30 August 2022

Immer engere Union? Warum manche Krisen zu mehr und andere zu weniger Europa führen – und was das für die Reaktion der EU auf den Ukraine-Krieg bedeutet

Von Lucas Schramm
Gasfackel einer Förderplattform
Damit die Energiekrise die EU nicht spaltet, sind europäische Solidarität und mutiges politisches Handeln nötig.

Der russische Krieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf die europäische Sicherheit und Energieversorgung haben wieder einmal öffentliche und akademische Debatten darüber ausgelöst, wie sich Krisen auf den europäischen Integrationsprozess auswirken. Jean Monnet, der Gründervater der ersten politischen Institutionen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, war bekanntlich der Ansicht, dass „Europa durch Krisen errichtet“ werde und „die Summe ihrer Lösungen“ sei.

Geht es nach Europa-Enthusiast:innen und Wissenschaftler:innen der neo-funktionalistischen Schule, sollte aus dieser Annahme eine immer engere Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, eine europäische Föderation oder zumindest ein staatsähnliches europäisches Gemeinwesen folgen. Krisen, so die Idee, sollen drängende Probleme und Unzulänglichkeiten der bestehenden Strukturen aufzeigen, auf die es nur auf europäischer Ebene adäquate Antworten geben kann.

Nicht immer findet Europa eine gemeinsame Antwort

Betrachtet man die Geschichte der europäischen Integrationskrisen und ihre Ergebnisse jedoch näher, so zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede. Nehmen wir zum Beispiel die Ölkrise von 1973, in der die Organisation der arabischen Erdöl exportierenden Staaten (OAPEC) als Reaktion auf die europäische Unterstützung für Israel im Jom-Kippur-Krieg die Produktion und Lieferung von Öl an die westliche Welt, einschließlich der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), drastisch reduzierte.

Die OAPEC verstand es, die EWG-Mitgliedstaaten zu spalten: Während Frankreich und das Vereinigte Königreich als „befreundete Länder“ kaum unter Energieknappheit litten, waren die Niederlande das einzige Mitgliedsland, das ein vollständiges arabisches Ölembargo erlebte. Ungeachtet der Forderungen der Europäischen Kommission nach einem solidarischen Energie-Verteilmechanismus schränkten die nationalen Regierungen Energieexporte ein und handelten jeweils für sich selbst mit den OAPEC-Ländern günstige Ölverträge aus.

Eine gemeinsame europäische Krisenreaktion blieb aus – auch auf der von den Vereinigten Staaten geleiteten Washingtoner Energiekonferenz im Februar 1974. Die Konferenz ebnete den Weg für die Gründung der Internationalen Energieagentur, an der sich jedoch nicht alle EWG-Mitgliedstaaten beteiligten.

Manche Krisen führen zu mehr Integration, andere zu weniger

Die Ölkrise von 1973 führte also nicht zu mehr Europa. Im Gegenteil, einseitige nationale Maßnahmen und die offene Unterwanderung der Autorität der Kommission waren Zeichen einer europäischen Desintegration, sowohl in Bezug auf den gemeinsamen europäischen Markt als auch auf frühere Pläne zur Schaffung einer gemeinsamen Energiepolitik. Bemerkenswerterweise spiegeln die meisten Konzepte und Theorien der europäischen Integration solche desintegrativen Tendenzen jedoch nicht angemessen wider, da sie von einem rechtlich-institutionalistischen Verständnis ausgehen und sich primär für formale politische Kompetenzverschiebungen interessieren.

Im krassen Gegensatz zur Ölkrise von 1973 stehen natürlich die Ergebnisse anderer Krisen wie der Sicherheitskrise am Ende des Kalten Krieges oder der Eurokrise von 2009 bis 2012: Während Erstere die Einführung der gemeinsamen Währung ermöglichte, führte Letztere zu mehr finanzieller Risikoteilung und einer mächtigeren Europäischen Zentralbank. Manche Krisen führen also tatsächlich zu mehr Europa.

Quasi-konstitutionelle Krisen

Im Lauf der Zeit hatten die heutige Europäische Union und ihre verschiedenen Vorgängerorganisationen acht große Integrationskrisen zu bewältigen: Neben der Ölkrise 1973/74, der Krise nach dem Ende des Kalten Krieges 1990/91 und der Eurokrise 2009-12 haben Wissenschaftler:innen die Krise der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1952-54, die Krise des leeren Stuhls 1965/66, die Krise des Haushaltsrabatts 1979-84, die Krise des Verfassungsvertrags 2005-07 und die Migrationskrise 2015/16 identifiziert. Man könnte noch die Brexit-Krise 2016, die Covid-19-Pandemie 2020/21 und die seit 2010 schwelende Rechtsstaatskrise in mehreren EU-Mitgliedstaaten hinzufügen.

Gemeinsam ist diesen Krisen, dass sie nicht nur einen einzelnen Mitgliedstaat oder ein einzelnes Politikfeld betreffen, sondern zentrale Merkmale, Grundsätze und erklärte Ziele der europäischen Integration bedrohen. Um jene Fälle zu bezeichnen, die über einfache Entscheidungsblockaden oder Verzögerungen bei der Umsetzung von EU-Recht hinausgehen und den Kern dessen treffen, was die EU ist oder sein soll, schlage ich den Begriff „quasi-konstitutionelle“ Krisen vor.

Vier mögliche Krisenfolgen

Um die Folgen dieser Krisen bewerten und ihre Unterschiede besser erfassen zu können, schlage ich weiterhin – auf der Grundlage eines breiten Spektrums an wissenschaftlicher Literatur, unter anderem aus den Feldern Internationale Beziehungen und Public Policy – vier Ergebniskategorien vor:

  • Transformation bedeutet eine Überholung des gesamten EU-Systems – wie 1991, als die Krise nach dem Kalten Krieg zum Vertrag von Maastricht führte, oder während der Eurokrise, die die Funktionsweise der Währungsunion grundlegend veränderte.
  • Anpassung bringt kleinere Veränderungen des aktuellen Systems mit sich – wie den Luxemburger Kompromiss von 1966 als Reaktion auf die Krise des leeren Stuhls oder die Einführung des Beitragsrabatte-Systems im Jahr 1984.
  • Stagnation heißt, dass das aktuelle System nicht durch ein neues System ersetzt wird – wie nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und des Verfassungsvertrags, an deren Stelle die funktional ähnlichen Westeuropäische Union und Vertrag von Lissabon traten.
  • Regression bedeutet, dass das EU-System nach der Krise weniger Funktionen erfüllt als zuvor – wie in der Ölkrise, aber auch der Migrationskrise, als viele Schengen-Mitgliedstaaten wieder nationale Grenzkontrollen einführten.

Diese Kategorien folgen einem eher politischen Verständnis von Krisen und Krisenergebnissen als die institutionalistischen oder gar legalistischen Ansätze, die in der europäischen Integrationsforschung bislang vorherrschen. Sie helfen uns, die politische Dynamik und Kontingenz zu analysieren, die in von Unruhe und Gefahr geprägten Momenten wirken.

Exogene und endogene Krisen

Aber wie können wir erklären, warum eine Krise zu dem einen oder anderen Ergebnis führt? Hierzu schlage ich drei wichtige Erklärungsfaktoren vor: die Art der Krise, den Grad an Interdependenz der Mitgliedstaaten und politische Führung. Diese Erklärungsfaktoren entsprechen den drei (zeitlichen) Phasen, die eine Krise kennzeichnen, nämlich ihre Entstehung, Bewältigung und Beilegung.

Hinsichtlich der ersten Phase – der Entstehung – kann man zwischen exogen und endogen generierten Krisen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist nicht nur eine akademische Übung, sondern hat reale Folgen: Während exogene, von außen kommende Schocks die EU plötzlich und unerwartet treffen, sind endogene, von innen kommende Krisen oft der Höhepunkt längerfristiger Entwicklungen und Spannungen.

Politische Entscheidungsträger:innen müssen auf exogen ausgelöste Krisen deshalb oft schnelle und potenziell weitreichende Antworten finden, während für den Umgang mit endogen verursachten Krisen in der Regel bereits politische und institutionelle Entwürfe und Strukturen vorhanden sind. Das Ausmaß der Veränderungen im System ist daher bei exogenen Krisen tendenziell größer als bei endogenen Krisen.

Symmetrische und asymmetrische Krisen

Der Grad der Interdependenz beschreibt, inwieweit die Mitgliedstaaten gemeinsam von einer Krise betroffen sind und wie ausgeglichen sich die Last zwischen ihnen verteilt. Im Falle einer symmetrischen Krise, die alle Mitgliedstaaten in ähnlichem Maße betrifft, neigen die politischen Entscheidungsträger:innen in der gesamten EU dazu, die Krise als eine gemeinsame Bedrohung zu betrachten, was wiederum eine gemeinsame europäische Reaktion erfordert.

Bei einer asymmetrischen Krise sind hingegen einige Mitgliedstaaten deutlich stärker betroffen als andere. In diesem Fall werden einige Mitgliedstaaten eine gemeinsame europäische Antwort auf die Krise fordern, während andere attraktivere individuelle Alternativen zur Verfügung haben. Die Migrationskrise von 2015/16 ist ein typisches Beispiel dafür: Einige wenige Mitgliedstaaten sahen sich mit einer noch nie dagewesenen Zahl ankommender Asylbewerber:innen konfrontiert, während die Mehrheit kaum Migrationsdruck verspürte und/oder die Möglichkeit hatte, die Migrationsströme durch eine Verschärfung der nationalen Asylgesetze oder ein „Durchwinken“ in andere Mitgliedstaaten umzuleiten.

Die Rolle Deutschlands und Frankreichs

Was den dritten Erklärungsfaktor betrifft, so geht politische Führung in der EU in den meisten Fällen von den Mitgliedstaaten aus. Dies gilt umso mehr in Krisenzeiten, in denen nur die nationalen Regierungen die notwendigen materiellen Ressourcen für die Krisenbewältigung bereitstellen können, etwa Mittel für europäische Rettungsfonds oder Verwaltungskapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen.

Wie der niederländische Politikhistoriker Luuk van Middelaar in Erinnerung ruft, sind Krisen in der EU die Stunde der Exekutiven, vor allem der beiden größten EU-Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich. Die Geschichte der europäischen Integrationskrisen zeigt, dass Deutschland und Frankreich aufgrund ihrer großen Ressourcen und Kapazitäten, sowohl einzeln als auch gemeinsam, einen entscheidenden Einfluss auf europäische Krisenbewältigung haben können.

Politikwissenschaftler:innen haben verschiedene Formen der bilateralen deutsch-französischen Führung beschrieben, die vom Agenda-Setting über die Kompromissbildung bis hin zum Schmieden von Koalitionen unter gleichgesinnten Mitgliedstaaten reichen. Das Fazit lautet, dass eine gemeinsame europäische Krisenreaktion unwahrscheinlich ist, wenn Deutschland und Frankreich nicht die gleiche Auffassung von der Krise haben und nicht die gleiche Vision für eine Lösung teilen.

Und heute?

Was bedeuten die Geschichte der europäischen Integrationskrisen und die oben entwickelten theoretischen Annahmen nun für die sich abzeichnenden europäischen Sicherheits- und Energiekrisen infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine?

Der exogene Charakter der Krise lässt weitreichende Folgen für das Gemeinwesen der EU erwarten. Tatsächlich verabschiedeten die Mitgliedstaaten unmittelbar nach dem russischen Angriff beispiellose Sanktionspakete und finanzierten zum ersten Mal direkt die Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet. Die Diskussionen über die europäischen Verteidigungsanstrengungen und -ausgaben sowie das Konzept der „strategischen Autonomie“ haben wohl den größten Schub seit Jahren erlebt.

Schlechte Aussichten für die kommende Energiekrise

Eine gemeinsame europäische Front im Energiebereich aufzubauen und aufrechtzuerhalten, wird hingegen eine größere Herausforderung sein. Ähnlich wie bei der Ölkrise von 1973 unterscheiden sich die Mitgliedstaaten hinsichtlich Energiemix und ihrer Abhängigkeit von Energielieferungen durch Drittländer weiterhin stark. Angesichts einer solchen asymmetrischen Interdependenz gelang es den arabischen Ländern 1973, die Europäer:innen zu spalten.

Die Geschichte der Krisen in der europäischen Integration zeigt zudem, dass das Ausmaß, in dem die Haltung der Mitgliedstaaten zu einer Krise konvergiert (oder divergiert), und damit auch die Wahrscheinlichkeit einer gemeinsamen europäischen Reaktion sowohl von der Interdependenz als auch der politischen Führung abhängt. Die unterschiedlichen Prioritäten und Bedürfnisse der Mitgliedstaaten im Energiebereich sind deshalb kein gutes Vorzeichen.

Transnationale Solidarität

Es gibt jedoch zwei Wege, wie die EU-Mitgliedstaaten die Energiekrise doch noch als eine gemeinsame Bedrohung angehen können, die eine gemeinsame Antwort und eine wirksame europäische Zusammenarbeit erfordert.

Der eine ist echte Solidarität mit den am meisten betroffenen und verwundbarsten Ländern. Schließlich ist keine Krise völlig symmetrisch in dem Sinne, dass sie alle Mitgliedstaaten in gleichem Maße betrifft. Auch die Pandemiekrise war zwar ein gemeinsamer exogener Schock, aber einige Mitgliedstaaten waren aufgrund ihrer unterschiedlichen finanziellen Mittel anfälliger als andere.

Der gemeinsame Wiederaufbaufonds NextGenerationEU, der von Solidarität und von dem Gedanken geleitet wird, dass niemand an der Krise schuld war, stellt deshalb den Mitgliedstaaten, die am stärksten betroffen waren und die ungünstigsten Bedingungen hatten, einen überproportionalen Anteil an Mitteln zur Verfügung. Die Überwindung kurzfristiger materieller Eigeninteressen, die dem Konzept der Interdependenz zugrunde liegt, wird auch in der Energiekrise von entscheidender Bedeutung sein.

Mutiges politisches Handeln

Der zweite Weg führt über mutiges politisches Handeln: Je weniger Interdependenz gegeben ist, desto mehr politische Führung ist erforderlich. Europa braucht Akteur:innen, die über die notwendigen Ressourcen und den politischen Willen verfügen, um Orientierung zu geben, Ziele zu definieren und gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Historisch erfolgte diese politische Führung meistens, indem Deutschland und Frankreich entweder explizit das Krisenmanagement an sich zogen oder zumindest andere Akteur:innen, etwa die EZB, unterstützten, die dann ihrerseits Führung übernahmen.

Angesichts der verwundbaren Position Deutschlands hinsichtlich des Imports russischer Energieträger und angesichts des Misstrauens vor allem der östlichen Mitgliedstaaten gegenüber der politischen Rhetorik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zum Krieg in der Ukraine müssen Deutschland und Frankreich ihre Bemühungen verstärken und Verbündete suchen. Deutsch-französischer Bilateralismus wird in einer EU mit 27 Mitgliedstaaten und in einer so komplexen Situation wie der Energiekrise nicht ausreichen.

Europa braucht einen „Great Bargain“

Um alle Mitgliedstaaten mit ins Boot zu holen, könnte Europa einen „Grand Bargain“ brauchen – der den Energiemix, die Energieversorgung und die Energiesicherheit ebenso umfasst wie Reformen der EU-Fiskalpolitik und entschlossenere Anstrengungen im Bereich der europäischen Verteidigung, auch im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten.

In den beiden letzteren Politikbereichen haben Deutschland und Frankreich wiederum viel zu bieten. Eine Strategie des Zögerns und Lavierens hingegen wird weder ihnen noch Europa weiterhelfen.

Porträt Lucas Schramm

Lucas Schramm ist Doktorand am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und wird ab Oktober 2022 als Postdoktorand an der Ludwig-Maximilians-Universität in München tätig sein.

Dieser Beitrag basiert auf seiner Dissertation, die Krisen der europäischen Integration analysiert und Unterschiede in den Krisenergebnissen erklärt.


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Gasfackel: Varodrig [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons; Porträt Lucas Schramm: privat [alle Rechte vorbehalten].

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