13 August 2022

Wird das ukrainische Momentum helfen, die festgefahrene EU-Erweiterungspolitik wieder voranzubringen?

Von Oliver Schwarz
Der ukrainische Präsident Volodimir Zelenskiy neben einer EU-Flagge während einer Plenarsitzung des ukrainischen Parlaments
„Die Bewerbung der Ukraine hat die EU daran erinnert, dass die Erweiterung ein politisches Projekt ist. Aber auf dem Westbalkan befindet sie sich kurz vor dem völligen Stillstand.“

Suchen Sie nach Gründen, hinsichtlich der Erweiterungspolitik der Europäischen Union hoffnungsvoll gestimmt zu sein? Dann habe ich hier eine dieser klassischen Gute-Nachricht-schlechte-Nachricht-Botschaften für Sie.

Die gute Nachricht zuerst: Der Beitrittsantrag der Ukraine hat der EU-Erweiterung neuen Schwung verliehen. Nur wenige Tage nach dem Angriff Russlands hat die Ukraine einen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt. Die Reaktionen der Kommission und des Parlaments auf diesen Antrag waren sehr positiv und unterstützend. Auch viele Staats- und Regierungschef:innen haben der Ukraine ihre Unterstützung zugesagt. Einige andere waren zurückhaltender und wiesen darauf hin, dass der Beitritt ein langwieriger und schwieriger Prozess sein würde.

Am 17. Juni legte die Kommission ihre Stellungnahme zum Beitrittsantrag der Ukraine (sowie zu den Anträgen Georgiens und der Republik Moldau) vor. Die Botschaft war eindeutig: Die Kommission befürwortet die EU-Mitgliedschaft der Ukraine. Und tatsächlich: Bei der Sitzung des Europäischen Rates am 23. und 24. Juni erkannten die 27 Mitgliedstaaten dem kriegsgebeutelten Land den Kandidatenstatus zu. Die Republik Moldau erhielt ebenfalls den Kandidatenstatus; zudem wurde Georgien eine europäische Perspektive eingeräumt.

Ein politisches Projekt

Die Bewerbung der Ukraine hat die EU daran erinnert, dass die Erweiterung ein politisches Projekt war und ist. Griechenland, Portugal und Spanien traten der EU bei, um die Demokratie in diesen Ländern zu festigen. Die Osterweiterung fand statt, um die historische Teilung des europäischen Kontinents zu überwinden. Im Falle Bulgariens und Rumäniens war die EU bereit, die Kosten für die unzureichende Beitrittsfähigkeit zu tragen und etablierte das Kooperations- und Kontrollverfahren, ein verhältnismäßig intelligentes Instrument.

Der Kandidatenstatus für die Ukraine ist zweifelsohne ein politisches Signal nicht nur an Kyjiw, sondern auch an Moskau. Der Weg vom Bewerber zum Kandidaten dauert normalerweise Jahre, aber die russische Aggression hat den Prozess eindrucksvoll beschleunigt. So sollte eine geopolitische Union aussehen.

Die Erweiterungspolitik ist kurz vor dem Stillstand

Landkarte mit EU-Kandidatenländern
EU-Beitrittskandidaten.

So viel zu den guten Nachrichten. Nun zu den schlechten: Die EU-Erweiterung befindet sich kurz vor dem völligen Stillstand. In den letzten zehn Jahren ist es der EU nicht gelungen, die systematische Autokratisierung der Türkei unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu stoppen. Im gleichen Zeitraum hat der serbische Präsident Aleksandar Vučić den demokratischen Status des Landes von einer „semikonsolidierten Demokratie“ zu einem „Hybridregime“ verschlechtert. In Montenegro haben die Wähler:innen Präsident Milo Đukanović’ Partei zwischenzeitlich in die Opposition geschickt. Aber auch hier hat die EU jahrelang die Etablierung einer Stabilitokratie geduldet.

Doch die EU-Erweiterung zeigt sich nicht nur unfähig, mit autoritären Politiker:innen und demokratischen Rückschritten umzugehen. In Bosnien und Herzegowina ist es der EU bisher nicht gelungen, einen grundlegenden Interessenausgleich zwischen den drei ethnischen Gruppen des Landes – Bosniak:innen, Kroat:innen und Serb:innen – zu erreichen. Infolgedessen erweist sich das Dayton-Abkommen nach wie vor als dysfunktional. In der Zwischenzeit warten die Menschen in Kosovo immer noch auf die Erfüllung des europäischen Versprechens des visafreien Reisens. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass fünf EU-Mitglieder die Unabhängigkeit des Landes noch immer nicht anerkannt haben.

Das größte Debakel erlitt die EU in letzter Zeit jedoch mit Nordmazedonien. Das Land ist seit mehr als 16 Jahren ein Beitrittskandidat. Schon 2009 hat die Kommission die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Skopje empfohlen. Die Aufnahme von Beitrittsgesprächen wurde zunächst wegen des Namensstreits mit Griechenland blockiert. Doch als dieser Streit schließlich 2018 durch das Prespa-Abkommen beigelegt wurde, das zweifellos als historisch zu bezeichnen ist, begann Bulgarien, den Beitrittsprozess aus nationalistischen und geschichtsrevisionistischen Gründen zu blockieren. Da Brüssel beschlossen hatte, den Beitrittsprozess Nordmazedoniens mit dem Albaniens zu verknüpfen, lag damit zugleich die europäische Perspektive Tiranas auf Eis. Glaubwürdigkeit sieht anders aus.

Eine politische Bankrotterklärung

Die Staats- und Regierungschef:innen der westlichen Balkanländer, die auch am Juni-Gipfel des Europäischen Rats teilnahmen, begrüßten zwar den beschleunigten Prozess für die Ukraine, kritisierten aber auch sehr deutlich den Stillstand ihrer Länder und hofften auf schnelle und sichtbare Fortschritte. In dieser Hinsicht hat der Europäische Rat jedoch völlig versagt. Weder wurde Bosnien und Herzegowina der Kandidatenstatus zuerkannt, noch erhielt Kosovo die Visafreiheit. Auch die Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien wurden erst Wochen später eröffnet, nachdem der so genannte französische Vorschlag ein wenig Bewegung in den bulgarisch-mazedonischen Konflikt gebracht hatte.

Alles in allem ist das nicht nur enttäuschend, sondern eine politische Bankrotterklärung für die EU-Erweiterung. Die Ukraine ist ein gutes Beispiel dafür, was die europäische Beitrittsperspektive in Drittstaaten positiv zu bewirken vermag. Diese Wirkung wird jedoch verpuffen, wenn die europäische Beitrittsperspektive zu einem leeren Versprechen ohne nennenswerte Fortschritte wird. Dies zeigt sich eindrucksvoll in den Ländern des westlichen Balkans. Die EU-Erweiterung braucht eine ernsthafte Wiederbelebung.

Vorschläge zur Überarbeitung des Beitrittsprozesses

Über die letzten Jahre hinweg haben einzelne Expert:innen, Forschungsinstitute, Denkfabriken und Nichtregierungsorganisationen zahlreiche konkrete Vorschläge zur Überarbeitung und Verbesserung des Beitrittsprozesses unterbreitet. Ein Beispiel ist der ehemalige Europaabgeordnete Andrew Duff, der sich seit Jahren für eine Form der assoziierten Mitgliedschaft einsetzt. Erwähnenswert ist auch das Non-Paper des österreichischen Außenministers Alexander Schallenberg und der Europaministerin Karoline Edtstadler. Darin schlagen sie zum Beispiel eine mögliche Integration in den Binnenmarkt, die Beteiligung an EU-Bildungs- und Förderprogrammen sowie die Teilnahme an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vor.

Generell scheint sich allmählich die Einsicht durchzusetzen, dass das alte europäische Mantra „alles teilen, nur nicht die Institutionen“ nicht mehr zeitgemäß ist. So erklärte Christoph Heusgen, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, kürzlich in einem Interview, dass die westlichen Balkanstaaten so schnell wie möglich an den Sitzungen des Rates und des Europäischen Rates teilnehmen sollten.

Andere Vorschläge scheinen wiederum eher darauf abzuzielen, die Beitrittskandidaten draußen zu halten, als sie hereinzuholen. Dies gilt sicherlich für den Vorschlag einer Europäischen Politischen Gemeinschaft, den der französische Präsident Emmanuel Macron unterbreitet hat. Zudem hat der politische Druck aus Frankreich in letzter Zeit dazu geführt, dass die Einmischung der Mitgliedstaaten in die Erweiterungspolitik eher zu- als abnimmt. So wurden mit der neuen Methodik beispielsweise qualifizierte Mehrheitsentscheidungen eingeführt – jedoch nicht um den Beitrittsprozess zu beschleunigen, sondern um die negative Konditionalität zu verstärken und damit den Prozess weiter zu verlangsamen. Man möchte daher den Entscheidungsträger:innen zurufen: How dare you!

Der Vorschlag eines stufenweisen Beitritts

Dennoch: Es liegen hervorragende Reformideen auf dem Tisch. Der derzeit ausgefeilteste Vorschlag ist der eines stufenweisen Beitritts, der vom Belgrader European Policy Centre (CEP) und dem Centre for European Policy Studies (CEPS) vorgelegt wurde. Die Autor:innen schlagen einen progressiven, bedingten und gestaffelten Beitrittsprozess vor. Während das Endziel die „konventionelle Mitgliedschaft“ in der EU bleibt, wird eine neue Kategorie von „neuen Mitgliedstaaten“ vorgeschlagen.

Diese neu beitretenden Staaten würden direkt in europäische Politikmaßnahmen integriert und hätten die Möglichkeit, dem Schengen-Raum und der Eurozone zu Standardbedingungen beizutreten. Gleichzeitig zielt der Vorschlag auf eine maximale Integration in die EU-Institutionen ab, mit einigen Ausnahmen für die Kommission und den Rat. Um institutionelle Probleme zu vermeiden, hätten die neuen Mitgliedstaaten im Rat kein Vetorecht, sondern würden nur an qualifizierten Mehrheitsentscheidungen teilnehmen.

Vielfältige Vorteile

Die vorgeschlagene Reform ist fortschrittlich. Sie würde die EU-Erweiterungspolitik tatsächlich neu überdenken. Für jedes Organ wären spezifische Regelungen erforderlich, wobei die Kommission und der Rat die politisch sensibelsten sind. Einige dieser Regelungen erfordern Vertragsänderungen. Nichtsdestoweniger sollte das vorgeschlagene Modell eines stufenweisen Beitritts gründlich geprüft werden.

Seine möglichen Vorteile sind vielfältig: Eine stärkere Beteiligung der Beitrittskandidaten an der EU könnte unter ihnen ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl schaffen. Ihre Einbindung in Entscheidungsprozesse könnte zu einer stärkeren Auseinandersetzung mit den Normen und Werten der EU führen. Allgemeine Lernprozesse würden ausgelöst und identitätsstiftende Entwicklungen noch vor dem Vollbeitritt zur EU gefördert. Eine frühzeitige Integration könnte auch zu einer verstärkten gegenseitigen Kommunikation und damit zu einer frühzeitigen Etablierung einer europaweiten politischen Öffentlichkeit führen. Und schließlich könnten sich die Bürger:innen der Beitrittsländer als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft begreifen und dadurch stärker mit ihr identifizieren.

Keine Kompromisse bei der Rechtsstaatlichkeit

Die Umsetzung würde allerdings erfordern, dass die EU die Verantwortlichen für unzureichende Reformen und demokratische Rückschritte deutlicher benennt, anprangert und schließlich auch sanktioniert. Politiker wie Milorad Dodik oder Aleksandar Vučić müssen Farbe bekennen: demokratische pro-europäische Reformen oder autoritäres Pendeln zwischen Russland und China.

Es darf keine Kompromisse geben, wenn es um die Achtung der Rechtsstaatlichkeit geht – nicht für die alten Mitgliedstaaten, nicht für die neuen und nicht für jene Drittländer, die Mitglied der EU werden möchten. Leider gibt es im Fall von Polen und Ungarn bisher keinerlei Anzeichen dafür, dass die EU bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen.

Scheitert die EU auf dem Westbalkan, wird sie es auch in der Ukraine

Neben dem Prinzip der demokratischen Konditionalität muss der Grundgedanke der EU-Erweiterung eine möglichst frühzeitige und umfassende Unterstützung der beitrittswilligen Staaten sein. Die notwendigen Instrumente sind alle vorhanden oder können bereitgestellt werden. Leider scheint es jedoch am politischen Willen zu fehlen, sie zu nutzen oder umzusetzen.

Im eigenen Interesse der EU kann man nur hoffen, dass das ukrainische Momentum dazu beiträgt, die ins Stocken geratene EU-Erweiterungspolitik neu zu dynamisieren. Wenn die EU auf dem westlichen Balkan scheitert, wird sie auch in der Ukraine scheitern. Ein weiteres Durchwursteln wird nicht die viel zitierte europäische „Zeitenwende“ bringen, sondern nur Akteuren wie Russland und China weiter die Tür öffnen.

Porträt Oliver Schwarz

Oliver Schwarz ist Politikwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen (UDE). Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der europäischen Integration und Europapolitik.

Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Volodimir Zelenskiy: President.gov.ua [CC BY 4.0], via Wikimedia Commons; Karte EU-Beitrittskandidaten: Manuel Müller, erstellt mit MapChart [CC BY-SA 4.0]; Porträt Oliver Schwarz: private [all rights reserved].

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