02 August 2024

Wird die EU Olympia gewinnen? Über ein Spiel, das man besser nicht mitspielen sollte

Von Manuel Müller

„Die Olympischen Spiele sind Wettkämpfe zwischen Athleten in
Einzel- oder Mannschaftswettbewerben, nicht zwischen Ländern.“

Olympische Charta, Regel 6 (1).

Euronews medals table with the EU in first place
Auch beim Nachrichtenportal Euronews steht inzwischen die EU im Medaillenspiegel ganz oben.

Für die Olympischen Spiele in Paris hat sich die Europäische Kommission etwas Besonderes einfallen lassen. Auf der Seite teameurope2024.eu findet man einen „European Medals Counter“, auf dem die die Medaillen der Athlet:innen aus allen EU-Mitgliedstaaten als „Team Europe“ zusammengezählt werden. Die Botschaft dahinter ist klar und wurde von pro-europäischen Aktivist:innen, etwa den Jungen Europäischen Föderalist:innen, in der Vergangenheit auch schon explizit gemacht: Wenn man die EU als eine Einheit versteht und nicht in 27 Mitgliedstaaten aufteilt, dann steht sie an der Spitze des Medaillenspiegels – vor China, Japan, Großbritannien oder den USA.

Das ist offensichtlich in bester Absicht gemeint, soll europäische Gemeinschaft zum Ausdruck bringen und Europafreund:innen gute Laune machen. Aber ist es auch sinnvoll? Hier sind drei Gründe, warum man dieses Medaillenzählspiel nicht mitspielen sollte.

Die EU ist vor allem im Breitensport aktiv

Erstens: Ja, es gibt eine EU-Sportpolitik, und darauf hinzuweisen ist einer der legitimen Zwecke der „Team Europe“-Website. Mit den Olympischen Spielen hat sie allerdings nur sehr am Rande zu tun. Vielmehr liegt der Schwerpunkt der EU-Aktivitäten klar auf dem Breitensport. Zentrale Ziele sind etwa die „Stärkung der gesellschaftlichen Rolle des Sports“, die „Verbesserung der öffentlichen Gesundheit durch körperliche Betätigung“ und die „Förderung von ehrenamtlichen Tätigkeiten“.

Als Beitrag zu Olympia werden im Weißbuch Sport der EU ausdrücklich nur der „Abschluss erleichterter Visavereinbarungen mit Drittländern und [die] Konsolidierung der Visaregelung für Mitglieder der olympischen Familie“ sowie die Förderung eines „strukturierten Dialogs“ zwischen den verschiedenen Sportverbänden erwähnt; Letzterer findet insbesondere im Rahmen des jährlichen „EU-Sportforums“ statt. Außerdem leistet die EU einen Beitrag zum Kampf gegen Doping und Geldwäsche im Sport sowie zur Sicherheit bei großen internationalen Sportveranstaltungen.

Spitzensport wird durch nationale Programme gefördert

Im EU-Haushalt für 2023 war für die Sportpolitik im Rahmen des Programms Erasmus+ ein Budget von knapp 70 Millionen Euro vorgesehen, mit dem vor allem die „Lernmobilität von Personal im Sportbereich sowie die Zusammenarbeit […] auf der Ebene von Organisationen und politischen Strategien im Sportbereich“ unterstützt wird. Hinzu kamen wenige weitere Millionen für Dinge wie die „Aufsicht und Betreuung für radikalisierungsgefährdete Jugendliche im Rahmen von Sportprojekten“, den „Aufbau von Ermittlungskapazitäten für eine bessere Bekämpfung des Dopings im europäischen Sport“ oder das Nachhaltigkeitsprogramm „Sport for People and Planet“.

Die Förderung des Spitzensports, wie man ihn bei den Olympischen Spielen sieht, ist hingegen Sache der Mitgliedstaaten, die dafür jeweils nationale Programme haben. So gab im Jahr 2023 zum Beispiel allein die deutsche Bundesregierung mehr als 95 Millionen Euro an Zuwendungen für die Fachverbände olympischer Sportarten aus. Hinzu kamen weitere Ausgaben im zweistelligen Millionenbereich für Spitzensport-Infrastruktur – und natürlich die Förderung individueller Athlet:innen, die bei Zoll, Polizei oder Bundeswehr als „Sportbeamte“ beschäftigt und finanziert werden. Mit diesem höheren Budget sind auch wichtige inhaltliche Leitentscheidungen verbunden, etwa über die Frage, welche Sportarten von den nationalen Regierungen gezielt gefördert werden.

Auch Sportverbände sind primär national organisiert

Zudem findet auch die Selbstorganisation des Sportes – durch die Sport-Fachverbände und durch die Nationalen Olympischen Komitees (NOKs) – vor allem auf nationaler Ebene statt. Die verschiedenen nationalen NOKs stehen zwar im Austausch miteinander und haben sogar einen europäischen Dachverband. Bezeichnenderweise nennt sich dieser aber „European Olympic Committees“ im Plural. Tatsächlich ist der europäische Spitzensport deutlich weniger supranational organisiert als die europäische Politik.

Das wiederum hat auch mit dem Regelwerk des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) zu tun, das darüber entscheidet, welche Sportler:innen an den Olympischen Spielen teilnehmen dürfen. Nach Regel 6 und Regel 27 (7.2) der Olympischen Charta sind es die Nationalen Olympischen Komitees, die die teilnehmenden Sportler:innen auswählen. Allerdings sind sie dabei an bestimmte Vorgaben gebunden. So muss es sich bei den Teilnehmer:innen um Staatsangehörige ihres jeweiligen Landes handeln, gegebenenfalls müssen sie bestimmte von den internationalen Sportföderationen vorgegebene Leistungskriterien erfüllen – und vor allem darf jedes NOK maximal ein Team pro Mannschafts- und drei Athlet:innen pro Individualwettbewerb anmelden.

Ein „Team Europe“ hätte viel weniger Olympiateilnehmer:innen

Und das ist der zweite Grund, weshalb die Aufsummierung der „europäischen“ Olympia-Medaillen wenig Sinn ergibt. Wäre der Spitzensport gesamteuropäisch organisiert, mit einem gemeinsamen NOK für alle EU-Mitgliedstaaten, so dürften sehr viel weniger Sportler:innen aus Europa an den Spielen teilnehmen. Ein gemeinsames „Team Europe“ hätte entsprechend deutlich weniger Chancen, Medaillen zu gewinnen, als die 27 nationalen Teams der Mitgliedstaaten zusammen.

Am offensichtlichsten ist das bei den Mannschaftssportarten: Wenn etwa jüngst beim Team-Wettbewerb der Degenfechterinnen Italien Gold, Frankreich Silber und Polen Bronze gewonnen hat, so war das nur möglich, weil jedes dieser Länder mit einem eigenen Team bei den Olympischen Spielen vertreten war. Die USA und China hingegen treten jeweils nur mit einer Mannschaft an – und können deshalb jeweils nur eine Medaille gewinnen, auch in Sportarten, in denen sie dem Rest der Welt weit überlegen sind.

Mehr Werbetrick als Sportsgeist

Sich dafür zu feiern, dass man in einer globalen Rangliste ganz oben steht, während man gleichzeitig unterschlägt, dass diese Position nur aufgrund von ganz unterschiedlichen Startbedingungen zustande kommt – sollte die EU das wirklich nötig haben? Jedenfalls wirkt es eher wie ein billiger Werbetrick als wie ein Ausdruck olympischen Sportsgeistes.

Hier liegt das dritte und vielleicht wichtigste Argument gegen die Medaillenspiegel-Spielereien der EU: Sie nimmt damit an einer problematischen Entwicklung teil, bei der große Sportveranstaltungen – und besonders die Olympischen Spiele – immer weiter zu Wettbewerben zwischen Nationen politisiert und propagandistisch ausgeschlachtet werden.

Die Medaillenspiegel-Konkurrenz heizt Nationalismus an

Natürlich ist diese Entwicklung nicht neu. Vor allem während des Kalten Krieges wurden die Olympischen Spiele auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs als eine symbolische Auseinandersetzung im Wettbewerb der ideologischen Systeme gesehen. Gerade weil die Selbstorganisation der internationalen olympischen Bewegung mit den NOKs so stark nationalstaatlich strukturiert ist, ist ein Übergreifen des politischen Nationalismus in gewissem Ausmaß wohl unvermeidlich. Und mit etwas gutem Willen kann man ja durchaus auch Verständnis dafür haben, dass Politiker:innen die Spiele auch als Kräftemessen der unterschiedlichen nationalen Sportfördersysteme begreifen und sich gerne in der Öffentlichkeit mit den Erfolgen „ihrer“ Athlet:innen schmücken.

Nur muss man gar nicht weit blicken, um auch die dunklen Seiten an diesem Kräftemessen zu erkennen: Wenn Russland oder China (sowie auch Ost- und Westdeutschland während des Kalten Krieges) jahrelang staatliche Dopingprogramme betrieben und womöglich bis heute betreiben, setzen sie das nationale Prestige über die Gesundheit ihrer Sportler:innen – die, zumal in autoritären Regimen, oft nur begrenzte Möglichkeiten haben, sich solchen Programmen zu entziehen.

Natürlich kann man der Europäischen Kommission nicht unterstellen, solche Praktiken gutzuheißen. Aber indem sie mit ihrer Kommunikationspolitik die Konkurrenz um die Spitze im Medaillenspiegel weiter anheizt, trägt sie zu einer Atmosphäre bei, in der es nicht verwunderlich ist, wenn andere staatliche Akteure auch zu schmutzigeren Mitteln als bloßen Rechentricks greifen.

„Imagine …“

Das alles ist umso ärgerlicher, als die EU doch eigentlich gerade mit dem Ziel gegründet wurde, den Nationalismus und seine problematischen Auswüchse zu überwinden. Mit ihrem universell-humanistischen Ansatz hat die europäische Idee zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem olympischen Gedanken, der laut der Präambel der Olympischen Charta auf der „Achtung universell gültiger fundamentaler moralischer Prinzipien“ aufbaut und zum Ziel hat, „den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung der Menschheit zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist“.

Die Olympischen Spiele könnten eine Feier der menschlichen Fähigkeiten sein, eine Gelegenheit, um sich daran zu erfreuen, wozu wir als Spezies in der Lage sind – ganz unabhängig von unserer Herkunft und Staatsangehörigkeit. „Imagine there’s no countries“, sang die französische Sängerin Juliette Armanet bei der Eröffnungsfeier der Spiele in Paris einen alten John-Lennon-Hit, „it isn’t hard to do.“ Statt sich per selbstgebastelten Medaillenspiegel als Nationalstaat zu inszenieren, sollte die EU sich darauf besinnen, worin ihre größte Stärke besteht: eine Welt vorstellbar zu machen, in der, ob im Sport oder in der Politik, die Menschen und nicht die Staaten im Mittelpunkt stehen.


Bild: Medaillenspiegel: Euronews, via Twitter.

2 Kommentare:

  1. Ich bin der Meinung, dass man Gleiches mit Gleichem vergleichen sollte. Die Athleten aus der Europäische UNION haben bis dato 101 Goldmedallien erkämpft; damit kiegt die EU an der Spitze vor China und den USA !

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    1. Der Artikel erklärt ja ausführlich, warum das im Fall der Olympischen Spiele gerade kein Vergleich von Gleichem mit Gleichem ist und warum man die Frage, wer "an der Spitze" des Medaillenspiegels steht, am besten ganz ignorieren sollte. Es wäre schön, wenn Sie beim Kommentieren auf die Argumente im Artikel eingehen.

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