- Viele Köche verderben den mehrjährigen Finanzrahmen. Und die öffentliche Debatte darüber gleich dazu.
Über die Einigung des
Europäischen Rates auf den neuen mehrjährigen Finanzrahmen ist in
den letzten Tagen viel geschrieben worden: dass er zu klein ist, dass er nicht in die Zukunft weist, dass er vor allem bei der Infrastruktur kürzt, dass die einzige Hoffnung nun darin besteht, der Eurozone ein eigenes, ambitionierteres Budget zu geben, dass in Kürze ohnehin das Europäische Parlament sein Veto einlegen und
dass die Abstimmung dort hoffentlich nicht geheim sein wird. Besonders
interessant fand ich jedoch einen kurzen Eintrag im Blog Polscieu, in dem Ron Patz feststellt, wie vielfältig
und kontrovers die Debatten über das Thema sind, und dann
schlussfolgert:
We seem far from being ruled by a dictatorship given the multitude of democratically elected voices. We seem far from being unable to reach compromises despite the differences in ideological and regional views.We seem far from censorship of European media, politicians or other individuals when it comes to European affairs. We seem far from having only technocratic European debates. We seem far from only hearing national politicians’ views on the national aspects of European politics.Listening to the 2014-2020 EU budget debate very much sounds like traditional democratic politics, with all its good and bad sides, all its deficiencies […] and all its great little moments. Could be worse.
Ich möchte da, mit allem
Respekt, ein paar Zweifel anmelden. Natürlich ist es richtig, dass
die Europäische Union keine Diktatur ist, die nur von Technokraten
beherrscht und in der jede abweichende Stimme unterdrückt wird. Aber
das ist ohnehin nur ein albernes Zerrbild der radikalen
Europaskeptiker. Das Demokratiedefizit der EU ist subtiler als das:
Es besteht darin, dass es den Teilnehmern in der europäischen
Öffentlichkeit bis heute nicht gelingt, in einer gemeinsamen
politischen Debatte ihre unterschiedlichen Positionen zu
kontrastieren, Alternativen aufzuzeigen und dann in den demokratisch
gewählten Organen zu richtungsweisenden Leitentscheidungen über die
künftige Ausgestaltung unseres Zusammenlebens zu gelangen.
Der Zweck einer
Haushaltsdebatte
Gerade
diese Vorgabe einer bestimmten Entwicklungsrichtung scheint mir die
wichtigste Funktion politischer Auseinandersetzungen über
öffentliche Haushalte zu sein. Mit der Verteilung von Finanzmitteln
auf unterschiedliche Politikbereiche werden zentrale strategische
Leitplanken gezogen, da sie das gesamte weitere staatliche Handeln
bedingen: Nur wo genügend Geld für Personal, für Material oder zur
Umverteilung vorhanden ist, kann die Exekutive auch konkrete
Maßnahmen ergreifen. Nicht umsonst war das Budgetrecht deshalb in
den halbdemokratischen Systemen des 19. Jahrhunderts meist der
entscheidende Hebel, über den die nationalen Parlamente Einfluss auf
die Regierungspolitik ausüben konnten. Und nicht umsonst dienen die
Haushaltsverhandlungen bis heute in den meisten Parlamenten der Welt
als Anlass für Generaldebatten, bei denen die Regierung um
Zustimmung für ihre politische Agenda wirbt, während die Opposition
ihrerseits die Gelegenheit nutzt, um mit den Fehlern der Regierung
abzurechnen und sich selbst als Alternative mit einem eigenen
Programm zu profilieren.
Und
wenn dies schon für die jährlichen Budgetdebatten zutrifft, um wie
viel mehr müsste es dann für einen „mehrjährigen Finanzrahmen“
gelten, der nicht nur die Schwerpunkte für das nächste Jahr
definiert, sondern gleich für den Rest dieses Jahrzehnts. Gerade
hier sollte man eine grundsätzliche strategische Auseinandersetzung
erwarten dürfen: Welchen Tätigkeiten sollte sich die Europäische
Union in Zukunft prioritär zuwenden? Welche Bereiche wollen wir
ausbauen, worauf wollen wir verzichten? In einem Wort: Wie stellen
wir uns das Zusammenleben in der europäischen Gesellschaft im Jahr
2020 vor – und welchen Beitrag kann und soll die europäische
Politik leisten, damit wir dorthin gelangen?
Das Verfahren muss die
Debatte strukturieren
Diese
Fragen sind von so grundsätzlicher Bedeutung, dass es nicht genügen
kann, wenn hier und dort ein Politiker oder Publizist seine Meinung
dazu verkündet und man zuletzt befriedigt nickend feststellt, dass
es ja anscheinend öffentliche Aufmerksamkeit gegeben hat und die
Beschlüsse deshalb schon irgendwie in Ordnung sein werden. Vielmehr
muss das politische Verfahren der Debatte eine gewisse Struktur
geben, durch die einerseits kollektive Lernprozesse in Gang gesetzt
werden (sodass alle Beteiligten zu dem gleichen Verständnis davon gelangen,
worum es bei den Verhandlungen überhaupt geht) und andererseits den
Bürgern aufgezeigt wird, auf welche Weise wir selbst auf die
getroffenen Entscheidungen Einfluss nehmen können.
Das
nationale Haushaltsverfahren gewährleistet diese Debattenstruktur
auf hervorragende Weise. Indem es die zahllosen Facetten der
politischen Realität auf einen klaren Gegensatz zwischen
Regierungsmehrheit und Opposition herunterbricht, bewirkt es (um mit
Niklas Luhmann zu sprechen) eine „Reduktion von Komplexität“ in
der öffentlichen Debatte: Die Regierung ist in der Pflicht, mit
ihrem Budgetentwurf einen politischen Kurs vorzuschlagen und ihm
einen übergeordneten Sinn zu geben, und die Opposition wird
entscheiden, an welchen Stellen sie die mögliche gesellschaftliche
Unzufriedenheit mit diesem Kurs aufgreift. Diese Sinngebung der
Regierung und diese Kritik der Opposition prägen dann auch die
öffentliche Auseinandersetzung – und zuletzt hat der Bürger bei
der nächsten Wahl die Möglichkeit, sich zwischen den beiden
Optionen zu entscheiden.
Das europäische
Haushaltsverfahren
Ganz
anders das Verfahren für den europäischen Haushalt, und speziell
für den mehrjährigen Finanzrahmen. Der Vorschlag hierfür stammt
zwar von der Europäischen Kommission (also gewissermaßen der
Regierung der EU), die auch versucht hat, ihn mit einer gewissen Sinngebung zu versehen. Doch statt dass nun im
Europäischen Parlament eine die Kommission stützende Mehrheit einen
Schlagabtausch mit einer kritischen Opposition führen würde, ging der Entwurf
erst einmal an den Europäischen Rat, also an 27 Staats- und
Regierungschefs, von denen jeder Einzelne ein Vetorecht besitzt. Und
von denen jeder Einzelne sich vor einer eigenen nationalen
Wählerschaft zu verantworten hat.
Zugegeben:
Noch niemals zuvor sind die Verhandlungen über den mehrjährigen
Finanzrahmen auf ein solches Medieninteresse gestoßen wie in diesem
Jahr. (Beim letzten Mal, 2005, fiel die große Budgetdiskussion allerdings mit der
Debatte über den wenige Wochen zuvor gescheiterten
EU-Verfassungsvertrag zusammen – sodass die Öffentlichkeit ohnehin
mit etwas anderem beschäftigt war.) Aber zu einem gemeinsamen
Deutungsmuster, worum es bei diesen Verhandlungen eigentlich geht und
welche Implikationen die verschiedenen Vorschläge haben werden, ist
die europäische Gesellschaft deshalb noch lange nicht gekommen. Wie
Benedicta Marzinotto treffend zusammenfasst, wird der EU-Haushalt „noch immer als ein
Anspruchshaushalt wahrgenommen, bei dem jeder Mitgliedstaat um
einen gerechten Rückfluss [ins eigene Land] kämpft“. Und der gemäßigt
EU-skeptische Thinktank Open Europe hat in einem Blogeintrag etwas spöttisch aufgelistet, wie nach dem
Gipfel fast alle Regierungschefs ihren jeweiligen nationalen Medien
zu erklären versuchten, warum gerade sie als Sieger aus den
Verhandlungen hervorgegangen waren.
Etwas für jeden –
aber wenig für die Union
Tatsächlich zeichnet sich der jüngste Beschluss des Europäischen
Rates (hier
im Wortlaut, hier
eine Übersicht über die wichtigsten Zahlen auf EurActiv) vor
allem dadurch aus, dass darin für jede nationale Öffentlichkeit ein
Bonbon versteckt wurde. So wurde der Wunsch Deutschlands und
Großbritanniens erfüllt, das Budget insgesamt zu reduzieren. Zugleich
aber blieben die von den süd- und osteuropäischen Mitgliedstaaten
eingeforderten Regionalfonds unangetastet, sodass in der Nettobilanz
der neue Budgetrahmen womöglich sogar zu einer größeren
Umverteilung zwischen reichen und armen Ländern führen wird. Auf
französischen Wunsch wurde die Struktur der Agrarausgaben kaum
reformiert (die Kommission hatte hier einen stärkeren Schwerpunkt
auf Umweltaspekte legen wollen), und natürlich werden weiterhin
etliche Millionen Euro für die sinnlosen und unter den Abgeordneten
verhassten monatlichen Umzüge des Europäischen Parlaments nach
Straßburg aufgewendet. Für alle möglichen Länder wurden außerdem
besondere Beitragsrabatte oder Sonderzulagen eingeführt, die
keinerlei Systematik folgen – Deutschland zum
Beispiel erhält 200 Millionen Euro „für Leipzig“. Und so noch dies und das.
Gekürzt
hingegen wurde vor allem bei den Bereichen, an denen keinem
Mitgliedstaat speziell gelegen ist: an der gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik, an der Entwicklungshilfe, an den Programmen zur
Förderung der Unionsbürgerschaft, an der grenzüberschreitenden
Verkehrs- und Energieinfrastruktur und natürlich an der Verwaltung.
So sollen alle europäischen Institutionen in den nächsten fünf
Jahren fünf Prozent ihres Personals einsparen – und die übrigen
Mitarbeiter dafür unbezahlt länger arbeiten.
Und die
Entscheidungsmacht der Bürger?
Irgendein übergeordneter Sinn oder ein klares politisches Ziel ist hinter diesem Finanzrahmen nicht zu erkennen. Das
Beste, was sich über den Europäischen Rat sagen lässt, ist, dass
er überhaupt zu einem Resultat kam, bei dem 27 nationale
Eigeninteressen befriedigt wurden. Tatsächlich
ist dies auch die Argumentationslinie in einem der wenigen positiven
Medienkommentare zu dem jüngsten Gipfel. Martin Winter lobt in der
Süddeutschen Zeitung die Einigung als das bestmögliche Ergebnis und
schreibt, es sei gut, dass der Finanzrahmen es jedem Mitgliedstaat
ermöglicht, „seinen praktischen Vorteil aus der Union zu ziehen“:
Und das nicht nur, weil ein Regierungschef, der als Verlierer nach Hause kommt, nicht gut gelitten ist. Wichtiger ist, dass die Zustimmung in der Bevölkerung zur EU auch davon abhängt, ob die Menschen Europa als eine ihnen wohltätig gesonnene Organisation empfinden.
Doch
auch diese Hoffnung trügt. Denn mehr noch als von der einen oder
anderen Milliarde, die ein Land weniger in den europäischen Haushalt
einzahlt oder mehr aus ihm herausbekommt, ist die Zustimmung der
europäischen Bürger zur EU davon abhängig, ob sie diese als
ein demokratisches System wahrnehmen, auf dessen Entscheidungen sie
selbst Einfluss nehmen können. Auf nationaler Ebene erfolgt dieser
Einfluss, siehe oben, durch die Wahlmöglichkeit zwischen
(mindestens) zwei klar abgegrenzten Alternativen: der Regierung und
den Oppositionsparteien. Aber in Europa?
In
der Praxis sind die Deals zwischen den Staats- und Regierungschefs
der Einwirkung der Bürger weitgehend entzogen. Natürlich, ich kann
bei der nationalen Wahl darüber abstimmen, wer mein Land im
Europäischen Rat vertreten soll. Aber solange dort ohnehin nur die
nationalen Interessen im Vordergrund stehen, macht dies für das
Endergebnis kaum einen Unterschied. Das Kräfteverhältnis zwischen
den verschiedenen nationalen Regierungen jedenfalls liegt außerhalb
der Reichweite meines Einflusses als Bürger.
Und
das Europäische Parlament? Nun, dort wird nicht nach Staaten,
sondern nach Fraktionen abgestimmt, und tatsächlich habe ich die
Möglichkeit, bei der Europawahl das Kräfteverhältnis zwischen den
Fraktionen selbst mitzubestimmen. Aber was ändert das? Da das Parlament sich gegen den Rat erfahrungsgemäß nur dann durchsetzen kann, wenn es geschlossen auftritt, gibt es dort kein Wechselspiel zwischen Mehrheit und Opposition: Erst zuletzt haben die Vorsitzenden der vier stärksten
Fraktionen den Entwurf des Europäischen Rats in einer gemeinsamen Erklärung kritisiert. Wenn ich diese Erklärung gut finde,
welche der vier Fraktionen soll ich dann wählen? Und wenn ich eher
auf der Seite des Europäischen Rates bin, wie könnte ich mich mit
dieser Haltung im politischen System bemerkbar machen?
Demokratie
ist die Auswahl zwischen Alternativen, und eine demokratische
Öffentlichkeit ist eine Öffentlichkeit, die dem Bürger diese
Alternativen und seine Wahlmöglichkeiten verdeutlicht. Bei den
europäischen Haushaltsverhandlungen ist davon bislang nicht viel zu
erkennen. 27 Vetospieler – 28 mit dem Europäischen Parlament – machen
vielleicht eine Menge Lärm, aber noch keinen politischen Diskurs.
Bild: von Dorri (Eigenes Werk) [CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.
Die Grundanalyse des demokratischen Streites ist korrekt, der Vergleich zur EU irreführend:
AntwortenLöschen"(Noch) Keine Vereinigten Staaten von Europa!"
http://kielspratineurope.eu/?p=1263
Hallo, Karsten,
Löschenvielen Dank für die ausführliche Kritik in deinem eigenen Blog - ich habe dir vor Ort mit einem Kommentar geantwortet.