Das Spitzenkandidaten-Verfahren sollte die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten demokratischer machen, aber unumstritten war es nie. Woran ist es 2019 gescheitert? Und wie ließe es sich reformieren? Auf diese Fragen antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Heute: Piret Kuusik. (Zum Anfang der Serie.)
- „Um sich voll ins Spitzenkandidaten-System einzubringen, brauchen Parteien Einfluss innerhalb ihrer europäischen Parteifamilien. Für kleine Staaten ist das ausgesprochen schwierig.“
Die Wahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat gezeigt, wie
verschwommen der Auswahlprozess für ihr Amt noch immer ist. Klar ist nur eines:
Ein richtiges und allgemein anerkanntes Verfahren muss noch gefunden werden.
Um meine Gedanken dazu zu entwickeln, werde ich im Folgenden zunächst die
estnische Erfahrung bei der Besetzung der EU-Spitzenämter im Mai 2019
beschreiben, gefolgt von einigen Gedanken zum Spitzenkandidatenverfahren.
Estland in der EU
Die estnische Rolle in der EU ist durch zwei Aspekte definiert. Erstens ist
es hinsichtlich Geografie, Ressourcen und institutionellem Gewicht ein kleines
Land. Zweitens ist Estland Teil der nordisch-baltischen Region, in der die
Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den Regionalmächten (die „Nordic-Baltic
6“: Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen und Schweden) auf einer
täglichen Basis stattfindet. Gemeinsam kann dieses NB6-Format in der EU ein
substantielles Gewicht auf die Waage bringen, wenn auch keine
Sperrminorität.
Im Europäischen Parlament hat Estland sechs Sitze. Vor der Europawahl 2019
setzten diese sich folgendermaßen zusammen: 3 ALDE, 1 EVP, 1 Sozialdemokrat, 1
Grüner. Nach der Wahl 2019 sind es 3 für Renew Europe, 2 Sozialdemokraten, 1 Identität
und Demokratie. Nach dem Brexit wird Estland einen weiteren Sitz gewinnen, der
an einen EVP-Kandidaten gehen wird.
Kein nordisch-baltischer Kandidat
Bei der Vergabe der EU-Spitzenämter schlug Estland keinen eigenen
Kandidaten vor. Es gab einen Moment, zu dem die estnischen Diplomaten die
Aussichten des früheren Kommissions-Vizepräsidenten und Kommissars für den
digitalen Binnenmarkt Andrus Ansip sondierten. Dies zeitigte jedoch keine
Früchte.
Auch die nordisch-baltische Region vereinigte sich nicht hinter einem
gemeinsamen Kandidaten. Margrethe Vestager aus Dänemark war die plausibelste
Option, aber aus mir unbekannten Gründen warf die Region nicht ihr Gewicht für
sie in die Waagschale. Bekannt ist außerdem, dass Dalia Grybauskaitė, die frühere Präsidentin von Litauen, Unterstützung für eine Bewerbung
als Ratspräsidentin suchte. Der estnische Premierminister Jüri Ratas
unterstützte sie, aber ihre Kandidatur blieb ohne Erfolg.
Der stille Zuschauer
Infolgedessen wurde Estland im Auswahlverfahren zu einem Außenseiter. Premierminister
Ratas vertrat zwei Prinzipien für die Auswahl: eine geografisch ausgewogene
Verteilung der Spitzenämter und eine Entscheidungsfindung im Konsens. Nichts
allzu Originelles also.
Die estnische Delegation fuhr zu dem entscheidenden Gipfel in Brüssel am
30. Juni 2019 in der Erwartung, dass die „Osaka-Vereinbarung“ – in der
Ratspräsident Donald Tusk und die Regierungen von Deutschland, Frankreich,
Spanien und den Niederlanden den SPE-Spitzenkandidaten Frans Timmermans als
Kommissionspräsident unterstützt hatten – Bestand haben würde. Premierminister Ratas verbrachte einen großen Teil seiner Zeit in dem
Raum der estnischen Delegation und wartete auf die Klingel, die die Staats- und Regierungschefs ins „Ei“
(den zentralen Tagungsraum des Ratsgebäudes) ruft. Zuweilen wurde er in
Präsident Tusks Büro gerufen, um Informationen zu erhalten oder Estlands
Sichtweise zu präsentieren.
Die estnische Delegation sollte eigentlich am 1. Juli nach Tallinn zurückfliegen.
Sie flog am 2. Juli. Zu dieser Zeit waren die Kandidaten vorgeschlagen worden
und die endgültige Entscheidung verlief schnell und glatt. Premierminister Ratas
gehörte jedoch weder zu der Gruppe, die den Osaka-Deal ablehnte, noch spielte er keine zentrale Rolle bei der
Einigung, die schließlich zu der Nominierung von der Leyens führte.
Was ist davon zu halten?
Was also ist davon zu halten? Zunächst einmal ist der Europäische Rat,
trotz der Spitzenkandidaten-Bemühungen des Parlaments, noch immer das
Machtzentrum im institutionellen System der EU. Der Vertrag von Lissabon hat
dem Europäischen Rat eine zentrale Rolle gegeben, die durch die jüngsten Krisen
noch weiter gestärkt wurde. Der Ausgangspunkt ist also, dass der Europäische
Rat und der Präsident der Europäischen Kommission miteinander zurechtkommen
müssen. Sie müssen notwendigerweise in Beziehung zueinander treten, wobei die
Kommission natürlich ihre Unabhängigkeit wahrt.
Die Legitimität der Europäischen Kommission geht deshalb in erster Linie
vom Rat aus. Das Europäische Parlament bringt durch das Bestätigungsverfahren
eine Bürgerkomponente hinzu.
Die EU ist kein Staat
Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Die EU wie ein staatliches
System zu behandeln oder sie in eines verwandeln zu wollen, ist nicht richtig.
Die EU ist ein System, in dem die Interessen der Völker, das gemeinsame
europäische Interesse und die nationalen Interessen fein ausbalanciert sind.
Die Versuche, die nationalen Interessen aus der Gleichung zu nehmen, führen zu
internen Kämpfen, Blockaden und letztlich zur Irrelevanz der EU.
Das Problem mit dem derzeitigen Spitzenkandidaten-System ist gerade dies –
es schließt nationale Interessen, namentlich den Rat, aus. Das ist der
Hauptgrund, weshalb das Verfahren gescheitert ist. Der EU das bekannte
Nationalstaatssystem überzustülpen, in dem die Regierung vom Parlament gewählt
wird, unterschlägt die Natur der EU als ein System fein abgestimmter Interessen
einer großen Zahl von Akteuren. Es war nur natürlich, dass der Rat seine Rolle
und Interessen schützen würde.
Verfahrensunsicherheit schadet der
Glaubwürdigkeit der EU
Nun mein dritter
Punkt: Die fehlende Klarheit des Auswahlverfahrens mindert die Glaubwürdigkeit
der EU insgesamt. Wie soll ich einem Bürger erklären, wie der Präsident der
Europäischen Kommission heute gewählt wird? „Der Vertrag sagt eine Sache, aber
die Praxis ist anders“ – ist das eine akzeptable Antwort? Wie soll man Unterstützung
und Interesse für die EU erzeugen, wenn die Antwort auf die Frage lautet: „Ein
bisschen so und ein bisschen so, aber es könnte auch ganz anders sein“?
Ich mache mir Sorgen,
dass die vorherrschende „Work in progress“-Einstellung der EU auf die Dauer
schaden wird. Die Unklarheit des Verfahrens führte dazu, dass die Botschaften
an die Wählerschaft vor der Wahl widersprüchlich und nicht immer richtig waren.
So wurden die Wahlen zum Europäischen Parlament in Estland diesmal als „europäische
Wahlen“ beworben und auf die Idee aufgebaut, dass die Bevölkerung eine Zukunft
der EU wählen und der Spitzenkandidat der Partei diese Vision dann umsetzen
würde. Nun – was soll man der Wählerschaft jetzt sagen? „Das war die Idee, aber
es hat nicht so recht geklappt. Aber geht bei der nächsten Wahl jedenfalls
wieder wählen!“?
Gleichheit unter Mitgliedstaaten
Viertens: Blickt man
in die Zukunft, muss die Debatte vom Prinzip der Gleichheit unter den Mitgliedstaaten
ausgehen. Der allgemeine Trend, dass Entscheidungen zunehmend abseits des
Verhandlungstischs fallen, ist besorgniserregend für die kleinen und mittleren
Mitgliedstaaten.
Ich denke hier
besonders an die erwähnte Vereinbarung auf dem G20-Gipfel in Osaka. Präsident
Emmanuel Macron, Kanzlerin Angela Merkel, Ratspräsident Donald Tusk, der
niederländische Premierminister Mark Rutte und der spanische Premierminister
Pedro Sánchez nahmen am 28./29. Juni 2019 an dem Treffen der
G20-Regierungschefs in Japan teil. Die europäischen Regierungschefs einigten
sich dort, die Kandidatur von Frans Timmermans, dem Spitzenkandidaten der
Sozialdemokraten, zu unterstützen. Sie kehrten mit diesem Vorschlag nach
Brüssel zurück, in der Annahme, dass die Dinge so laufen würden, und waren
überrascht, als viele Mitgliedstaaten (und nicht nur die Visegrád-4-Länder
Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) damit nicht einverstanden waren und
den Plan scheitern ließen.
Aber was für eine
politische Führungskultur, was für ein Sinn für Kollegialität spricht aus
diesem Beispiel? Wie könnte es akzeptabel sein, dass eine solche Entscheidung
von einer kleinen Anzahl an Ländern in einem exklusiven Format (und auf der
anderen Seite der Welt) getroffen und dann in Brüssel als beschlossene Sache
präsentiert wird?
Der Europäische Rat
hat 28 Mitglieder und arbeitet nach dem Prinzip „ein Land, eine Stimme“.
Gleichheit aller Mitgliedstaaten ist das Öl, das die EU am Laufen hält. Größere
Mitgliedstaaten haben schon viele Vorteile aufgrund ihrer umfangreicheren
finanziellen und personellen Mittel, ihrer Größe und Macht, die kleine
Mitgliedstaaten nicht besitzen. Das „Ein Land, eine Stimme“-Prinzip stellt
sicher, dass es dennoch eine gleichberechtigte Grundlage gibt und gemeinsames
Handeln möglich wird. Dieser Grundsatz muss deshalb aufrechterhalten werden.
Wenige Parteien können sich voll einbringen
Ein letzter Punkt: Ich denke, die eingangs beschriebene estnische Erfahrung zeigt gut, welche Unterschiede es zwischen den Mitgliedstaaten gibt, wenn es darum geht, sich auf europäischer
Ebene einzubringen. Insbesondere gibt es nur wenige politische Parteien und Mitgliedstaaten, die die Fähigkeit, das Wissen und die Netzwerke haben, um Politik auch auf europäischer Ebene zu betreiben.
Das
Spitzenkandidaten-System ist eng verbunden mit den europäischen
Parteienfamilien. Deutschland ist ein hervorragendes Beispiel, um zu
illustrieren, wie die CDU sowohl in der nationalen Politik als auch durch die
EVP auf europäischer Ebene aktiv ist. In ähnlicher Weise ist Präsident Macrons
Partei La République En Marche eng mit Renew Europe verbunden. Hier kommt der
Vorteil eines großen Staates zum Tragen. Im Gegensatz dazu hat Estland, wie
oben erwähnt, sechs Europaabgeordnete, die auf mehrere europäische
Parteienfamilien aufgeteilt sind. Und seien wir ehrlich – mit ein oder zwei
Mitgliedern hat man keinen großen Hebel, um etwas in einer europäischen
Fraktion zu erreichen.
Um sich voll in das
Spitzenkandidaten-System einzubringen, brauchen die nationalen Parteien eines Mitgliedstaats enge Verbindungen und Einfluss innerhalb ihrer europäischen
Parteifamilien im Europäischen Parlament. Für kleine Staaten ist das jedoch ausgesprochen schwierig, denn im Europäischen Parlament gibt es kein „Ein
Land, eine Stimme“-Prinzip. Für sie wird es deshalb immer schwer sein, einen
geeigneten Spitzenkandidaten vorzuschlagen oder den Spitzenkandidaten davon zu
überzeugen, die Interessen kleiner Staaten und ihrer Wählerschaft im Sinn zu
behalten.
Erst die lokale Wählerschaft für europäische Themen interessieren
Ausgehend vom
estnischen Beispiel kommt noch hinzu, dass das politische Geschehen auf
europäischer Ebene noch immer zu weit entfernt und geradezu unerreichbar
scheint. Parteien sind nicht besonders interessiert an Themen von gemeinsamem
europäischem Interesse, und die Verbindungen zwischen einer europäischen
Parteienfamilie und ihren lokalen Mitgliedsparteien sind oft eher nominell als
real. Das liegt nicht allein an der europäischen Ebene: Es gibt vieles, was die
lokalen Parteien selbst tun könnten, um sich enger mit ihren europäischen
Parteienfamilien zu verbinden. Aber es ist die Realität, die berücksichtigt
werden muss. Nicht alle Länder in der EU funktionieren nun einmal wie
Deutschland.
Das ist auch der
Grund dafür, dass ich noch immer skeptisch gegenüber transnationalen gesamteuropäischen
Wahllisten bin. Die Wählerschaft stellt keine Verbindung zwischen den lokalen
und den europäischen Parteien her, sodass die europäische Parteienlandschaft
auf lokaler Ebene unbekannt ist. Und die Wählerschaft mit unvertrauten Namen zu
konfrontieren und sie aufzufordern, zwischen ihnen eine demokratische
Entscheidung zu treffen, ist unfair und undemokratisch.
Kurz gesagt, gibt es kein europäisches Gemeinwesen, so gern die Freunde der
europäischen Politik auch eines sehen würden. Wissenschaftler, Politiker,
Bürokraten und Reformer müssen das berücksichtigen und nicht als ein lästiges
Ärgernis behandeln, das man schnell beiseiteschiebt. Wenn man die EU wirklich
demokratischer machen will, gilt es erst einmal die lokale Wählerschaft für
europäische Themen zu interessieren. Damit würde eine Grundlage geschaffen, auf
der dann visionärere gesamteuropäische Lösungen für die Reform der EU möglich
werden.
Piret Kuusik ist Junior Research Fellow am Estonian Foreign Policy Institute / International Centre for Defence and Security in Tallinn. |
Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht
- Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
- Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
- Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
- Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
- Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
- Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
- Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
- Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller
Bilder: Tallinn, Vabaduse väljak: Scotch Mist [CC BY-SA], via Wikimedia Commons; Porträt Piret Kuusik: Andres Teiss / ICDS [alle Rechte vorbehalten].
Übertragung aus dem Englischen: Manuel Müller.
Übertragung aus dem Englischen: Manuel Müller.
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