09 Juni 2016

Der eigenartige Wahlkampf um das UN-Generalsekretariat

Helen Clark macht wieder Wahlkampf.
Umfragen sind das Salz in der Suppe jedes Wahlkampfs. Welcher Kandidat konnte mit seinem Auftritt die Bürger bislang am besten überzeugen? Wer liegt zurück und muss nun mit weiteren Initiativen nachlegen, um noch aufholen zu können? Über die Chancen von Hillary Clinton gegen Donald Trump im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf berichten die deutschen Medien schon seit Monaten fast im Wochentakt. Auf EU-Ebene hingegen war das Fehlen europaweiter Umfragen lange Zeit ein Hemmnis für die europäische Öffentlichkeit.

Und bei den Vereinten Nationen? Ende dieses Jahres wird bekanntlich der nächste UN-Generalsekretär gewählt; und es gibt elf Kandidatinnen und Kandidaten, die sich für das Amt beworben haben. Umfragen, die ein Stimmungsbild der Weltbevölkerung über diesen wichtigsten Posten in der globalen Exekutive ermöglichen würden, sucht man jedoch vergebens. Wer herausfinden will, wie die Aussichten der Kandidaten derzeit stehen, ist deshalb auf ein anderes Mittel angewiesen: An die Stelle von Umfragen treten die Wettquoten internationaler Buchmacher.

Das neue Wahlverfahren

Und auch sonst ist es ein eigenartiger Wahlkampf, den die Generalsekretärskandidaten derzeit führen. Bislang wurde die Besetzung dieses Postens im Wesentlichen hinter verschlossenen Türen ausgehandelt, wobei letztlich die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats – die Regierungen der USA, Russlands, Chinas, Frankreichs und Großbritanniens – dank ihres Vetorechts die alles entscheidenden Akteure waren. Für den Nachfolger des derzeitigen Amtsinhabers Ban Ki-moon, der Ende dieses Jahres ernannt werden soll, wird jedoch erstmals ein neues Verfahren angewandt: Wer für das Amt kandidieren will, muss sich jetzt formal von einem Mitgliedstaat nominieren lassen und in einer „informellen Anhörung“ vor der UN-Generalversammlung seine Vision für die Zukunft der Weltorganisation präsentieren.

Eine erste Runde dieser Anhörungen fand Mitte April mit neun Kandidaten statt; zwei weitere, die ihre Bewerbung erst später erklärten, wurden vor einigen Tagen gehört (ein Überblick über alle Kandidaten mit Links zu den Videos ihrer Anhörungen findet sich hier). Parallel dazu gab es im April in New York und Anfang Juni in London zwei zivilgesellschaftlich organisierte Townhall-Debatten, bei denen sich jeweils eine Gruppe von Kandidaten den Fragen des Publikums stellte.

Durch Transparenz steigt der Druck auf die Großmächte

Sinn dieser Debatten ist zunächst einmal, die Wahl des Generalsekretärs transparenter zu machen. Wenn die Öffentlichkeit sich schon im Voraus informieren kann, welche Kandidaten zur Auswahl stehen und welche Positionen sie repräsentieren, steigt der Druck auf die Großmächte im Sicherheitsrat, sich auch wirklich für einen Generalsekretär mit Format zu entscheiden. Außerdem bieten die öffentlichen Anhörungen natürlich auch ein Forum für die Auseinandersetzung mit einigen der großen Herausforderungen, vor denen die Vereinten Nationen heute stehen: von der Umsetzung des Pariser Klimavertrags bis zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung, von der globalen Flüchtlingskrise bis zu einer effektiveren Verwaltung des UN-Apparats selbst.

Darüber hinaus aber könnte die neue Transparenz bei der Wahl des UN-Generalsekretärs auch den Charakter des Amtes selbst verändern. Bislang haftete ihm eine gewisse Unbestimmtheit an, die für die Welt der Diplomatie nicht unüblich ist: Nach der UN-Charta hat der Generalsekretär kaum klar definierte Kompetenzen; seinen beträchtlichen Einfluss übt er vor allem dadurch aus, dass er in sehr vielen Beratungen präsent ist, dass er durch Freundlichkeit und Überredungskunst andere Machthaber auf eine gemeinsame Linie bringt – und natürlich auch dadurch, dass er zwar bei Gelegenheit an das Weltgewissen appelliert, gleichzeitig aber keinen wichtigen Akteur durch eine allzu scharfe Positionierung vor den Kopf stößt.

Das Amt des Generalsekretärs wird politischer

Dass nun jedoch öffentlich darüber diskutiert wird, auf welche Weise der neue Generalsekretär seine Aufgaben ausüben wird und welche Prioritäten er dabei setzen sollte, macht das Amt politischer. Es wird deutlich, dass auch die Vereinten Nationen vor Alternativen stehen: Soll man das UN-Budget erhöhen, wie der portugiesische Kandidat António Guterres (PS/SI-PA) vorschlägt, oder nur effektiver verwalten, wie der Montenegriner Igor Lukšić (DPS/SI-PA) meint? Ist die größte aktuelle Aufgabe der Kampf gegen den Klimawandel (so der parteilose Serbe Vuk Jeremić) oder die Förderung wirtschaftlicher Entwicklung (wiederum Lukšić)? Und wie sollte sich die UNO zum EU-Türkei-Flüchtlingsdeal positionieren?

Vor allem aber fördert die Öffentlichkeit der Debatte ein neues Verständnis darüber, wer die eigentlichen Adressaten für die Politik des Generalsekretärs sind. Die Kampagne, die das neue Verfahren für die Generalsekretärswahl wesentlich vorangetrieben hat, nennt sich nicht umsonst 1 for 7 billion: Durch die Öffentlichkeit der Auseinandersetzung werden die Kandidaten zu Argumentationsformen gedrängt, in denen sie ihre Positionen mit dem globalen Gemeinwohl begründen müssen. Während es in der klassischen Diplomatie nur um die nationalen Regierungen geht (und in den UN oft sogar nur um die fünf Großmächte mit einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat), richtet sich diese Debatte auf die Interessen der gut sieben Milliarden Bürger dieser Welt.

Kandidaten im Wahlkampfmodus

Das hat auch Auswirkungen auf die Selbstdarstellung der elf Kandidaten. Die meisten von ihnen haben bereits auf nationaler Ebene Wahlkampferfahrung gesammelt: unter anderem als ehemaliger Regierungschef (Guterres, Lukšić sowie die Neuseeländerin Helen Clark, Labour/PA), Staatschef (der Slowene Danilo Türk, parteilos) oder Parteivorsitzende (die Kroatin Vesna Pusić, HNS/LI). Wie man ein großes Publikum erreicht, ist ihnen also nicht fremd – und so mischt sich in die Generalsekretärsdebatten ein neuer Tonfall, den man sonst eigentlich nur aus der nationalen (oder bestenfalls europäischen) Politik kennt.

Am deutlichsten im Wahlkampf-Modus ist dabei wohl Helen Clark. Die frühere neuseeländische Premierministerin erklärte nicht nur ihre Kandidatur in einem Video und unterhält für ihre Kampagne den Twitter-Account Helen4SG. Bei ihrer Anhörung vor der UN-Generalversammlung gab sie darüber hinaus an, sie sei „niemals eine Kandidatin des Establishments gewesen“ – eine Formulierung, die ziemlich deutlich eher nach dem aktuellen US-Wahlkampf klingt als nach einer Ausdrucksweise, wie sie in den diplomatischen Kreisen der Turtle Bay üblich ist.

Aber auch bei anderen Kandidaten sind derartige Wahlkampffloskeln zu hören. So sprach etwa Vuk Jeremić in seiner Anhörung von 53 spezifischen Maßnahmen, die er ab dem „Day One“ umsetzen wolle. In der Townhall-Debatte in London Anfang Juni fiel das Schlagwort vom „ersten Tag im Amt“ sogar so häufig, dass einige Beobachter etwas irritiert darauf verwiesen, dass sich solche Aktivitätsversprechen wohl kaum mit der langsamen Wirklichkeit der UN-Bürokratie in Einklang bringen lassen.

Die Leidenschaft eines echten Wahlkampfs fehlt

Und dennoch: So ganz will die Leidenschaft eines „echten“ Wahlkampfs bislang noch nicht aufkommen. Auch wenn die Kandidaten in den öffentlichen Debatte immer wieder gewisse inhaltliche Unterschiede erkennen lassen, versucht niemand von ihnen sein Profil auf Kosten der anderen zu schärfen. Statt um Konfrontation geht es um Nuancierung.

Selbst als die Kandidaten in New York auf das Thema Steuerhinterziehung und Geldwäsche angesprochen wurden, blieben sie vorsichtig. Wo jeder echte Wahlkämpfer ohne Zweifel die Chance gewittert hätte, durch die Ankündigung entschlossener Maßnahmen Punkte zu sammeln, flüchteten sie in Gemeinplätze: Man könnte, sollte, müsste hier wohl etwas tun; aber was genau, blieb letztlich offen.

Die Fundamentalregeln des Verfahrens sind unverändert

Für diese Zurückhaltung gibt es verschiedene Gründe. Zum einen mag sie daran liegen, dass es doch eine recht spezifische Teilöffentlichkeit ist, vor der die Kandidaten auftreten. Auch wenn die Debatten für jeden Menschen mit Internetzugang und Englischkenntnissen zugänglich sind, ist es ja keineswegs so, dass die ganze Welt sie mitverfolgen würde. In Deutschland etwa findet die Auseinandersetzung über den neuen UN-Generalsekretär eher in spezialisierten Blogs statt als in den großen Massenmedien. Und von den Publikumsfragen in London wurden gleich zwei von früheren oder amtierenden Botschaftern gestellt.

Zum anderen und vor allem wissen die Kandidaten natürlich auch genau, dass es am Ende eben nicht die Weltbevölkerung ist, die sie ins Amt wählen wird. An den Fundamentalregeln des Ernennungsverfahrens hat sich nichts geändert: Wer Generalsekretär werden (und hinterher als Generalsekretär erfolgreich sein) will, braucht die Unterstützung des Sicherheitsrats und der Generalversammlung. Und vor allem muss er darauf achten, keine der fünf Vetomächte zu vergrätzen.

Nichtssagend-diplomatische Erklärungen zu den Vetomächten

Dass Vuk Jeremić erklärt, der Generalsekretär müsse „Rückgrat“ haben und solle auch gegenüber den Großmächten eine „stärker politische Rolle“ spielen, ist deshalb wohl das Maximum an Konfrontation, das sich einer der Kandidaten gegenüber den ständigen Mitgliedern leisten wird. António Guterres wiederum hielt sich als UN-Flüchtlingskommissar in der Vergangenheit auch mit Kritik an den nationalen Regierungen nicht zurück, was Beobachter schon frühzeitig als mögliche Schwachstelle seiner Kandidatur identifizierten. Zuletzt hingegen sprach er bescheiden davon, als Generalsekretär werde er die Funktion eines „convenor“, also eines Stichwortgebers und Vermittlers, einnehmen.

Die argentinische Kandidatin Susana Malcorra (Cambiemos/–) betonte in ihrer Anhörung sogar ausdrücklich, sie verstehe den UN-Generalsekretär nicht als „Weltpräsidenten“, sondern sehe seine Aufgabe eher darin, Entscheidungen durch die Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Und Helen Clark antwortete auf die Frage, ob sie die Macht der fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat reduzieren wolle, mit der nichtssagend-diplomatischen Erklärung: „Ich erkenne die Bedeutung der fünf ständigen Mitglieder an, so wie ich die Bedeutung jedes Mitgliedstaats anerkenne.“

Im UN-Wahlkampf fallen Publikum und Wählerschaft auseinander

Das Wesen eines normalen Wahlkampfs besteht darin, dass Kandidaten vor den Bürgern, von denen sie gewählt werden wollen, durch öffentliche Auftritte um Stimmen werben. Im Wahlkampf um das UN-Generalsekretariat hingegen fallen Publikum und Wählerschaft auseinander: Die Kandidaten präsentieren sich vor der globalen Öffentlichkeit – aber die Stimmen, die sie brauchen, sind vor allem die der fünf Vetomächte im UN-Sicherheitsrat.

Der Spagat, den sie dabei zustande bringen, ist beeindruckend und wohl für sich allein schon ein Gewinn für die Vereinten Nationen: Dass wir öffentlich über die Besetzung des UN-Spitzenamts diskutieren, regt die globale Debatte an und trägt zum Entstehen einer globalen öffentlichen Meinung bei. Wenn wir die Weltpolitik demokratisieren wollen, kann das aber nur der erste Schritt sein. Der Sinn des gemeinsamen Diskutierens kann letztlich nur darin liegen, globale Fragen auch wirklich gemeinsam zu entscheiden.

PS

Und wer sind nun eigentlich die Wettquoten-Favoriten für das Amt des Generalsekretärs? Vor allem drei Kandidaten finden sich bei mehreren Buchmachern auf den ersten Plätzen: Helen Clark, Vuk Jeremić und die Bulgarin Irina Bokova (BSP/SI), mit einigem Abstand gefolgt von António Guterres und Danilo Türk. Allerdings unterscheiden sich die Quoten je nach Anbieter beträchtlich, was darauf hinweisen dürfte, dass insgesamt nicht allzu viele Wetten abgegeben wurden. So richtig kann eben doch niemand einschätzen, wie die Regierungen im Sicherheitsrat zuletzt auf diesen Wahlkampf reagieren werden.

Und dennoch: Wir sollten uns die Namen dieser fünf Menschen merken. Sie sind die ersten, die dem Wettstreit um das höchste Amt der Vereinten Nationen ein Gesicht gegeben haben.

Bild: By World Trade Organization from Switzerland [CC BY-SA 2.0], via Flickr.

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