- Seinem Ruf als ehrlicher Makler gerecht werdend, führte Belgien Einigung über viele, auch schwierige Maßnahmen herbei. Weniger erfolgreich war es bei der Gestaltung strategischer Zukunftsentscheidungen.
Die belgische EU-Ratspräsidentschaft von Januar bis Juni 2024 wurde weithin als großer Erfolg gewertet. Der Kontext war von Anfang an klar: ein doppeltes Amtszeit-Ende, national und europäisch. Dies wurde als ein mögliches schlechtes Omen gesehen, doch am Ende dieser sechs Monate waren die Fakten deutlich: Die belgische Präsidentschaft wurde dadurch nicht geschwächt, sondern vielmehr beflügelt. Der nationale Wahlkampf, der von Prognosen beunruhigender Umwälzungen in der innenpolitischen Landschaft beherrscht wurde, brachte den Arbeitsplan der Präsidentschaft nicht durcheinander. Die komplexe Struktur des belgischen Föderalismus behinderte nicht die Umsetzung der europäischen Agenda.
Die vorherige belgische Präsidentschaft wurde von einer geschäftsführenden Regierung geleitet und fand während einer jener endlosen politischen Krisen statt, für die dieses Land so berühmt ist. Diesmal hingegen lässt sich sagen, dass die föderalen, regionalen und sprachgemeinschaftlichen Minister:innen ihre europäischen Initiativen und Erfolge als Treibstoff für ihre innenpolitischen Kampagnen nutzten. Und vor allem die Verwaltungsmaschinerie – perfekt koordiniert von der Ständigen Vertretung – arbeitete auf Hochtouren und konzentrierte sich ohne Skrupel auf die Verwirklichung europäischer Ziele, die fest in ihrer DNA verankert sind
Eine zweiteilige Präsidentschaft
Der Zeitplan der EU wurde perfekt in den sechsmonatigen politischen Kalender integriert. Das Programm der belgischen Präsidentschaft orientierte sich an drei Konzepten (Schützen, Stärken, Vorausschauen) und war in sechs Prioritäten gegliedert: Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Einheit, Stärkung unserer Wettbewerbsfähigkeit, Anstreben eines grünen und gerechten Übergangs, Verstärkung unserer Sozial- und Gesundheitsagenda, Schutz von Menschen und Grenzen sowie Förderung eines globalen Europas.
In den Köpfen der Verantwortlichen war die Präsidentschaft jedoch in zwei Perioden unterteilt. Nach der sehr dynamischen spanischen Präsidentschaft war die erste Hälfte ausschließlich dem Abschluss der Gesetzgebungsagenda bis zur Auflösung des Europäischen Parlaments im April gewidmet. Die zweite Hälfte war eher „zukunftsorientiert“ und der Vorbereitung der beiden wichtigsten Ergebnisse des Europäischen Rates vom Juni gewidmet – der neuen Strategischen Agenda und dem Fahrplan, der sowohl den Erweiterungsprozess, dessen geopolitische Dringlichkeit bekräftigt wurde, als auch die dafür erforderlichen Reformen leiten soll. Das zugrundeliegende Ziel war es, die Zukunft zu prägen, so wie es die bahnbrechende „Erklärung von Laeken“ im Jahr 2001 tat.
Herausragend im ersten Teil …
Die Zahlen sprechen für sich selbst: Der belgische Ratsvorsitz erreichte 74 Vereinbarungen und 57 Rats-Verhandlungsmandate, wobei die Gesetzgebungsarbeit weit über die Auflösung des Europäischen Parlaments hinaus unermüdlich fortgesetzt wurde und den Weg für den ungarischen Ratsvorsitz ebnete. Aber über die Zahlen hinaus verdient auch das politische Profil der erzielten Vereinbarungen Aufmerksamkeit, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens.
Auf die Gefahr hin, einige zu vergessen: Zu den bemerkenswertesten Errungenschaften des Ratsvorsitzes gehörten die endgültige Verabschiedung des Europäischen Medienfreiheit-Gesetzes und der Anti-SLAPP-Richtlinie, der Net-Zero Industry Act und das Gesetz über künstliche Intelligenz, der politische Rahmen für das transeuropäische Verkehrsnetz (TEN-V), die Einigung über die Arbeitsbedingungen für Beschäftigte von Online-Plattformen und die Sorgfaltspflicht von Unternehmen, die Einführung des Europäischen Behindertenausweises und die Schlussfolgerungen zur Zukunft der Europäischen Gesundheitsunion, der Abschluss des Migrations- und Asylpakets und die Verabschiedung des neuen Schengener Grenzkodex. Aber niemand ist perfekt: Unzufriedenheit herrschte über die mangelnden Fortschritte bei der Vertiefung der Kapitalmarktunion und bei den Eigenmitteln sowie über das Scheitern einer Einigung über die Bekämpfung von Online-Kinderpornografie und über die kombinierte Erlaubnis zur Steuerung regulärer Migration.
Mehr als einmal rechtfertigte Belgien seinen Ruf als ehrlicher Makler, indem es eine Einigung über Maßnahmen erzielte, die für seine eigenen nationalen Interessen politisch schwierig waren: Sei es die neue makroökonomische Governance-Struktur (ein Verfahren wegen eines übermäßigen Defizits war die unmittelbare Folge), das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur (Belgien musste sich aufgrund interner Meinungsverschiedenheiten bei der Schlussabstimmung der Stimme enthalten), die Einigung über die Verwendung der Erlöse aus den eingefrorenen russischen Vermögenswerten (ein erheblicher Teil davon in Belgien) oder die schrittweise Ausweitung der Sanktionen gegen Russland in mehreren Paketen (die Belgiens Diamantenindustrie und Flüssiggaslieferungen betrafen).
… mäßigere Ergebnisse im zweiten
Differenzierter muss die Bewertung der Ratspräsidentschaft jedoch hinsichtlich des Einflusses Belgiens auf die strategischen Entscheidungen ausfallen, die die EU in diesem entscheidenden Moment ihrer Entwicklung zu treffen hat. Hierfür gibt es mehrere Gründe.
Inhaltlich begann die Vorbereitung der Strategischen Agenda bei den informellen Treffen der Staats- und Regierungschefs in Versailles und Granada, bei denen die Ambitionen der EU in den Bereichen Verteidigung, strategische Autonomie, wirtschaftliche Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit dargelegt wurden. Die Ausarbeitung dieser Agenda fiel in den Zuständigkeitsbereich des Präsidenten des Europäischen Rates, der dafür 2023 ein Verfahren eingeleitet hatte, bei dem der rotierende Ratsvorsitz keine besondere Rolle spielte. Belgien blieb jedoch nicht untätig und bemühte sich, nicht nur mitzumachen, sondern der Debatte seinen eigenen Stempel aufzudrücken.
Dies spiegelte sich in verschiedenen formellen und informellen Initiativen wider, etwa der Unterzeichnung der dreigliedrigen Erklärung für einen dynamischen europäischen sozialen Dialog, der Förderung des Letta-Berichts über die Zukunft des Binnenmarktes auf einer informellen Tagung des Europäischen Rates, der Erklärung von Antwerpen (einem Aufruf von 73 Wirtschaftsführer:innen aus 17 Sektoren für einen europäischen „Industrial Deal“ als Ergänzung zum „Green Deal“ und zur Sicherung hochwertiger Arbeitsplätze) und der Erklärung von La Hulpe über die Zukunft des sozialen Europas (die jedoch nicht von allen 27 Mitgliedstaaten unterstützt wurde). Eingeweihten zufolge trugen diese Aktivitäten Belgiens dazu bei, die zuvor fehlende grüne und soziale Dimension wieder auf die Tagesordnung zu setzen.
Entkopplung von Erweiterung und institutioneller Reform
Im Hinblick auf die künftige Erweiterung wurden mehrere konkrete Schritte unternommen, insbesondere die Halbzeitüberprüfung des mehrjährigen Finanzrahmens, die Verabschiedung der Reform- und Wachstumsfazilität für den westlichen Balkan und der Ukraine-Fazilität sowie des Ukraine-Plans zu deren Umsetzung. Dieses „Momentum“ wurde außer durch die Verschärfung der Sanktionen und die Verlängerung des vorübergehenden Schutzes auch durch die Annahme des Verhandlungsrahmens und die anschließende Aufnahme von Beitritts-Regierungskonferenzen mit der Ukraine und der Republik Moldau zusammen mit Montenegro bestätigt.
Während Belgien auf der „Erweiterungs“-Seite des klassischen Diptychons aktiv war, verschob es den Cursor unauffällig auf die Dimension der „Vertiefung“. Der Ausgangspunkt war offensichtlich: Die meisten Mitgliedstaaten haben keinerlei Lust auf ein neues institutionelles Abenteuer, und auch die Erwartungen des Europäischen Parlaments und der im September 2023 veröffentlichte Bericht der deutsch-französischen Arbeitsgruppe zur institutionellen Reform der EU konnten nicht dazu beitragen, die sehr festgefahrenen Positionen aufzubrechen. Es war daher wichtig, die Perspektive zu erweitern und die institutionelle Debatte von der Erweiterung zu entkoppeln, um zu verhindern, dass auch letztere zum Stillstand kommen würde.
Schlafwandelnd in Richtung Erweiterung
Im Fortschrittsbericht des belgischen Ratsvorsitzes wurde, im Einklang mit der Mitteilung der Europäischen Kommission vom März, die Botschaft vermittelt, dass Reformen nicht nur zur Vorbereitung auf die Erweiterung, sondern auch zur Sicherung und Verbesserung der internen Funktionsweise und der Handlungsfähigkeit der EU sowie zur Anpassung an ein neues geopolitisches Umfeld in einer sich rasch verändernden Welt erforderlich sind.
Der Prozess sollte sich in aufeinanderfolgenden Wellen entfalten: angefangen bei den Werten (wenngleich die Beendigung des Verfahrens gegen Polen, die mit der Aussicht auf eine stärkere Beteiligung der Europäischen Staatsanwaltschaft einherging, sich noch nicht in einem anderen Ansatz für das Artikel-7-Verfahren niedergeschlagen hat) über die Politiken (in Erwartung der von der Kommission für das erste Halbjahr 2025 angekündigten Überprüfungen) und den Haushalt (mit der großen Herausforderung des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens in Sicht, für den ein Weiter-so-Ansatz nicht genügen wird), bis schließlich das Kapitel der institutionellen Governance eröffnet wird (auch wenn das bisherige Scheitern der zaghaften Versuche, mithilfe von Passerelleklauseln Reformen ohne Vertragsänderungen herbeizuführen, zu vorsichtigem Realismus mahnt).
Der vom Europäischen Rat angenommene Fahrplan nahm auf diesen Fortschrittsbericht Bezug. Aber das Gefühl des Unbehagens bleibt: Wenn es um die Erweiterung geht, ist die EU am Schlafwandeln.
Inklusion und Mäßigung, Schlüssel eines erfolgreichen Vorsitzes
Dies bringt uns zu zwei abschließenden Überlegungen. Die erste betrifft das Profil der rotierenden Ratspräsidentschaften. Gemeinhin wird betont, dass ihr Einfluss spätestens mit dem Vertrag von Lissabon vernachlässigbar geworden ist und ihr Hauptnutzen letztlich darin besteht, in immer größeren Abständen europäische Themen in der nationalen Öffentlichkeit zu platzieren. Wie sind also die starken Gefühle zu deuten, die die aufeinanderfolgenden Präsidentschaften Belgiens und Ungarns ausgelöst haben?
Eines ist sicher: Selbst im Rahmen eines Ratstrios hat ein Mitgliedstaat nicht die Möglichkeit, eine gemeinsame Agenda zu ändern, für die die Grundlagen auf höchster Ebene gelegt wurden. Aber er kann eine wichtige Rolle bei deren Umsetzung spielen. Gibt es ein Geheimnis für den Erfolg Belgiens, des vorbildlichen ehrlichen Maklers? Der Schlüssel dazu sind Inklusivität und Bescheidenheit, die ständige Suche nach dem Dialog mit allen Akteuren, die Vervielfachung bilateraler Kontakte und die Fähigkeit, innenpolitische Sensibilitäten für eine Weile zu vergessen.
Kurz gesagt, es geht darum, policies über politics zu stellen und zugleich zu akzeptieren, dass Letztere unweigerlich Teil eines jeden demokratischen Entscheidungsprozesses ist. Und dies ist wahrscheinlich auch der beste Weg, um sicherzustellen, dass die leise Stimme der nationalen Prioritäten gehört wird.
Ein nötiger Reflexionsprozess
Der zweite abschließende Gedanke bezieht sich auf den Zustand der Union. Héctor Sánchez Margalef schloss seine Analyse des spanischen Ratsvorsitzes mit der Feststellung, dass mehr Führung gebraucht werde und ein Nachdenken darüber nötig sei, wohin sich die EU entwickelt und was die nächsten Schritte sein müssen, damit sie ein echter Gestalter und nicht nur ein Mitläufer der Weltpolitik werden kann. Er betonte, dass es wichtiger denn je sei, Antworten auf diese Fragen zu finden, da die Zukunft der EU nach wie vor sehr ungewiss sei. Sechs Monate später sind wir in dieser Hinsicht nicht weitergekommen, aber dafür sollten weder die spanische noch die belgische Ratspräsidentschaft verantwortlich gemacht werden.
Die Strategische Agenda ist eher eine „Agenda“ als eine „Strategie“. Der Fahrplan ist bedeutungslos, wie verschiedentlich hervorgehoben wurde. Die von der Kommissionspräsidentin am Vorabend ihrer Ernennung für eine zweite fünfjährige Amtszeit vorgelegten Leitlinien scheinen eher ein pragmatisches Arbeitsprogramm für die nächsten 24 Monate zu sein. Einige haben sich mit dem „Fatalismus der Krise“ abgefunden und erinnern im Sinne Jean Monnets daran, dass Europa aus verschiedenen Schocks immer gestärkt hervorgegangen ist – wir müssen nur auf den nächsten warten und hoffen, dass er nicht zu heftig ist, um diesen schönen Optimismus zu widerlegen.
Andere fordern einen Schub an Willenskraft und Klarsicht, der die Entscheidungsträger:innen endlich dazu bringen würde, einige bequeme Gewissheiten in Frage zu stellen und sich auf einen Reflexionsprozess einzulassen, der „im Sinne der langfristigen strategischen Ziele für den nächsten institutionellen Zyklus sowie der anderen Herausforderungen und Entwicklungen – vorausschauend und mit Weitblick – angestellt werden“ sollte, wie es im Bericht des Ratsvorsitzes heißt. Vielleicht könnte Belgien, wenn es die unvermeidliche „Post-Präsidentschafts-Depression“ überwunden hat, zusammen mit anderen zu einem solchen Aufbruch beitragen.
Jean-Louis De Brouwer ist Direktor des Europa-Programms am Egmont-Institut in Brüssel. |
Dieser Artikel erschien zuerst auf Englisch als EPIN Council Presidency Report des European Policy Institutes Network. |
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