22 November 2022

Kompromissfähigkeit statt Alleingänge: Der deutsch-französische Motor muss seine Dynamik wiederfinden

Von Michel Derdevet und Stefan Seidendorf
Deutsche und französische Flagge.
In Sachen Energie und Verteidigung ist deutsch-französische Teamarbeit nötig.

In genau zwei Monaten wird der Elysée-Vertrag sechzig Jahre alt. Er ist das Symbol der Versöhnung der beiden Länder, aber auch bis heute der politische Rahmen ihrer bilateralen Zusammenarbeit. Obwohl es also Grund zum Feiern gäbe, dominieren derzeit Differenzen und Unverständnis. Spannungen zeigten sich in den letzten Wochen vor allem angesichts der Energiekrise sowie in der europäischen Verteidigungspolitik. Diese Differenzen gipfelten in einer historischen Premiere mit hoher politischer Bedeutung: der Verschiebung des deutsch-französischen Ministerrats, der ursprünglich für den 26. Oktober geplant war, auf Mitte Januar 2023.

Es ist nun höchste Zeit, die Gegensätze zwischen unseren beiden Ländern gemeinsam anzugehen und nach Kompromissen zu suchen, die Europa voranbringen. Dazu braucht es deutsch-französische Führung.

Spannungen nach nationalen Alleingängen

Die Spannungen entzündeten sich zunächst am „Alleingang“, mit dem die Bundesregierung am 29. September ihren 200-Milliarden-Euro-Schutzschild ankündigte. Die massive Unterstützung für die deutschen Haushalte und Unternehmen angesichts steigender Energiepreise hätte in der Tat vorher mit den anderen Mitgliedern des EU-Binnenmarkts abgesprochen werden können.

Aber auch der französische plan de sobriété war Ausdruck rein nationaler Politik, wo eine deutsch-französische Koordinierung sinnvoller gewesen wäre: sie hätte dem europäischen Green Deal zu mehr Substanz verholfen und die notwendigen Veränderungen im Verhalten der Europäer:innen beschleunigt.

Faktische Solidarität in der Energieversorgung

Betrachtet man nur die Spannungen, übersieht man eine Realität, die angesichts der Energiekrise im Mittelpunkt der deutsch-französischen Beziehungen stehen müsste. Seit dem 13. Oktober liefert Frankreich erstmals Gas an Deutschland und Deutschland Strom an Frankreich, um dessen derzeitige Schwierigkeiten bei der Produktion von Atomstrom auszugleichen. Faktisch besteht also eine gegenseitige Solidarität. Sie war Anfang September auch Gegenstand einer politischen Übereinkunft zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz.

Dem müsste politisch jedoch auch längerfristig Rechnung getragen werden. Zwischenstaatliche Abkommen könnten ein Schritt auf dem Weg zur Entstehung einer europäischen Energiepolitik sein, die sich um die bestehenden Abhängigkeiten und Solidaritäten zwischen den Mitgliedstaaten herum entwickelt. So könnten auch Staaten außerhalb der EU einbezogen werden, zum Beispiel im Rahmen der von Präsident Macron vorgeschlagenen Europäischen Politischen Gemeinschaft, die am 6. Oktober in Prag zum ersten Mal zusammenkam.

Die Energiepolitik über den Winter hinaus denken

Diese Form der europäisch eingebetteten bilateralen Zusammenarbeit könnte über die Gasversorgung hinaus auch auf innovative Bereiche, etwa die Entwicklung einer europäischen Wasserstoffbranche, angewandt werden. Denn über die nötige Solidarität im Hinblick auf den kommenden Winter hinaus steht die EU vor einer kopernikanischen Wende in ihrer Energiepolitik: Bis 2050 soll die Erzeugung von Strom um etwa 35 % gesteigert werden, während gleichzeitig CO2-Neutralität erreicht werden soll.

Die Umsetzung dieser Ziele, die im Green Deal der EU festgelegt wurden und zu denen sich Frankreich und Deutschland im Oktober erneut gemeinsam bekannt haben, muss die Perspektive und der Gegenstand der gemeinsamen Arbeit Frankreichs und Deutschland sein. Sie dürfen angesichts der aktuellen Differenzen unter keinen Umständen aus den Augen verloren werden. Es geht dabei um nichts weniger als die Entwicklung einer echten „Europäischen Energieunion“.

Ein geopolitisches Europa

Die aktuellen Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland konzentrieren sich außerdem auf den Verteidigungsbereich, wo die Zusammenarbeit bei der Entwicklung ambitionierter gemeinsamer Rüstungsprojekte (Kampfpanzer und Kampfflugzeug der nächsten Generation) ins Stocken geraten ist. Auch hier war die Initiative der Bundesregierung, die im Rahmen der NATO zu einer Kooperation von 15 Staaten (ohne Frankreich) bei der Entwicklung einer gemeinsamen Luftabwehr führte, Ausdruck tieferliegender Probleme. Die Entwicklung eines gemeinsamen Raketenabwehrschildes der EU-27 ist nun zunächst ausgesetzt.

Dabei gibt es auch im Verteidigungsbereich gemeinsame Interessen, die trotz aller Schwierigkeiten ein gemeinsames, abgestimmtes Handeln dringend nahelegen. Dies gilt natürlich im Hinblick auf die Solidarität mit der Ukraine. Darüber hinaus geht es darum, eine gemeinsame strategische Kultur der EU zu entwickeln, die im „Strategischen Kompass“ erst in groben Zügen angelegt ist. Dieser Prozess benötigt den gemeinsamen Willen der politischen Führung, damit sich die unterschiedlichen Ansichten über die geopolitische Rolle Europas annähern.

Ausgleich zwischen unterschiedlichen Haltungen zur NATO

Die deutsch-französische Zusammenarbeit und der Kompromiss über die unterschiedlichen Vorstellungen zur Rolle der NATO sind die Voraussetzung, damit die Entstehung einer gemeinsamen strategischen Kultur gelingen kann und „europäische Souveränität“ möglich wird. Hier noch mehr als anderswo besteht die Daseinsberechtigung des deutsch-französischen Motors darin, einen Interessenausgleich zwischen den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, zuallererst zwischen Frankreich und Deutschland.

Der Kompromiss muss zwischen denjenigen EU-Mitgliedstaaten gefunden werden, die eine amerikanische Verteidigung in Europa im Rahmen der NATO fordern, und denjenigen, die in diesem Bereich eine vollwertige europäische Souveränität aufbauen wollen. Trotz des kurzfristigen Kaufs von amerikanischem Material müssen deshalb die deutsch-französischen Anstrengungen zur Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie weitergeführt werden. Sie tragen zur Integration im Verteidigungsbereich bei.

Gegen den Narzissmus der kleinen Differenzen!

Die derzeitige deutsch-französische Pattsituation erlaubt keine tragfähigen europäischen Antworten auf die aktuellen Herausforderungen. Wie in der Vergangenheit, zuletzt 2020 während der Covid-19-Pandemie, muss deshalb die deutsch-französische Fähigkeit zum Kompromiss wieder zum Motor der europäischen Politik werden.

Es ist dringend an der Zeit, in einen neuen Dialog zwischen unseren beiden Ländern einzutreten, um Europa einen langfristigen Kurs angesichts der existenziellen Herausforderungen des Krieges und des Klimawandels vorzuschlagen. Beenden wir also den deutsch-französischen Narzissmus der kleinen Differenzen!

Michel Derdevet ist Präsident des französischen Europa-Thinktanks Confrontations Europe.

Stefan Seidendorf ist stellvertretender Direktor und Leiter der Europaabteilung des Deutsch-Französischen Instituts Ludwigsburg.


Bild: Deutsche und französische Flagge: Oliver Abels (SBT) [CC BY-SA 3.0], via Wikipedia Commons [cropped]; Porträts Michel Derdevet, Stefan Seidendorf: privat [alle Rechte vorbehalten].

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