- Man kann die europäische Integration nicht verstehen, ohne das Agenda-Setting und die kontinuierliche Advocacy-Tätigkeit der europäischen Parteien zu berücksichtigen.
Es ist bemerkenswert, wie sehr die europäischen Parteien – politische Parteien auf Ebene der EU – in weiten Teilen der Literatur über die Europäische Union und die europäische Integration übersehen und unterschätzt werden. Gleichzeitig gibt es eine wachsende Zahl von Forscher:innen, die sich mit ihnen und ihren Möglichkeiten befassen, die Entscheidungsfindung in der EU zu beeinflussen. Von Bedeutung sind europäische Parteien nicht zuletzt wegen ihrer weitreichenden, aber oft schwer zu verfolgenden Netzwerke, die sie für politische Zwecke nutzen. Diese Netzwerke verbinden politische Parteien und ihre Anführer:innen, politische Stiftungen, Interessengruppen und sogar einige Basisaktivist:innen in ganz Europa.
Unser Hauptargument ist, dass die europäischen Parteien bei europäischen Entscheidungen einen Unterschied machen. Sie haben sowohl den Verlauf der Integration als auch die regulären Gesetzgebungsverfahren geprägt. Europäische Parteien haben maßgeblich dazu beigetragen, die Kompetenzen der EU zu erweitern und das EU-System in eine stärker supranationale Richtung zu lenken.
Wir plädieren deshalb dafür, die europäischen Parteien stärker als ein eigenständiges Thema zu untersuchen. Um Handlungsfähigkeit und Einfluss ausüben zu können, müssen die europäischen Parteien handlungsfähig sein. Die Vertiefung der Integration, die zu einem großen Teil von den Europarteien selbst initiiert wurde, stellt deshalb einerseits eine enorme Herausforderung für ihren Zusammenhalt und ihre Effizienz dar. Andererseits wird es durch die vertiefte Integration auch immer wichtiger, dass es ein leistungsfähiges Zentrum gibt, das Koordinationsfunktionen übernehmen kann – ein wesentlicher Daseinszweck der europäischen Parteien.
Transnationale Advocacy-Koalitionen
Europäische Parteien können in einem Agendasetting- und Advocacy-Rahmen erforscht werden. Dadurch werden die wesentlichen Triebkräfte für Entscheidungen erfasst, die von der Gestaltung des Diskurses über politische Überzeugungen bis zum Bilden von Koalitionen reichen. Die europäischen Parteien sind kontinuierlich für Advocacy und Agendasetting in wichtigen europäischen Fragen aktiv – wobei im Mittelpunkt ihrer Advocacy-Tätigkeit die Zukunft Europas steht. Zu diesem Rahmen kommt die transnationale parteipolitische Dimension der europäischen Integration hinzu, die wir als einen zentralen Entwicklungsmechanismus der EU betrachten. Die Kombination dieser Ansätze hilft, die europäischen Parteien, ihr Handeln, ihre Beschränkungen und ihren prägenden Einfluss auf die europäische Integration zu verstehen.
Die europäischen Parteien sollten dabei in erster Linie als transnationale parteipolitische Akteure betrachtet werden, die sowohl auf der intergouvernementalen als auch auf der supranationalen Ebene der EU-Politik tätig sind. Der Mehr-Ebenen-Charakter des EU-Systems ermöglicht es, politische Ziele auf mehreren Kanälen voranzutreiben. Advocacy-Koalitionen arbeiten auf vielen Ebenen, um eine kumulative Wirkung zu erzielen. Der transnationale Charakter der europäischen Parteien ist deshalb keine Schwäche, sondern ermöglicht es ihnen, die europäische Politik auf Weisen zu beeinflussen, die in der Öffentlichkeit oft unsichtbar bleiben.
Es ist wichtig festzustellen, dass die europäischen Parteien von einem Regelungsrahmen profitiert haben, der ihre Finanzierung einschließt. Nachdem sie im Vertrag von Maastricht erstmals verfassungsrechtlich anerkannt worden waren, arbeiteten sie zusammen, um die für sie und ihre Finanzierung geltende Verordnung zu schreiben und umzuschreiben. Dies veranschaulicht, wie sich einzelne europäische Parteien oft für eine gemeinsame Sache einsetzen. Insgesamt hat ihnen die Verordnung bei der Stärkung ihrer Organisationsstrukturen und dem Ausbau ihrer Kapazitäten gute Dienste geleistet. Dieser Ausbau ihrer Kapazität war notwendig, um ihnen eine größere „Agency“ zu ermöglichen.
Wie sich die Wirksamkeit europäischer Parteien bewerten lässt
Die Wirksamkeit der europäischen Parteien zu bewerten ist alles andere als einfach, und ihr Einfluss kann sehr unterschiedlich sein. Eine grundlegende Herausforderung für die Erforschung europäischer Parteien besteht darin, dass Parteipolitik beim Regieren auf EU-Ebene zwar allgegenwärtig ist, ihr genauer Einfluss im Vergleich zu anderen Faktoren jedoch nur schwer gemessen werden kann. Für jede Entscheidung, die die europäischen Parteien direkt geprägt haben, gibt es andere Prozesse, bei denen dieser parteipolitische Einfluss schwach oder nur indirekt war. Insgesamt aber kann man die europäische Integration einfach nicht verstehen, ohne das Agenda-Setting und die kontinuierliche Advocacy-Tätigkeit der europäischen Parteien zu berücksichtigen.
Die Europäische Volkspartei (EVP) ist ein gutes Beispiel dafür. Nachdem sie bei den Vertragsreformen in den 1980er und frühen 1990er Jahren ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt hatte, verlor sie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre an Momentum. Die Ausweitung ihrer Mitgliedschaft auf nicht-christdemokratische Mitte-rechts-Parteien führte zu internen weltanschaulichen Spaltungen. Alles in allem konnte die EVP jedoch in entscheidender Weise und durch kollektives Handeln die verfassungsrechtlichen und institutionellen Grundlagen der EU verändern. Und solange sie intern geschlossen ist, sollte die derzeitige Situation – in der die EVP 14 der 27 Kommissionsmitglieder stellen wird und die größte Fraktion im Europäischen Parlament bleibt – ihren Einfluss weiter erhöhen.
Stärke, Kohäsion und institutionelle Rahmenbedingungen sind wichtig
Alle europäischen Parteien haben jedoch auch erhebliche Einschränkungen in ihrer Handlungsfähigkeit, und ihr Einfluss ist immer an Bedingungen geknüpft. Ein kurzer Blick auf diese Bedingungen macht deutlich, dass die Wirksamkeit der europäischen Parteien im Allgemeinen stark von ihrer Präsenz im Europäischen Rat und ihrer relativen zahlenmäßigen Stärke in den EU-Institutionen abhängt. Hinzu kommt ihr interner Zusammenhalt sowie ihre Fähigkeit, ihre Netzwerke aus politischen Parteien und Regierungschef:innen für eine gemeinsame Sache zu mobilisieren. Interne Spaltungen schwächen die Fähigkeit der europäischen Parteien, Positionen zu koordinieren, und verringern somit ihren Einfluss. Wenn sich die nationalen Mitgliedsparteien über grundlegende Werte und Ziele nicht einig sind, ist eine wirksame Mobilisierung der Advocacy-Koalition nur zu erreichen. Die eher allgemeinen und vagen Wahlprogramme der europäischen Parteien für die Europawahl 2024 deuten, nicht zuletzt innerhalb der EVP, auf solche Uneinigkeiten hin.
Wenn es um Vertragsreformen geht, spielt unseren Untersuchungen zufolge als weiterer Faktor auch das Format oder der institutionelle Rahmen des Verfassungsprozesses eine Rolle. Das „Koventsmodell“, das den politischen Familien einen klaren Zugang zu den Beratungen und Verhandlungen bietet, erleichtert den Einfluss der europäischen Parteien. Regierungskonferenzen hingegen sind eher ein Schlachtfeld nationaler Interessen – obwohl es den europäischen Parteien auch hier schon gelungen ist, den Inhalt von Vertragsreformen direkt zu gestalten.
Transnationale, nicht supranationale Akteure
Die europäischen Parteien haben sich also in der Vergangenheit als einflussreich erwiesen und üben auch weiterhin Einfluss aus. Sie haben sowohl jede Runde von Vertragsreformen als auch die alltäglichen Gesetzgebungsverfahren beeinflusst. Sie setzen sich durch Advocacy und Agendasetting kontinuierlich für die EU und die weitere Entwicklung der europäischen Integration ein. Die europäischen Parteien haben ihr institutionelles Umfeld geprägt, werden aber auch von ihm geprägt. Die europäischen Parteien sind handlungsfähig, aber nicht in unbeschränkter Weise.
Unser Argument sollte daher nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass europäische Parteien einen unbedingten und unabhängigen Einfluss auf die europäische Politik hätten. Vielmehr ist ihre Wirkungskraft von Faktoren wie ihrer zahlenmäßigen Stärke und ihrem internen Zusammenhalt abhängig. Wir erkennen an, dass der Einfluss europäischer Parteien sich durch die institutionellen und politischen Rahmenbedingungen jedes Landes unterscheidet. Obwohl die europäischen Parteien unabhängiger geworden sind, sind sie weiterhin von den nationalen Mitgliedsparteien abhängig, insbesondere wenn es um die Verabschiedung von Programmen oder um die Umsetzung von politischen Maßnahmen geht. Die europäischen Parteien sind transnationale, nicht supranationale parteipolitische Akteure. Das spiegelt die Realität wider.
Wege für zukünftige Forschung
Vertiefte Analysen von europäischen politischen Prozessen und der Art und Weise, wie die europäischen Parteien ihre Ergebnisse zu gestalten versucht haben, bieten noch viele Möglichkeiten für neue Erkenntnisse. In diesem Sinn empfehlen wir nachdrücklich die Durchführung von Fallstudien oder vergleichenden Untersuchungen einzelner politischer Prozesse, in der gleichen Weise, wie Wissenschaftler:innen auch die Gesetzgebungsverhandlungen zwischen EU-Institutionen untersucht haben – Verhandlungen, an denen die europäischen Parteien, wenigstens durch ihre Fraktionen im Europäischen Parlament, offensichtlich ebenfalls beteiligt sind.
Besonders nützlich wäre es, dabei die internen Mechanismen der europäischen Parteien genauer zu untersuchen. Natürlich spielen informelle Bindungen und persönliche Kontakte auch in nationalen Parteien eine Rolle, aber innerhalb der europäischen Parteien gewinnen sie aufgrund ihres transnationalen Charakters eine herausragende Bedeutung. Informelle Koordinierung und wiederholte persönliche Interaktionen sind hier von besonderer Relevanz.
Ein Großteil davon findet außerhalb der offiziellen Treffen der europäischen Parteien statt, ist informell, bilateral und oft sogar spontan. Informelle Kontakte werden durch formelle Treffen erleichtert, bei denen Freundschaften geschlossen und Allianzen geschmiedet werden. In den Kaffeepausen der Tagungen des Rates oder des Europäischen Rates werden Meinungen ausgetauscht, und die europäischen Parteien tauschen sich regelmäßig mit „ihren“ Kommissionsmitgliedern aus, sowohl bei formelleren Veranstaltungen als auch informell bei Mittagessen, durch E-Mails oder Telefonate. Es ist dabei nicht möglich zu bestimmen, welchen „Hut“ eine Spitzenpolitiker:in trägt – den nationalen Hut (oder im Falle der Kommissionsmitglieder den der EU) oder den Hut der europäischen Partei –, und letztendlich ist es vielleicht auch nicht so wichtig. Wichtig ist, dass sich die einzelnen Politiker:innen treffen und ihre Positionen koordinieren.
Die Frage der Demokratisierung
Interessant bleibt die Frage, ob und wie die zentralen europäischen Parteien versuchen werden, zu künftigen Vertragsänderungen und zur Demokratisierung der EU selbst beizutragen. In den letzten Jahren waren innerhalb der europäischen Parteien vermehrt Spaltungen zu beobachten, was wiederum zu mehr Zurückhaltung in der Debatte über konstitutionelle Reformen geführt hat – wahrscheinlich weil die Parteien sich nicht in der Lage sahen, eine kohärente Vision für eine solche Reform zu formulieren.
Aus Verfassungssicht sind die europäischen Parteien jedoch nicht nur als ein Faktor für die Integration, sondern auch für die Demokratisierung von zentraler Bedeutung. In beiderlei Hinsicht gibt es noch viel zu tun.
Karl Magnus Johansson war Professor und ist jetzt Affiliate Professor für Politikwissenschaft an der Södertörn-Universität Stockholm. |
Tapio Raunio ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Tampere. |
Dieser Beitrag basiert auf dem von den Autoren verfassten Buch „Transnational Parties and Advocacy in European Integration“, das im Juli 2024 bei Palgrave Macmillan erschienen und im Open Access verfügbar ist. Das Buch analysiert die Rolle der europäischen Parteien bei der Vertiefung der Integration und den Debatten über die Zukunft Europas. |
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