21 Februar 2020

Rituale einer Vetokratie: Die Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen

Alle sieben Jahre gibt es in der EU großen Streit ums Geld, an dessen Ende üblicherweise ein Kompromiss steht – aber keine Sinnstiftung.
In einer parlamentarischen Demokratie gehören Haushaltsdebatten regelmäßig zu den Höhepunkten des politischen Jahres. Ohne Geld können die meisten politischen Ziele nicht verwirklicht werden, Höhe und Ausgestaltung des Etats sind deshalb entscheidend für die Handlungsfähigkeit einer Regierung. Entsprechend war die power of the purse – die Macht, über Steuern und den Haushalt zu entscheiden – einer der wichtigsten Hebel, über den sich Parlamente in früheren Zeiten Einfluss auf die Regierungsführung sicherten. Und noch heute hängen die Stärke und Stabilität einer Regierung wesentlich davon ab, ob sie im Parlament eine Mehrheit für den von ihr gewünschten Haushalt erreicht. Haushaltsdebatten sind deshalb üblicherweise Generaldebatten, in denen über die großen demokratischen Richtungsentscheidungen gestritten wird. Sie zwingen die Regierung dazu, ihre Prioritäten zu begründen und ihrem Handeln einen übergeordneten Sinn zu unterlegen, und geben der Opposition Gelegenheit, Kritik zu üben und Alternativen zu präsentieren.

Einstimmigkeit

So weit die Praxis in einer parlamentarischen Demokratie. Und in der Europäischen Union? Hier sind die Dinge, wie so oft, ein wenig komplizierter. Zunächst einmal gibt es hier nicht nur den üblichen jährlichen Haushaltsplan, sondern darüber hinaus den „mehrjährigen Finanzrahmen“, der für jeweils sieben Jahre im Voraus die maximale Höhe der Ausgaben sowohl im Gesamtbudget als auch für die wichtigsten Politikbereiche festlegt. Außerdem liegt das Budgetrecht nicht allein beim Europäischen Parlament, sondern bei Parlament und Rat gemeinsam. Und dann muss der Rat den mehrjährigen Finanzrahmen (anders als den jährlichen Haushaltsplan) nach Art. 312 AEUV auch noch einstimmig beschließen.

Und das ist nur die Ausgabenseite. Für die Einnahmen der EU gibt es den sogenannten Eigenmittel-Beschluss, der üblicherweise für dieselbe Laufzeit verabschiedet wird wie der mehrjährige Finanzrahmen. Nach Art. 311 AEUV muss auch der Eigenmittelbeschluss von den Regierungen einstimmig beschlossen werden. Formal unterscheidet sich das Beschlussverfahren dadurch, dass das Europäische Parlament dem Finanzrahmen zustimmen muss, beim Eigenmittelbeschluss hingegen vom Rat überstimmt werden kann. In der Praxis sind beide Beschlüsse so eng miteinander verbunden, dass die Verhandlungen darüber in eins fallen.

Traumatische Verhandlungen

Und was für Verhandlungen! Die ersten Vorschläge für den nächsten Finanzrahmen und den neuen Eigenmittelbeschluss, die für den Zeitraum 2021-2027 gelten sollen, legte die Europäische Kommission bereits im Mai 2018 vor. Das Europäische Parlament verabschiedete mehrere Resolutionen (sowohl vor als auch nach der Europawahl 2019), in denen es seine eigene Position festlegte. Im Rat wiederum legten sowohl die österreichische Präsidentschaft 2018 als auch die finnische Präsidentschaft 2019 sogenannte „Verhandlungsboxen“ vor, die die Grundlage für weitere Diskussionen sein sollten.

Seit dem gestrigen Donnerstag tagt nun ein Sondergipfel des Europäischen Rates, der nach dem Wunsch von Ratspräsident Charles Michel (MR/ALDE) den Durchbruch bringen soll. Wirklich glauben will daran aber kaum jemand, zu weit sind die Positionen der einzelnen Regierungen voneinander entfernt. Als vor sieben Jahren das letzte Mal über den mehrjährigen Finanzrahmen verhandelt wurde, endete der erste Sondergipfel im Dezember 2012 ebenfalls ohne Erfolg, erst eine Wiederaufnahme zwei Monate später führte zu einer Einigung. Teilnehmer der damaligen Verhandlungen sprechen von „traumatischen“ Erfahrungen.

Warum so viel Streit und Frust?

Und das, obwohl der Haushalt der EU gerade einmal rund ein Prozent des europäischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht – während beispielsweise der deutsche Bundeshaushalt gut zehn Prozent des deutschen BIP beträgt (und die Staatsquote einschließlich Sozialversicherungen rund 45 Prozent). Selbst in absoluten Zahlen ist der deutsche Bundeshaushalt 2020 (362,0 Mrd. Euro) noch mehr als doppelt so groß wie derjenige der EU (168,7 Mrd. Euro).

Warum also fallen dann die Verhandlungen auf europäischer Ebene so viel nervenzehrender aus, warum sind sie mit so viel Streit und Frust verbunden?

Immer wieder ähnliche Grundkonflikte

Die Antwort auf diese Frage liegt, natürlich, im Verfahren. Durch die notwendige Einstimmigkeit im Rat kann jede nationale Regierung die Verhandlungen jederzeit durch ein Veto blockieren. Anders als in einer parlamentarischen Demokratie sind europäische Haushaltsdebatten deshalb weniger von der Auseinandersetzung über politische Prioritäten geprägt als vielmehr von dem Ziehen und Zerren der Mitgliedstaaten, von denen jeder in einem Nullsummenspiel das meiste für sich herauszuholen versucht.

Spätestens seit die britische Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er Jahren mit ihrem berühmten „I want my money back!“ über Jahre hinweg die Europapolitik lahmlegte, stehen dabei die jeweiligen nationalen Nettobeiträge im Zentrum der Debatte. Und alle sieben Jahre arbeitet sich die EU an immer wieder ähnlichen Grundkonflikten ab, bei denen immer wieder dieselben Interessen gegeneinanderstehen.

Der Streit um die Gesamthöhe des Haushalts

Der erste dieser Konflikte betrifft die Gesamthöhe der Ausgaben-Obergrenze. Natürlich ist die Höhe des Staatshaushalts auch in parlamentarischen Demokratien regelmäßig ein politisches Streitthema, wobei in der Regel liberale Parteien eher für ein kleines, linke Parteien für ein großes Budget plädieren. Auf europäischer Ebene hingegen besteht in der Kommission und unter den großen Fraktionen des Parlaments weitgehend Einigkeit, dass die EU eigentlich mehr Geld benötigt, um ihren Aufgaben nachzukommen. Hingegen sind es die nationalen Regierungen, und zwar speziell die Regierungen der Nettozahler-Staaten, die das europäische Budget klein halten wollen.

Neu an dieser Auseinandersetzung ist in diesem Jahr nur der Brexit. Zum einen führte er zu einer Verschiebung der Akteursebene: Während die lauteste Stimme unter den Haushalts-Kleinhaltern früher dem Vereinigten Königreich gehörte, sind es nun die sogenannten Frugal Four (Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden).

Zum anderen führte der Brexit auch zu einer Verschärfung des Problems, da mit Großbritannien ein wichtiger europäischer Nettozahler wegfällt. Damit die EU ihre finanzielle Handlungsfähigkeit auf dem bisherigen Niveau erhalten kann, müssten deshalb alle anderen Mitgliedstaaten ihre Nettobeiträge erhöhen. Geht es nach den Frugal Four, soll das Gegenteil passieren: Trotz der immer neuen Aufgaben der EU könnte der Anteil ihres Haushalts am BIP künftig deutlich kleiner ausfallen als im letzten Finanzrahmen.

Der Streit um die Prioritätensetzung

Ein zweiter ritueller Streit betrifft die Verteilung des EU-Haushalts auf die wichtigsten Politikbereiche. Seit den 1950er Jahren macht die gemeinsame Agrarpolitik den größten Posten im EU-Haushalt aus, seit den 1970ern kam als zweiter, etwa ebenso großer Posten die Struktur- und Kohäsionspolitik hinzu, mit der vor allem ärmere Mitgliedstaaten und Regionen gefördert werden. Angesichts der zahlreichen neuen Aufgaben der EU – etwa bei Klimaschutz, Digitalisierung, Forschung, innerer und äußerer Sicherheit – setzen sich Kommission und Parlament regelmäßig für eine Verschiebung der Ausgabenprioritäten zu diesen neuen Aufgaben ein.

Das Problem dabei: Bei Agrarpolitik und Strukturfonds lässt sich recht gut im Voraus berechnen, welche Mitgliedstaaten davon finanziell profitieren werden. Die nationalen Regierungen der Nettoempfängerländer haben sich deshalb zu strategischen Allianzen zusammengeschlossen (die „Friends of Cohesion“ und – etwas informeller – die „Friends of the Farmers“ oder „Friends of CAP“), um diese Ausgaben zu verteidigen.

Für die neuen Politikbereiche gibt es hingegen keine solchen eigeninteressegeleiteten Allianzen. Einige Nettozahler, etwa Deutschland, signalisieren zwar, dass sie zu höheren Beiträgen nur bereit sind, wenn diese für die richtigen „Zukunftsfragen“ verwendet werden. Trotzdem: Der einfachste Kompromiss zwischen den Frugal Four und den Friends of Cohesion besteht darin, bei Klimaschutz, Sicherheit und Forschung zu sparen.

Der Streit um die „politische Konditionalität“

Eine dritte Konfliktlinie in den diesjährigen Verhandlungen ist neu, in der Form ihrer Austragung aber ebenfalls nicht überraschend: Die Kommission und eine Reihe von Mitgliedsregierungen, vor allem Deutschland und die nordischen Länder, wollen Zahlungen aus den EU-Strukturfonds künftig daran koppeln, dass Mitgliedstaaten Prinzipien von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einhalten. Auf Widerstand stößt diese Idee wenig überraschend bei den Ländern, denen Verstöße gegen diese Prinzipien vorgeworfen werden – allen voran Ungarn und Polen.

Die Schlüsselfrage ist dabei, nach welchem Verfahren solche Verstöße festgestellt werden und eine Strukturfonds-Sperre verhängt werden kann. Geht es nach der Kommission, so soll die Entscheidung darüber bei ihr selbst liegen und nur gestoppt werden können, wenn der Rat sich mit qualifizierter Mehrheit dagegen ausspricht. Ratspräsident Charles Michel schlug hingegen zuletzt vor, dass eine Strukturfonds-Sperre nur verhängt wird, wenn der Rat mit qualifizierter Mehrheit dafür stimmt.

Setzt sich Michel damit durch, wäre die Lösung recht wahrscheinlich zahnlos: Die Erfahrung zeigt, dass die nationalen Regierungen im Rat sehr, sehr ungern Sanktionen gegen eine der ihren aussprechen und einer Entschlussfassung zu dem Thema wohl eher aus dem Weg gehen würden, als tatsächlich eine Sperre zu verhängen. Andererseits könnten vom EuGH verhängte Zwangsgelder der Kommission am Ende ohnehin noch einen anderen Weg eröffnen, um autoritären Mitgliedsregierungen Strukturfonds vorzuenthalten.

Der Streit um die Rabatte

Rituelle Konflikte gibt es aber nicht nur bei den Ausgaben, sondern auch auf der Einnahmenseite des EU-Haushalts. Einer dieser Konflikte betrifft die sogenannten „Haushaltskorrekturmechanismen“ (oder „Rabatte“), von denen verschiedene Nettozahler-Staaten derzeit profitieren. Der größte und bekannteste von ihnen war der „Britenrabatt“, durch den dem Vereinigten Königreich seit den 1980er Jahren ein beträchtlicher Anteil seines Nettobeitrags wieder zurücküberwiesen wurde. Aber auch Deutschland, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Österreich profitieren derzeit von Sonderregelungen, die ihren Anteil am EU-Haushalt verringern.

Diese Rabatte sind im Einzelnen schwer nachzuvollziehen und zu begründen: Immerhin führen sie dazu, dass einige der reichsten Mitgliedstaaten einen kleineren Anteil ihres BIP in den EU-Haushalt einzahlen als die ärmeren. Kommission und Parlament wollen sie deshalb seit langem gerne abschaffen. Im Rat wird diese Idee von den meisten Regierungen unterstützt, während die Rabatt-Profiteure wenig überraschend darauf beharren, sie auch in Zukunft beizubehalten.

Der Streit um die EU-Steuern

Und dann gibt es schließlich noch die Frage nach den Eigenmitteln. Nach Art. 311 AEUV soll sich der EU-Haushalt „komplett aus Eigenmitteln“ finanzieren; in der Anfangszeit der europäischen Integration waren das vor allem die gemeinsamen Zolleinnahmen. Doch da die Zollsätze im Lauf der Jahre sanken, während der Finanzbedarf der EU stieg, speist sich der größte Teil der EU-Einnahmen heute aus den sogenannten Bruttonationaleinkommen-Eigenmitteln – faktisch aus Beitragszahlungen der Mitgliedstaaten in Abhängigkeit von ihrer Wirtschaftskraft.

Da dieses System nationaler Beiträge die Nettozahler-Debatte befeuert, fordern Befürworter einer stärkeren supranationalen Integration schon seit längerem, künftig wieder verstärkt auf echte Eigenmittel zu setzen – also etwa auf Steuern, die direkt in den EU-Haushalt fließen. Konkret setzen Kommission und Parlament sich für eine europäische Plastiksteuer ein. Bei den nationalen Regierungen stieß diese Idee lange auf wenig Sympathien, wohl auch, weil sie ihre Möglichkeit einschränken würde, die eigenen nationalen Beiträge politisch auszuschlachten. Angesichts der Finanzierungslücke durch den Brexit scheint im Rat nun jedoch die Bereitschaft zu einer Plastiksteuer zu wachsen.

Am Ende steht Flickschusterei

Und wie werden all diese Streitigkeiten nun ausgehen? Zum großen Ritual der EU-Haushaltsverhandlungen gehört auch, dass sie am Ende nicht vollständig scheitern, sondern irgendeine Kompromisslösung zwischen den Regierungen gefunden wird – ob das nun an diesem Wochenende ist oder erst in einigen Wochen oder Monaten. Doch dieser Kompromiss wird nicht nach einem großen Wurf aussehen, sondern nach sehr viel Flickschusterei. Er wird eine große Zahl an kleinen Nebendeals, an Spezialrabatten und Sondertöpfen beinhalten, die einzelne Akteure zufriedenstellen, aber keinem übergeordneten Ziel folgen.

Anschließend wird noch einmal das Europäische Parlament ins Spiel kommen, das den Kompromiss des Europäischen Rates kritisieren, Nachbesserungen fordern und mit seinem eigenen Vetorecht drohen wird. Daraufhin wird es noch einmal Nachverhandlungen zwischen Parlament, Rat und Kommission geben, in denen allerdings keine allzu gravierenden Veränderungen mehr vorgenommen werden; schließlich lässt sich ein Kompromiss zwischen 27 Regierungen nicht so einfach wieder aufschnüren. Am Ende wird irgendwann in der zweiten Jahreshälfte 2020 der finale Finanzrahmen verabschiedet werden. Und eine von all dem zwischenstaatlichen Zank ausgelaugte europäische Öffentlichkeit wird das nur noch mit einem Achselzucken zur Kenntnis nehmen.

Ein fatales öffentliches Bild

Denn das ist letztlich der Effekt der Rituale der Vetokratie, wie sie in den Verhandlungen zum Finanzrahmen zum Tragen kommen. In der Theorie soll das nationale Vetorecht über das mehrjährige EU-Budget die Haushaltssouveränität der nationalen Parlamente sichern und damit die Akzeptanz der europäischen Integration in der Öffentlichkeit erhöhen.

In Wirklichkeit hingegen reduziert es die demokratische Kontrolle der Bürger, da diese im Rat allenfalls auf ihre jeweils eigene Regierung Einfluss nehmen können – nicht aber auf die Art der Kompromisse, mit denen die zahlreichen zwischenstaatlichen Konflikte in den Verhandlungen gelöst werden. Und am Ende steht in der Öffentlichkeit auch nicht eine höhere Zustimmung zur EU, sondern das fatale Bild einer Abfolge scheiternder Gipfel, bei denen jede nationale Regierung auf ihre eigenen Interessen pocht, ohne dass ein übergeordneter Sinn und eine nachvollziehbare gemeinsame Prioritätensetzung erkennbar würden.

Demokratie ist die Auswahl zwischen Alternativen, und eine demokratische Öffentlichkeit ist eine Öffentlichkeit, die dem Bürger diese Alternativen und seine Wahlmöglichkeiten verdeutlicht. Bei den europäischen Haushaltsverhandlungen ist davon nicht viel zu erkennen. 27 Vetospieler – 28 mit dem Europäischen Parlament – machen eine Menge Lärm, aber keinen politischen Diskurs. Alle sieben Jahre wieder.

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