Europa
solle „in großen Dingen größer und in kleinen Dingen kleiner“
werden: Keinen Slogan hat Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) als
Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei vor der Europawahl 2014
so häufig wiederholt wie diesen. Welches Thema aber könnte
politisch „größer“ sein als die Frage nach Krieg und Frieden?
Die EVP jedenfalls sprach sich schon in
ihrem Europawahlprogramm für die Einrichtung von
„Eingreiftruppen unter EU-Kommando“ aus, und auch
Sozialdemokraten und Liberale forderten eine „engere Zusammenarbeit
bei der Verteidigung“ bzw. eine „bessere Zusammenlegung und
gemeinsame Nutzung der bestehenden Kapazitäten“.
Junckers
Vorstoß
Im
Wahlkampf spielte das Thema freilich kaum eine Rolle – nun aber hat
es sich innerhalb weniger Tage auf der politischen Agenda weit nach
vorne gedrängt. Ende Februar legte das Centre of European Policy
Studies, ein Brüsseler Thinktank, eine unter Leitung des früheren
EU-Außenbeauftragten Javier Solana (PSOE/SPE) erarbeitete Studie
vor, die die Vorteile einer „Europäischen Verteidigungsunion“
beschreibt und Vorschläge zu deren Umsetzung macht. Am vergangenen
Wochenende lancierte Juncker daraufhin in
der Welt am Sonntag die
Forderung nach einer europäischen Armee.
Vor
allem in Deutschland stieß dieser Vorstoß auf vielfältige
Unterstützung; selbst die sonst eher zurückhaltende Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU/EVP) sprach sich für
die Idee aus. Andere Regierungen hingegen zeigen sich
skeptischer: Während Großbritannien betont, dass die
Verteidigungspolitik eine nationale Aufgabe sei, warnen Lettland
und Polen vor Doppelstrukturen
zwischen EU und NATO. Die drei Benelux-Staaten wiederum gehen
schon einmal mit gutem Beispiel voran und unterzeichneten vergangene
Woche ein Abkommen
zur gemeinsamen Verteidigung ihrer nationalen Lufträume. Mehr
als sechzig Jahre nach dem Scheitern der Europäischen
Verteidigungsgemeinschaft (EVG) ist das Thema aktueller denn je.
Für
viele europäische Föderalisten handelt es sich bei der Idee einer
EU-Armee aber nicht nur um eine militärische Frage. Schon die EVG
sollte 1952 indirekt dem Aufbau einer Europäischen
Politischen Gemeinschaft dienen; und erst im vergangenen November
erklärte ein Beschluss
der föderalistischen Europa-Union Deutschland, die
Verteidigungsunion sei „gleichzeitig Kern und Katalysator einer
Politischen Union“. Auch der Ökonom Thomas Straubhaar nannte
die EU-Armee jüngst „ein für alle erkennbares konkretes
Projekt, das gemeinsamen europäischen Werten und Interessen dient“
und dadurch „die gemeinsame EU-Identität“ voranbringen könnte.
Ein Relaunch des europäischen Einigungsprojekts auf
verteidigungspolitischer Grundlage: Kann das gutgehen?
Was
für eine EU-Armee spricht
Auf
den ersten Blick gibt es einige sehr einleuchtende Gründe, die
verteidigungspolitische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene
auszubauen. Man darf wohl getrost ausschließen, dass die
EU-Mitgliedstaaten jemals
wieder Krieg gegeneinander führen werden; und der EU-Vertrag
enthält in Art. 42
Abs. 7 schon heute eine militärische Beistandsklausel, die
kaum hinter Art. 5 des NATO-Vertrags
zurückbleibt. Warum also noch national getrennte Truppensysteme
aufrechterhalten?
Hinzu
kommt, dass die Summe aller europäischer Truppen mit rund 1,5
Millionen Soldaten zwar sogar die der US-Streitkräfte übersteigt,
jeder einzelne EU-Mitgliedstaat aber nur eine verhältnismäßig
kleine Armee unterhält. Das führt zu ineffizienten
Mehrfachstrukturen: Würde man durch eine gemeinsame europäische
Armee Skaleneffekte besser nutzen, könnte man sich so manches teure
nationale Rüstungsprojekt sparen – und trotzdem an globalem
Einfluss gewinnen.
Und
schließlich, so dürfte manchem
gewitzten Europafreund durch den Kopf gehen, hat das Ziel einer
Verteidigungsunion auch erfreulich wenig mit währungspolitischen
Fragen zu tun. Nach sieben Jahren Finanz- und Wirtschaftskrise hat
sich in der europäischen Bevölkerung eine Menge Frust über das
europäische Integrationsprojekt angesammelt. Um den zu überwinden,
käme ein neues, leicht verständliches und eindrucksvolles
Leuchtturmprojekt wie die EU-Armee gerade recht.
Die
beschäftigungslosen EU-Battlegroups
Betrachtet
man die bisherige Erfahrung mit der verteidigungspolitischen
Zusammenarbeit im EU-Rahmen, findet man allerdings auch schnell
einige Gegenargumente. So gibt es schon seit 2005 die sogenannten
EU-Battlegroups
– direkt dem EU-Ministerrat unterstellte Kontingente, die nach
einem halbjährigen Rotationsverfahren von jeweils unterschiedlichen
Mitgliedstaaten (oder Gruppen von Mitgliedstaaten) gestellt werden.
Die Idee dahinter war, über eine schnelle Eingreiftruppe zu
verfügen, mit der die EU jederzeit auf internationale Krisen
reagieren könnte.
Tatsächlich
wurden die Battlegroups in den zehn Jahren ihrer Existenz jedoch kein
einziges Mal eingesetzt. Grund dafür ist das strikte
Einstimmigkeitsprinzip, dem die gemeinsame Verteidigungspolitik bis
heute unterliegt: Nach Art. 42
Abs. 4 EUV können Beschlüsse in diesem Bereich nur
getroffen werden, wenn alle nationalen Regierungen im Ministerrat
zustimmen. Und zuletzt sind die sicherheitspolitischen Vorstellungen
der Mitgliedstaaten meist schlicht zu unterschiedlich, um sich
tatsächlich zu einem solchen gemeinsamen Vorgehen aufzuraffen.
Unterschiedliche
außenpolitische Prioritäten
Dies
liegt zum einen an den unterschiedlichen außenpolitischen
Prioritäten in den einzelnen Ländern. So unterhalten die ehemaligen
Kolonialmächte in Westeuropa bis heute schon aus sprachlichen
Gründen oft enge Beziehungen zu ihren früheren Kolonien in Afrika
oder Südamerika, die südeuropäischen Staaten interessieren sich
besonders für ihre nordafrikanischen Nachbarn auf der anderen Seite
des Mittelmeers, und die ost- und mitteleuropäischen Länder haben
oft ein spezielles Augenmerk auf die Entwicklungen im ehemals
sowjetischen Raum.
Wie
stark diese unterschiedlichen außenpolitischen Ausrichtungen auch
die öffentliche Debatte in den einzelnen Ländern beeinflussen,
lässt sich auch in diesen Wochen gerade wieder recht eindrucksvoll
beobachten: Während etwa die deutschen Medien derzeit über keine
andere außenpolitische Frage so intensiv berichten wie über die
Kämpfe in der Ukraine, ist das wichtigste Thema in Italien der
Bürgerkrieg in Libyen, wo die Milizen der Terrororganisation IS
inzwischen große Teile des Territoriums kontrollieren. Mitte Februar
regte die italienische Verteidigungsministerin Roberta Pinotti
(PD/SPE) sogar einen
internationalen Militäreinsatz in Libyen an – was die meisten
deutschsprachigen Zeitungen jedoch bestenfalls am Rande erwähnten.
Unterschiedliche
Interventionsbereitschaft
Zum
anderen unterscheidet sich aber auch der Grad an
Interventionsbereitschaft in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten.
Während sich etwa Frankreich und Großbritannien bis heute oft in
der Verantwortung sehen, wenn es international zu bewaffneten
Auseinandersetzungen kommt, schlug das einst so aggressive
Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg einen Kurs größter
militärischer Zurückhaltung ein.
Unvergessen
ist bis heute der Streit
über den Irakkrieg 2003, bei dem eine „Koalition der Willigen“
um Großbritannien, Spanien, Polen und Italien an der Seite der USA
auf ein militärisches Vorgehen drängte, während Frankreich,
Deutschland und Belgien diese vehement ablehnten. Aber auch die
deutsche Nichtbeteiligung an der internationalen
Intervention in Libyen 2011 löste in vielen anderen
Mitgliedstaaten einige Irritationen aus.
Die
Sache mit dem Parlamentsvorbehalt
Es
liegt auf der Hand, dass diese Unterschiede zwischen den
Mitgliedstaaten den Aufbau einer europäischen Armee alles andere als
erleichtern werden. Denn wenn über deren Einsatz weiterhin immer nur
einstimmig entschieden werden sollte, werden die
interventionsbereiteren Länder eine permanente Blockade fürchten –
und deshalb kaum darauf verzichten wollen, zusätzlich auch noch voll
einsatzfähige eigene nationale Streitkräfte zu unterhalten. Der
Einspareffekt wäre dahin, und die europäische Armee so sinnlos wie
die heutigen Battlegroups.
Wenn
man umgekehrt jedoch das Einstimmigkeitsprinzip fallen lässt,
müssten sich die militärisch zurückhaltenderen Staaten darauf
einstellen, dass über den Einsatz ihrer Soldaten künftig nicht mehr
im nationalen Parlament, sondern per Mehrheitsbeschluss in Brüssel
entschieden wird. Selbst wenn man die naheliegende Konsequenz zieht
und die europäische Armee nicht dem Ministerrat, sondern dem
Europäischen Parlament unterstellt, dürfte das in
vielen Mitgliedstaaten nicht
ohne einen
gewaltigen verfassungspolitischen
Aufwand möglich sein.
Um
nur ein Beispiel zu nennen: Das
deutsche Bundesverfassungsgericht erklärte 2009
in
seinem Lissabon-Urteil
(Rn. 254f.)
den „konstitutive[n] Parlamentsvorbehalt
für den Auslandseinsatz der Bundeswehr“ zu
einem Teil des
„integrationsfesten“
Kerns der deutschen
Souveränität; „eine
Supranationalisierung mit Anwendungsvorrang im Hinblick auf den
konkreten Einsatz deutscher Streitkräfte“ ist
„nicht zulässig“.
Konkret bedeutet das: Für
eine europäische Armee,
über deren Einsatz nicht
der Bundestag, sondern das
Europäische Parlament
entscheidet,
wäre nicht nur eine
Reform des EU-Vertrags
notwendig – sondern auch
ein neues
deutsches
Grundgesetz.
Ist
die EU-Armee wenigstens eine gute Utopie?
Aber
gut: Wie die Eurokrise schon gezeigt hat, führt letztlich wohl
ohnehin
kein Weg an einem neuen deutschen Grundgesetz vorbei, wenn man es
mit der europäischen Integration ernst meint. Und selbst die größten
Befürworter europäischer Streitkräfte sehen diese ja vor allem als
ein Zukunftsprojekt, das helfen könnte, um wieder den politischen
Willen zu neuen Schritten auf dem Weg zu einer politischen Union zu
mobilisieren. Ist die EU-Armee also wenigstens eine
gute und wünschenswerte Utopie?
Offen
gesagt: Ich habe meine Zweifel – und zwar nicht unbedingt an dem
Projekt an sich, sondern an dem Narrativ, das ihm zugrunde liegt. Wie
ich auf diesem Blog vor
einiger Zeit einmal geschrieben habe, lässt sich der höhere
Sinn der europäischen Integration mit ganz unterschiedlichen
Erzählungen begründen, wobei jede dieser Erzählungen mit ihren
eigenen politischen Implikationen verbunden ist.
Wer die EU-Armee in den Mittelpunkt der politischen Union stellen will, begründet dies in aller Regel mit dem
Narrativ der europäischen Selbstbehauptung: In einer globalisierten
Welt, in der Großmächte wie die USA, Russland und China sowie
Aufsteiger wie Indien und Brasilien miteinander um Einfluss ringen,
können die europäischen Staaten sich nur noch gemeinsam Gehör
verschaffen. Diesem Argument liegt jedoch die implizite Annahme
zugrunde, dass die EU-Staaten ihre Werte und Interessen in einem Machtkampf gegen den Rest der Welt durchsetzen müssten. Um die Europäer
auf dieser Grundlage zu vereinen, ist immer irgendein externer
Gegenspieler nötig. Während das Narrativ der europäischen
Selbstbehauptung also einen Grund für mehr europäische Integration
liefert, zerstört es zugleich die Argumentationsbasis, um eine solche
Integration auch auf globaler Ebene zu erreichen.
Demokratie
statt Selbstbehauptung
Kann das wirklich unser Ziel sein? Ich
selbst jedenfalls will die europäische Integration aus einem anderen Motiv: Sie dient für mich dem Zweck, den
Wunsch nach offenen Grenzen mit dem Wunsch nach kollektiver
Selbstbestimmung zu versöhnen. Dieses Argument mag etwas
komplexer sein als die Warnung vor der russischen, chinesischen oder islamistischen
Gefahr. Letztlich halte ich es als Begründung für den Ausbau
einer supranationalen Union aber für überzeugender, weil es nicht
an Furcht und Abgrenzung nach außen appelliert, sondern an die viel grundsätzlicheren
Werte der Freiheit und der Demokratie.
Unter
dem Blickwinkel einer supranationalen Demokratie aber scheint mir die
europäische Armee nur ein sekundäres Vorhaben zu sein: eines, das
gewiss seine Vorteile hätte, aber jedenfalls nicht der Kern des
Integrationsprojekts sein kann. Wem daran gelegen ist, die
europäischen Streitkräfte zu vereinen, der mag sich deshalb gerne
an die nötige Arbeit machen. Aber dass sie der „Katalysator einer
politischen Union“ wird – das kann und sollte man von der
EU-Armee nicht erwarten.
Bild: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.
Lieber Manuel,
AntwortenLöschenvielen Dank für diesen äußerst relevanten Artikel. Ich glaube, dass die Idee mit dem Machtkampf, in dem Werte durchgesetzt werden, nicht weit hergeholt ist. Russland ist nicht gerade vertrauenerweckend unter Putin, und all die Abrüstung in Europa hat nicht dazu geführt, dass es friedlich geworden wäre. Die Ukraine ist ein Beispiel, die Debatten über die Staatlichkeit der baltischen Länder ein weiteres. Unser größter Verbündeter, die USA, neigt auch dazu, die humanitären Werte oft zur Dispositionsmasse zu machen. Wenn wir eine europäische Armee hätten, könnten die Amerikaner nicht mmer sicher sein, ein paar europäische Staaten auf ihrer Seite zu haben, wenn sie etwa im Irak einfallen oder, wie etliche Republikaner fordern, den Iran anzugreifen. Wären wir nicht immer von den USA abhängig, könnten wir uns auch viel besser gegen ihre Spionage und die Sonderrechte ihrer Geheimdienste wehren, sie könnten ja nicht mehr sagen "denkt dran, ihr braucht uns". China wirkt auch nicht gerade vertrauenerweckend und lehnt die Menschenrechte ab, daher wäre es blöd, wenn China einzelne europäische Staaten dazu brächte, still zu sein, wenn es sich irgendwelche japanischen Inseln oder indischen Territorien holt. Der Machtkampf ist also real.
Freilich würde ein Zusammenschluss auch auf der Basis der Abgrenzung von Staaten, die es mit humanitären Werten nicht so eng sehen, den Weltföderalismus behindern, aber solange die Mehrheit der Staaten von Schwerverbrechern beherrscht wird, die sich um Werte einen feuchten Kehricht scheren, ist Weltföderalismus sowieso nicht möglich. Um eine Situation zu haben, in der er möglich ist, braucht es eine starke Stimme für die Menschenrechte und Demokratie, die nicht selbst ständig ihre eigenen Regeln verletzt, wie es die Führungsmacht der freien Welt tut.
Das könnten wir sein.
Viele Grüße
Ludger