25 Juli 2024

Was eine Kandidatur – und Regierung – von Kamala Harris für die amerikanische Europapolitik bedeuten könnte

Von Cordelia Buchanan Ponczek
Kamala Harris at the 2023 Munich Security Conference
Sie könnte die nächste Präsidentin der Vereinigten Staaten sein – was müssen Europäer:innen über sie wissen?

Die europäischen Länder haben den Verlauf der US-Wahlen mit zunehmender Besorgnis verfolgt. Die Entscheidung von Präsident Joe Biden am Sonntagabend, auf eine Kandidatur zu verzichten und seine derzeitige Vizepräsidentin Kamala Harris zu unterstützen, führte zu überraschten und interessierten Reaktionen. Die Europapolitik von Präsident Biden und Ex-Präsident Donald Trump ist bekannt und wird entweder geschätzt oder gefürchtet. Das Einspringen der in Europa relativ unbekannten Harris hat der US-Wahl hingegen eine neue Dimension der Unsicherheit verliehen.

Dieser Artikel stellt dar, wie Harris’ Perspektive für die Beziehungen zu Europa aussehen könnte. Ihr Hintergrund gibt einige Hinweise darauf, wie sie ihre Außenpolitik führen würde und was europäische Politiker:innen und Entscheidungsträger:innen erwarten könnten, wenn sie die Nominierung und die Präsidentschaft gewinnt. Angesichts ihrer begrenzten Erfahrung in der Außenpolitik ist anzunehmen, dass sie weitgehend den von Biden eingeschlagenen Weg fortsetzen und sich auf die Expertise ihrer Berater:innen verlassen wird, die aus den früheren Regierungen von Barack Obama und Bill Clinton bekannt sind.

Harris in Kürze

Kamala Harris ist die erste Frau, erste Schwarze und erste asiatisch-amerikanische Frau, die das Amt der US-Vizepräsident:in bekleidet. Harris stammt ursprünglich aus Kalifornien und hat einen juristischen Hintergrund. Sie war Bezirksstaatsanwältin von San Franciso und Generalstaatsanwältin von Kalifornien, bevor sie 2016 einen Sitz im US-Senat gewann. Es war dieselbe Wahl, bei der Donald Trump Präsident wurde.

Ihre Amtszeit als kalifornische Senatorin verbrachte Harris in Opposition zu vielen Trump-Politiken. Anschließend kandidierte sie bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei für die Wahl 2020 und wurde nach ihrem Ausscheiden Vizepräsidentschaftskandidatin von Joe Biden. Während des erfolgreichen Wahlkampfs 2020 wurde Harris durch ihre scharfe Vizepräsidentschaftsdebatte mit Trumps Kandidaten Mike Pence bekannt.

Juristischer Hintergrund

Als Bezirksstaatsanwältin führte Harris eine Kampagne für ein hartes Vorgehen gegen Kriminalität, wobei sie sich besonders kritisch gegenüber Strafnachlässen bei häuslicher Gewalt äußerte und sich dafür einsetzte, den Waffenbestand in San Francisco zu verringern. Ihre politisch linken Überzeugungen wurden in der Schaffung neuer Einheiten zur Bearbeitung von Umweltverbrechen und zur Bearbeitung von Hassverbrechen gegen LGBT+-Personen deutlich. Als Generalstaatsanwältin von Kalifornien setzte sich Harris für die Durchsetzung von Datenschutz gegenüber Big-Tech-Unternehmen ein, vertrat eine positive Haltung zur aktiven Förderung von Minderheiten (affirmative action) und verfolgte große Umweltverbrechen wie Ölverschmutzungen und Emissionsmeldungen.

Während Harris in vielen Fragen der allgemeinen demokratischen Parteilinie folgte, setzte sie sich teils auch gegen Widerstände in in ihrer eigenen Partei durch: So vertrat sie als Bezirksstaatsanwältin in San Fransisco eine strikte Haltung gegen die Todesstrafe. Auch als mehrere schwierige Fälle zu politischem Druck langjähriger Demokrat:innen, einschließlich der US-Senatorinnen Dianne Feinstein und Barbara Boxer, zugunsten der Todesstrafe führten, blieb Harris standhaft.

Im Umgang mit Big Tech, Datenschutzgesetzen, Emissionen und Umweltgesetzen könnte eine Harris-Außenpolitik also eine gemeinsame Basis mit der Europäischen Union finden, auch wenn ihr im Vergleich mit Biden teils eine lockerere Haltung gegenüber Big Tech zugeschrieben wird. Im Allgemeinen ist die EU den USA voraus, wenn es darum geht, Big Tech in die Schranken zu weisen, die Privatsphäre der Nutzer:innen zu schützen und umweltfreundliche Gesetze zu erlassen. Es wäre möglich, dass Harris auf ihre Erfahrungen als Staatsanwältin zurückgreift, um auch im US-Rechtssystem einen höheren Schutz zu verankern.

Im US-Senat

Wie Barack Obama war auch Harris nur kurz Mitglied im US-Senat, sodass sich nur recht wenig aus ihrem Abstimmungsverhalten ableiten lässt. Aus ihrer Zeit als Senatorin lassen sich zwar einige kleine Hinweise auf ihre politischen Initiativen und Interessen ableiten, doch als Oppositionspolitikerin bestand ihre Rolle hauptächlich in der Ablehnung der Maßnahmen der Trump-Regierung. In Anhärungen fiel sie dabei durch ihre scharfen – zuweilen aggressiven – Fragen an Zeug:innen und Beamte auf. Während des Amtsenthebungsverfahrens gegen Trump betonte sie ihren Glauben an die Integrität der Rechtsstaatlichkeit im US-Justizsystem, in dem niemand über dem Gesetz stehe, und stimmte für die Verurteilung des ehemaligen Präsidenten Trump wegen Machtmissbrauchs und Behinderung des Kongresses.

Als Mitglied des Geheimdienstausschusses des Senats sammelte Harris Erfahrung mit dem Erhalt, der Verarbeitung und dem Umgang mit geheimen Informationen, die den meisten anderen Abgeordneten oder US-Bürger:innen nicht zugänglich waren. Zudem war sie Mitglied des Ausschusses für Innere Sicherheit, eine weitere Parallele zu Ex-Präsident Barack Obama.

Eines der großen Themen, zu denen Harris als Senatorin beigetragen hat, waren der DREAM Act, der Einwander:innen ohne Papiere die Möglichkeit zur Einbürgerung in den USA gibt. Im Vorwahlkampf 2020 versprach sie zudem Maßnahmen zur Waffenkontrolle. Zusammen mit Kirsten Gillibrand und Marco Rubio forderte Harris die Trump-Regierung auf, die Verfolgung von Uigur:innen in China zu untersuchen.

Als Vizepräsidentin

Vor ihrer Amtszeit als Vizepräsidentin lag Harris’ Schwerpunkt im Justizwesen, nicht in der Außen- oder Verteidigungspolitik. Nach ihrer Wahl setzte sie bei der Festlegung ihres außenpolitischen Kurses deshalb größtenteils auf Bidens Führung sowie auf ihre außenpolitischen Berater:innen. Man kann davon ausgehen, dass dies auch weiterhin der Fall sein wird.

Während Bidens Amtszeit im Weißen Haus ist Harris allerdings mehrfach für ihn bei Veranstaltungen im Ausland eingesprungen. So nahm sie am ASEAN-Gipfel 2023 in Indonesien teil, wo sie die US-Politik der Risikoreduzierung gegenüber China erläuterte. Zuvor hatte sie den chinesischen Staatschef Xi Jinping bereits 2022 in Bangkok beim Gipfel der Asia-Pacific Economic Cooperation (APEC) getroffen. 2022 besuchte Harris auch die Münchner Sicherheitskonferenz nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine. 2024 vertrat sie Biden erneut auf der Münchner Sicherheitskonferenz sowie im Juni auf dem Ukraine-Friedensgipfel in der Schweiz. Ähnlich wie Biden setzte sich auch Harris für die Ukraine ein. Zudem betonte sie wiederholt die Bedeutung einer globalen Rolle der USA – in scharfem Gegensatz zum Isolationismus der Trump-Kampagne, insbesondere von Trumps Vizepräsidentschaftskandidat J. D. Vance.

Harris’ Berater:innen

Um den möglichen außenpolitischen Kurs, den eine Harris-Regierung einschlagen könnte, und seine Auswirkungen auf Europa zu verstehen, ist für europäische Beobachter:innen auch Harris’ Beraterstab wichtig.

Ihr wichtigster nationaler Sicherheitsberater als Vizepräsidentin war Philip Gordon. Gordon ist ein Europaexperte und war zuvor stellvertretender Staatssekretär für europäische und eurasische Angelegenheiten unter Außenministerin Hillary Clinton. Zu seinem Tätigkeitsfeld gehörten die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen den USA und Europa, insbesondere Mittel- und Osteuropa und der postsowjetischen Raum. (Sein Vorgänger und seine Nachfolgerin in dieser Rolle waren zwei andere bekannte Personen: die Botschafter:innen Daniel Fried und Victoria Nuland.)

Nach seinem Dienst unter Ministerin Clinton war Gordon in der Obama-Regierung Sonderberater des Präsidenten und Koordinator des Weißen Hauses für den Nahen Osten, Nordafrika und die Region des Persischen Golfs. Zuvor war er während der Clinton-Regierung Direktor für europäische Angelegenheiten im Nationalen Sicherheitsrat. In der Biden-Regierung war Gordon zunächst stellvertretender Nationaler Sicherheitsberater, während Nancy McEldowney Nationale Sicherheitsberaterin der Vizepräsidentin war, als sie im März 2022 zurücktrat, übernahm Gordon als Harris’ neuer Berater.

Gordon verfügt über umfangreiche Erfahrungen mit Think Thanks und Politikberatungsinstituten. So war er beim Council on Foreign Relations tätig und hatte Positionen bei Brookings, IISS, der deutschen DGAP sowie bei INSEAD und SciencesPo in Frankreich inne. Er hat mehrere Publikationen über den Nahen Osten, die NATO und Europa veröffentlicht.

Nancy McEldowney, Harris’ ehemalige Nationale Sicherheitsberaterin, gehörte dem diplomatischen Dienst der USA an und war Direktorin des Foreign Service Institute, das US-Diplomat:innen aus- und weiterbildet. Sie arbeitete in US-Vertretungen in der Türkei und Aserbaidschan und war unter den Regierungen Bush und Obama US-Botschafterin in Bulgarien. Danach war sie erste stellvertretende Staatssekretärin für europäische Angelegenheiten und anschließend Präsidentin der National Defense University. Wie Gordon verfügt auch McEldowney über Europa-Erfahrung aus der Clinton-Regierung, in der sie Direktorin für europäische Angelegenheiten im Stab des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses war. Sie hat Erfahrung mit der Rolle der US-Regierung in der NATO, in Europa und in der OSZE.

Die Berater:innen, mit denen sich Harris als Vizepräsidentin umgab, hatten also einen soliden Hintergrund in europäischen Themen und in den EU- und NATO-Beziehungen. Auch die Regierung Biden hat die Tür für die europäischen Verbündeten offen gehalten und die Bedeutung der Zusammenarbeit und des Angebots von Sicherheit und Kontinuität betont. Es ist unwahrscheinlich, dass eine Harris-Kandidatur und -Regierung wesentlich von diesem Kurs abweichen würde.

Fazit: Weiter im Kurs

Auch wenn Biden nicht mehr kandidiert und das europäische Publikum angesichts der Aussicht auf eine relativ unbekannte Kandidatin beunruhigt sein könnte: Die gute Nachricht ist, dass Harris in Bezug auf Europa, wie auch in vielen anderen Bereichen, wahrscheinlich nicht allzu stark vom Ansatz der Biden-Regierung abweichen wird. Das beinhaltet auch die Annäherung an die Europäische Union und die Unterstützung der NATO. Harris wird wahrscheinlich die Unterstützung für die Ukraine fortsetzen, obwohl die Kapazität, die Dauer und die Mittel in hohem Maße von den Ergebnissen der Kongresswahl abhängen. Harris’ juristischer Hintergrund und ihre Erfahrung in den Bereichen Big Tech und Umweltrecht könnten Möglichkeiten bieten, die Politik in diesen Bereichen enger zu verzahnen.

Mit Blick auf das globale Engagement wird Harris für die USA wohl weiterhin eine wichtige Rolle sehen. Sie wird sich wahrscheinlich dafür einsetzen, die Unterstützung für Länder im asiatisch-pazifischen Raum weiter auszubauen. Ein Punkt, in dem sie voraussichtlich von Biden abweichen wird, ist Gaza – sowohl aus wahlstrategischen Gründen als auch aufgrund persönlicher Überzeugungen. Harris hat mehr Verständnis für die Notlage der Palästinenser:innen. Allerdings wird es für Biden eine außenpolitische Priorität sein, ein Friedensabkommen abzuschließen, bevor er aus dem Amt scheidet – zum einen, um sein Vermächtnis zu festigen, und zum anderen, damit Harris ihre Regierung nicht mit diesem schwierigen Thema beginnen muss. Da Harris’ Chefberater Gordon ebenfalls über umfangreiche Erfahrungen im Nahen Osten verfügt, könnte es neben den Beziehungen zu Israel auch Initiativen zu anderen Entwicklungen geben.

Wenn sich Harris die Kandidatur sichert, sollten europäische Beobachter:innen zudem besonders auf ihre Entscheidung bei der Wahl einer Vizepräsidentschafts-Kandidat:in achten. Viele der derzeit diskutierten Namen sind außenpolitisch wenig erfahrene Gouverneur:innen von US-Bundesstaaten. Senator Mark Kelly aus Arizona, ein ehemaliger Astronaut und Marineflieger mit Erfahrung im Golfkrieg, könnte jedoch ein außen- und verteidigungspolitisches Flair in die Kandidatur mit einbringen.

Dieser gesamte Artikel ist mit großen Vorbehalten versehen: wenn Harris die Nominierung erhält (was zunehmend wahrscheinlich erscheint), abhängig von ihrer Vizepräsident:in und ihren Berater:innen, und vor allem: falls Harris gewinnt. Aber er bietet einen Ausgangspunkt für ein europäisches Publikum, um Harris besser zu verstehen und nachvollziehen zu können, wie sich ihr Ansatz in den kommenden Wochen und Monaten weiterentwickeln wird.


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Harris bei der Münchner Sicherheitskonferenz: MSC/Kuhlmann [CC BY 3.0 DE], via Wikimedia Commons; Porträt Cordelia Buchanan Ponczek: Finnish Institute of International Affairs [alle Rechte vorbehalten].

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