- Auf einem der Türme des Deutschen Bundestags weht seit einiger Zeit eine Europaflagge. Aber macht ihn das schon zu einem „Europaparlament“?
Am Ende sollte es nur ein
Missverständnis gewesen sein, und irgendwie war das für alle
Beteiligten eine beruhigende Vorstellung. Am Montag hatte der
italienische Ministerpräsident Mario Monti (parteilos) im Spiegel
ein Interview gegeben (online nur Englisch), in dem er anmahnte, dass sich die
nationalen Regierungen bei Verhandlungen auf europäischer Ebene
Handlungsfreiheit bewahren sollten. Zwar müsse sich jede Regierung an ihrem Parlament orientieren, aber sie müsse dieses auch „erziehen“. Schließlich habe jedes der 27 Länder ein Parlament und ein Verfassungsgericht, und wenn einige davon jede Einigung des Europäischen Rats im Nachhinein in Frage stellten, käme es dort bald zu überhaupt keinen Entscheidungen mehr. „Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer
Parlamente binden ließen, ohne einen eigenen Verhandlungsspielraum zu
bewahren, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine
engere Integration.“
In der deutschen
Öffentlichkeit führten diese Bemerkungen innerhalb kürzester Zeit
zu einem empörten Aufschrei, an dem sich Politiker fast aller Bundestagsparteien
beteiligten. Besonders schrill war wie
so oft Alexander Dobrindt (CSU/EVP), demzufolge Monti aus „Gier
nach deutschen Steuergeldern“ von den Deutschen verlangte, „zur
Finanzierung der italienischen Schulden unsere Demokratie
abzuschaffen“. Aber auch Norbert Lammert (CDU/EVP), Volker Kauder
(CDU/EVP), Guido Westerwelle (FDP/ELDR), Rainer Brüderle (FDP/ELDR),
Joachim Poß (SPD/SPE) und andere setzten eine Schwächung der
nationalen Parlamente in europapolitischen Fragen mehr oder weniger
eindeutig mit einem Niedergang demokratischer Qualität gleich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) ließ durch einen Sprecher verkünden, „dass wir in Deutschland mit dem
richtigem Maß an Unterstützung durch das Parlament und dem
richtigen Maß an der Beteiligung des Parlaments eigentlich immer gut
gefahren sind“. Und
der ein
oder
andere
Kommentator
wies darauf hin, dass Monti selbst sich niemals einem offenen
Wahlkampf gestellt hat, sondern nur als Chef eines
„Technokratenkabinetts“ ins Amt kam, nachdem die Regierung unter
Silvio Berlusconi (PdL/EVP) unter dem Druck der Finanzmärkte den
Rücktritt hatte einreichen müssen.
Noch
am Montagabend reagierte Monti darauf mit einer Pressemitteilung, in der er erklärte, dass alles nicht so gemeint gewesen sei.
Vielmehr habe er nur für einen „konstanten und systematischen
Dialog“ appellieren wollen, in dem sich die Regierungen ihren
Parlamenten „dynamisch, transparent und effizient“ erklären. Und
da gegen so viele schöne Worte niemand etwas haben kann, war dieses
kleine Zwischenspiel des politischen Sommerlochs damit auch schon
wieder vorbei. Für die deutsch-italienischen Beziehungen mag das
erleichternd sein, aber zugleich ist es auch etwas bedauerlich:
Eigentlich hätte es sich durchaus gelohnt, die Rolle der nationalen
Parlamente in der Europäischen Union einmal etwas gründlicher zu
überdenken.
Das Erbe Margaret Thatchers
Denn
dass Europapolitik über die nationalen Parlamente legitimiert werden
müsse, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Als in den
späten achtziger und frühen neunziger Jahren die Kompetenzen der
Europäischen Union massiv ausgeweitet wurden und sich deshalb auch
die Debatte über eine verbesserte demokratische Legitimation
intensivierte, richtete sich das Augenmerk vielmehr auf eine andere
Institution, nämlich das Europäische Parlament. In den
Maastricht-Verhandlungen setzte sich insbesondere die deutsche
Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU/EVP) dafür ein, dass die
Europaabgeordneten im Rahmen des sogenannten
Mitentscheidungsverfahrens an der EU-Gesetzgebung beteiligt würden.
Je mehr sich die Kompetenzen der EU denen eines Bundesstaates
annäherten, so die deutsche Logik, desto mehr müsse auch ihre
Funktionsweise einem föderalen System entsprechen – und das
verlange eben die Stärkung des von den europäischen Bürgern
gemeinsam gewählten Parlaments.
Auf
eine demokratische Legitimation durch die nationalen Parlamente
hingegen pochte in dieser Zeit nur die britische Premierministerin
Margaret Thatcher (Cons.). In ihrem Verständnis spielte das
Europäische Parlament schlicht keine Rolle, sodass Demokratie
ausschließlich im nationalen Rahmen stattfinden konnte. Legitim
konnten europapolitische Beschlüsse deshalb nur dann sein, wenn sie
auf die nationalen Abgeordneten zurückzuführen waren.
Optimalerweise sollten Thatcher zufolge deshalb alle europäischen
Beschlüsse von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden müssen,
bevor sie in Kraft träten. Auf jeden Fall aber müsse das Vetorecht
im Ministerrat gewahrt bleiben, denn wenn die nationalen Parlamente
schon nicht direkt abstimmten, so sollten sie doch zumindest über
ihre jeweiligen Regierungen die europäischen Beschlüsse fernsteuern
können.
Bekanntlich
musste die radikale Integrationsskeptikerin Thatcher jedoch noch vor
Ende der Maastricht-Verhandlungen zurücktreten. An ihre Stelle trat
der kompromissbereitere John Major, der die Einschränkung der
nationalen Vetorechte ebenso akzeptierte wie die Einführung des
Mitentscheidungsverfahrens. Wenigstens in der Tendenz hatten sich die
föderalistischen Ideen der deutschen Bundesregierung gegenüber dem
britischen Nationalparlamentarismus durchgesetzt.
Einfluss
des Bundesverfassungsgerichts
Doch
in den zwanzig Jahren, die seitdem vergangen sind, scheinen sich die
europapolitischen Koordinaten in Deutschland verschoben zu haben.
Wenn es um die Demokratie in Europa geht, ist vom Europäischen
Parlament hierzulande kaum noch die Rede – während umgekehrt so
mancher Politiker im heutigen Bundestag den Positionen Margaret
Thatchers näher steht, als ihm selbst bewusst ist.
Einen
bedeutenden Einfluss auf diese schleichende Renationalisierung des
deutschen Demokratieverständnisses dürfte das
Bundesverfassungsgericht ausgeübt haben. Dieses erklärte in
mehreren Urteilen, dass nicht etwa die europäische Bevölkerung als
Ganzes, sondern nur die jeweiligen nationalen Staatsvölker der
EU-Mitgliedstaaten die demokratische Legitimation des
Integrationsprozesses böten. Mehr oder weniger eindeutig sprach es
deshalb auch dem Europaparlament die demokratische Qualität ab und
forderte stattdessen immer wieder eine stärkere Mitwirkung des
Bundestags an europapolitischen Angelegenheiten ein. Insbesondere das
Lissabon-Urteil,
in dem das Schlagwort der „Integrationsverantwortung“ des
Bundestags geprägt wurde, forcierte diese Sichtweise. Und auch in
zahlreichen weiteren
Entscheidungen
unterstrich das Gericht, dass die Bundesregierung wichtige
europapolitische Beschlüsse nicht ohne die nationalen Abgeordneten
treffen könne.
Veto-Logik
des Nationalparlamentarismus
In
der deutschen Öffentlichkeit wurden diese Urteile größtenteils
positiv aufgenommen: Schließlich stärkten sie auf den ersten Blick
den direkt gewählten Bundestag gegenüber der nur indirekt
legitimierten Bundesregierung und wirkten damit der
Exekutivlastigkeit der Europapolitik entgegen. Wie viel die Politik
aus den Vorgaben des Verfassungsgerichts gelernt hat, zeigte sich
zuletzt etwa an dem Begleitgesetz zum Euro-Rettungsschirm ESM,
demzufolge der Bundesfinanzminister als deutscher Vertreter im
ESM-Rat Beschlüssen künftig nur dann zustimmen darf, wenn zuvor der
Bundestag dazu seine Zustimmung gegeben hat.
Doch
macht man die Legitimation europapolitischer Entscheidungen allein
vom nationalen Parlament abhängig, so landet man zuletzt bei der
Logik Margaret Thatchers: Selbst die beste Zusammenarbeit zwischen
nationaler Regierung und Parlament ist nichts nütze, wenn die
Regierung hinterher im Ministerrat überstimmt werden kann. Der
Nationalparlamentarismus braucht deshalb zwingend auch ein nationales
Vetorecht in allen wichtigen Fragen – und tatsächlich enthält das
Lissabon-Urteil eine solche Liste „integrationsfester Bereiche“,
in denen es nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht dazu
kommen darf, dass der Bundestag durch Einführung europäischer
Mehrheitsbeschlüsse seine politische Entscheidungsmacht verliert.
Dazu
zählt unter anderem auch die Fiskalpolitik, was nicht zuletzt beim
ESM zu etwas eigentümlichen Konsequenzen führte. So enthält Art. 4
Abs. 4 ESM-Vertrag
ein spezielles Dringlichkeitsverfahren, bei dem das sonst übliche
Einstimmigkeitsprinzip im ESM-Rat durch eine qualifizierte Mehrheit
von 85 Prozent der Stimmen ersetzt wird – wohinter die Idee steht,
dass in einem akuten Notfall nicht einzelne Staaten ein schnelles
Intervenieren des Rettungsschirms verhindern sollen. Allerdings
werden die Stimmen im ESM-Rat nach Kapitalanteilen gewichtet, sodass
Länder mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt mehr zu sagen haben. Für
Deutschland, Frankreich und Italien, deren Kapitalanteil jeweils mehr
als 15 Prozent beträgt, bedeutet dies, dass sie auch im
Dringlichkeitsverfahren ein Vetorecht besitzen. Und es ist gut
möglich, dass das Bundesverfassungsgericht den ESM in seinem Urteil
am kommenden 12. September allein
aus diesem Grund für
grundgesetzkonform erklärt.
Möglich
ist allerdings auch, dass das Verfassungsgericht zuletzt entscheidet,
dass dieses Vetorecht allein nicht genügt. Denn tatsächlich
verliert das deutsche Parlament durch den ESM an fiskalpolitischem
Einfluss: Er kann zwar jeden Beschluss verhindern, aber ausgehandelt
werden
sie von den Regierungen im ESM-Rat, und der Bundestag hat keine
Möglichkeit, hier eigene Alternativvorschläge einzubringen. Und
an dieser Stelle liegt, wie ich schon vor einiger Zeit geschrieben habe, der logische Schlusspunkt
jedes Versuchs, die europäische Politik über die nationalen
Parlamente zu legitimieren: Sie können Europapolitik zwar bremsen,
aber sie können sie nicht selbst gestalten.
Was
nationale Parlamente können – und was nicht
Nationale
Parlamente sind eine großartige demokratische Errungenschaft, wenn
es um Fragen der nationalen Innenpolitik geht. Sie können die
nationale Gesellschaft in ihrer ganzen weltanschaulichen Vielfalt
repräsentieren und ermöglichen doch in der Regel einfache
Mehrheitsentscheidungen, durch die das politische System
handlungsfähig bleibt. Durch die regelmäßigen Wahlen können sie
zudem politische Unzufriedenheit kanalisieren: Wem die Regierung
nicht passt, der wählt das nächste Mal einfach die Opposition.
Sobald
es allerdings um außenpolitische Fragen geht, sind Parlamente sehr
viel weniger geeignet. Der zwischenstaatliche Verkehr erfordert, dass
jedes Land einen einzelnen, klar erkennbaren Vertreter hat, der die
nationalen Interessen definiert – nicht eine Vielzahl von
Abgeordneten mit jeweils unterschiedlichen politischen Zielen und
Vorstellungen. Zudem bedürfen diplomatische Verhandlungen einer
gewissen Vertraulichkeit – während es gerade der Sinn des
Parlaments ist, Themen ans Tageslicht zu zerren und öffentlich
darüber zu diskutieren. Und zuletzt entfällt in der
zwischenstaatlichen Kompromisssuche auch noch die größte Stärke
eines Parlaments, nämlich die Konkurrenz zwischen Regierung und
Opposition vor demselben Wahlvolk – schließlich sind die
Parlamentarier jedes Landes nur vor der eigenen Bevölkerung
verantwortlich, nicht vor derjenigen der anderen Länder. Nicht
zufällig gilt die Außenpolitik deshalb traditionell als ein
Kernbereich der Exekutive, in dem das Parlament die Regierung nur
kontrolliert, aber nicht selbst in Aktion tritt.
Diese
Aufgabenteilung stammt freilich aus einer Zeit, in der die
Außenpolitik nur einen recht engen Themenkreis umfasste: die
Beziehungen zu fremden Ländern, die Regelung des Fernhandels, ab und
zu eine diplomatische Krise, aber nichts, was das Alltagsleben der
Menschen allzu sehr betroffen hätte. Durch die fortschreitende
Integration in Europa (und zunehmend auch auf globaler Ebene) hat
sich das inzwischen grundlegend geändert; und seitdem ein Großteil
der geltenden Gesetze nicht mehr auf nationaler, sondern europäischer
Ebene beschlossen wird, entspricht eine rein von den Regierungen
gestaltete Europapolitik mit Sicherheit nicht mehr den Anforderungen
eines demokratischen Systems.
Europäische
Innenpolitik: Sache des Europäischen Parlaments
Dass
die Aufgabenteilung zwischen nationaler Regierung und nationalem
Parlament nicht mehr so einfach ist wie in vergangener Zeit, bedeutet
jedoch nicht, dass die nationalen Parlamente jetzt besser als früher
mit Themen umgehen könnten, die jenseits der nationalen Innenpolitik
liegen. Sie sind dafür noch immer zu groß, zu pluralistisch, zu
schwerfällig – und es ist auch nicht abzusehen, wie sich daran in
absehbarer Zeit etwas ändern sollte.
Wenn
man deshalb die europäische Politik demokratisieren will, ohne ihr
die Handlungsfähigkeit zu nehmen, dann führt der einzige Weg über
die Stärkung des Europäischen Parlaments. Mario Monti hat
vollkommen Recht damit, dass eine EU, die in allen wichtigen
Fragen jedem nationalen Parlament ein Vetorecht zugesteht, in einer
Dauerblockade enden und sich irgendwann selbst zerlegen wird. Aber natürlich folgt daraus nicht, dass man alle Macht den Regierungschefs im Europäischen Rat übertragen müsste. Wenn man die europäische Integration nicht mehr als Außenpolitik
der Mitgliedstaaten, sondern als europäische Innenpolitik versteht,
dann gibt es keinen Grund, weshalb nicht das Europäische Parlament
für die inneren Angelegenheiten der EU dieselbe Funktion übernehmen
sollte wie der Bundestag für die inneren Angelegenheiten
Deutschlands oder die Camera
dei Diputati für
Italien.
Vor
kaum zwanzig Jahren wäre eine solche Feststellung von allen Parteien
im Bundestag als Selbstverständlichkeit angesehen worden.
Bild: By Anitakernwein (Own work) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.
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