalbesitzer vom Binnenmarkt stärker profitieren als
Arbeitnehmer. Und nationale Versuche, dies durch höhere
Spitzensteuersätze und einen Ausbau des Sozialstaats auszugleichen,
scheitern daran, dass Spitzenverdiener nun leichter fortziehen können.
Man
kann auf dieses Problem in zweierlei Weise reagieren: Entweder man
versucht die Öffnung der nationalen Märkte zu bremsen oder gar
rückgängig zu machen, wie das Teile der Europäischen Linkspartei
vorschlagen. Dadurch würde der Handlungsspielraum für nationale
Steuer- und Sozialpolitik wieder erhöht, aber gleichzeitig gingen
mit einer Rückkehr zum nationalen Protektionismus auch die
Wohlstandsgewinne des Binnenmarkts verloren; der insgesamt zu
verteilende Kuchen würde kleiner.
Oder
aber man macht sich daran, die sozialstaatlichen Strukturen, die
bisher nur auf nationaler Ebene existieren, auf die Europäische
Union zu übertragen. Zunächst einmal würde dies eine europäische
Kompetenz zur Erhebung von Steuern notwendig machen, dann europäische
Sozialversicherungen, eine Stärkung der europäischen
Gewerkschaftsbünde, den Abschluss europäischer Tarifverträge.
Wenigstens für die Parteien, die sich das Ziel sozialer
Gerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben haben, kann dies ein
mächtiges Narrativ für die europäische Integration sein, und es
ist erstaunlich, dass von den europäischen Sozialdemokraten und der
Europäischen Grünen Partei nicht mehr dazu zu hören ist.
Drittens:
Ein demokratisches Europa
Der
wichtigste Grund aber, der in meinen Augen für eine Intensivierung
des Integrationsprozesses spricht, ist die Förderung der
europäischen Demokratie. Ich habe hierzu bereits vor einem knappen
Jahr in dem ersten Eintrag dieses Blogs überhaupt geschrieben: Nicht nur
auf wirtschaftlicher, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene sind
die europäischen Länder längst miteinander verflochten. Diese
gesellschaftliche Integration hat uns kulturell bereichert und die
Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung ausgeweitet. Nicht
umsonst zählen das Schengener Abkommen und das Erasmus-Programm zu
den beliebtesten europäischen Projekten: Es gibt immer weniger Menschen, die sich
vorstellen könnten, ihre eigenen Aktivitäten und ihren
Freundeskreis auf einen einzigen Staat zu reduzieren.
Doch
je enger die europäische Gesellschaft zusammenwächst, desto größer
ist der Bedarf nach gesamteuropäischen Gesetzen, die
grenzüberschreitend unser Zusammenleben regeln – nicht nur was die
Binnenmarktordnung betrifft, sondern auch im Familien-, im Umwelt-,
im Strafrecht. Versucht man diese gesamteuropäische Gesetzgebung auf
diplomatischem Weg durch rein zwischenstaatliche Verhandlungen zu
erreichen, dann stößt man rasch auf ein Dilemma: Entweder wir geben
in allen Fragen jedem nationalen Parlament ein Vetorecht, wodurch das
Verfahren aber ungemein schwerfällig wird und viele Probleme
ungelöst bleiben, oder wir entscheiden uns für effizientere
Mehrheitsverfahren, was aber auf Kosten der Partizipation der Bürger
geht.
Die
einzige Lösung besteht deshalb darin, die Diplomatie zu verlassen
und Europa zu parlamentarisieren. Was die Europäer gemeinsam angeht,
muss von Institutionen entschieden werden, die die Europäer
gemeinsam gewählt haben: Wenn wir uns dieses einfache Prinzip zur
Richtschnur machen, wird es nicht schwer sein, auch ein neues
Narrativ für den europäischen Integrationsprozess zu finden – es
geht um nichts Geringeres als um die Errichtung einer
gesamteuropäischen Demokratie.
Tun,
was man sagt
Ein
starkes, ein soziales, ein demokratisches Europa: Es ist nicht
schwer, neue übergeordnete Motive für die europäische Einigung zu
finden, die mindestens ebenso schwer wiegen wie die alten Narrative
von Frieden und Wohlstand. Warum aber tun sich die führenden
Politiker des Kontinents noch immer so hart damit, diese Argumente
glaubwürdig zu vertreten und damit auch ihre zunehmend skeptische
Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, für das
Gelingen der Integration auch das ein oder andere Opfer zu bringen?
Warum klingen all die Rufe nach „mehr Europa“ so schal?
Einen
wesentlichen Punkt hierzu hat vor einigen Tagen Protesilaos Stavrou
in einem lesenswerten Blogeintrag angesprochen: Hinter dem
Schlagwort „pro-europäisch“ können sich ganz unterschiedliche
Ziele verbergen, und so manches Regierungsmitglied, das sich für
mehr Integration ausspricht, meint damit nur mehr Macht für den
Europäischen Rat. Ein überzeugendes Argument für mehr
Intergouvernementalismus aber ist tatsächlich nicht einfach zu
finden.
Wer
als Politiker die Narrative des starken, sozialen, demokratischen
Europa verwenden und damit die Zustimmung der Bevölkerung zu einer
Fortsetzung der europäischen Integration gewinnen will, der steht
zunächst einmal vor der Aufgabe, auch wirklich das zu tun, was er
von sich behauptet. Wer sich für eine einheitliche europäische
Außenpolitik ausspricht, der muss auch bereit sein, das eigene
nationale Außenministerium zu entmachten. Wer einen europäischen
Sozialstaat will, der muss in Kauf nehmen, dass damit womöglich auch
Umverteilung aus dem eigenen Land heraus verbunden ist. Und wer die
europäische Demokratie zu seinem Ziel erklärt, der darf das
Europäische Parlament nicht außen vor lassen, wenn es darum geht,
die dringenden Probleme zu lösen, mit denen die EU konfrontiert ist.
Die
europäische Integration ist kein Selbstzweck. Sie ist ein
machtvolles Mittel, um wichtige Ziele zu erreichen und das Leben der
Europäer zu verbessern. Wenn die Politik diese Ziele offenlegt und
in ihrem Sinne handelt, dann wird sie auch die Zustimmung der
europäischen Bevölkerung zurückgewinnen.
Bild: By E. Spreckmeester, published Economic Cooperation Administration (Source) [Public domain], via Wikimedia Commons.
Gute Post; ich bin meistens einverstanden, aber ein paare Gedanken:
AntwortenLöschenAls Sozialdemokrat, bin ich fuer ein soziales Europa, obwohl ich auch denke, dass dies eine partei-politische Frage und nicht eine Frage fuer pro-Europaeer in gemein ist. (Vielleicht denke ich zuviel an sozialdemokratische Taktiken: wir mussen mehr fraternité foerdern, um ein staerkeres europaeisches égalité zu schaffen). Ich sehe das demokratisches Argumentation als die Beste Argumentation. "Ein starkes Europa", kann man sagen, ist ein Project fuer die Eliten und ihre Macht und nicht fuer die Buerger/innen Europas. Wenn man spricht von ein starkes Europa als eine demokratische Frage, spricht man von der Macht der Buerger/innen und Demokratien in einer globalisierte Welt. Europa kann ein Mittel sein, um Buerger/innen zu ermaechtigen.
Ich bin aber ein bisschen zu theoretisch. Eine normale europaeische politische Debatte (ueber ein soziales Europa, usw) wuerde mehr fuer die pro-europaeische Lage beitragen.
(Entschuldigung fuer mein [nicht so oft geuebt] Deutsch).
"Hinter dem Schlagwort 'pro-europäisch' können sich ganz unterschiedliche Ziele verbergen [...]" - das ist genau der Punkt.
AntwortenLöschenSchon in der Anfangsphase der europäischen Integration gab es - abseits von hehren Proklamationen und gediegen-kryptischen Vertragspräambeln - keinen politischen Konsens über ihre Finalität, diente die jeweils konkrete Spielart europäischer Integration ganz unterschiedlichen, teil sogar widerstreitenden Zielen ihrer Protagonisten. Und damals musste es einen solchen Konsens, zumal angesichts des dann doch konsensualen alles überwölbenden Friedensnarrativs, auch noch gar nicht unbedingt geben. Mit der wirtschaftlichen Integration nationaler Volkswirtschaften zu beginnen, das war allemal ein gangbarer Weg. Europa auch politisch zu einigen, misslang schon in den 1950er Jahren.
Der Unterschied zu damals besteht im wesentlichen darin, dass sich mittlerweile die wirtschaftliche Integration ohne politische Integration nicht mehr vorantreiben lässt - ganz abgesehen davon, dass längst auch andere, nicht-intendierte Integrationsdynamiken zum Tragen gekommen sind. Die eigentlich zentrale Frage bleibt dann aber, ob sich ein übergreifender politischer Konsens über die Finalität Europas überhaupt wird herstellen lassen. Ein "starkes Europa", ein "soziales Europa", ein "demokratisches Europa" - das sind mögliche Perspektiven, die aber eben in den skizzierten Ausprägungen noch nicht mehrheitsfähig zu sein scheinen, was die politischen Entwicklungsmöglichkeiten im Rahmen der bestehenden EU erschwert.