Zur europäischen Einigung gibt es eine Reihe von Standardnarrativen – und der deutsche Bundespräsident
kennt sie alle. In seiner viel erwarteten Europa-Rede heute
(Wortlaut,
Video)
ließ Joachim Gauck von der Friedensstiftung über die
Wertegemeinschaft bis zur Selbstbehauptung als Global Player nichts
von dem aus, was man bereits hunderte Male zur Rechtfertigung des
Integrationsprozesses gehört hat. Er tat das vor einem großen Publikum, mit einer sonoren, vertrauenerweckenden Stimme und in angenehm unaufgeregter Weise, ganz wie es der präsidiale Habitus verlangt. Von neuen Akzenten aber war leider
nicht viel zu bemerken.
Deutsche Außenpolitik
oder supranationale Bürgerschaft?
Ein deutscher
Bundespräsident, der eine Ansprache über Europa hält, steht
notgedrungen vor einem Identitätskonflikt: Einerseits ist er von
Amts wegen Staatsoberhaupt und Repräsentant der Bundesrepublik, man
erwartet von ihm eine Sinnstiftung für das nationale
Zusammenleben. Andererseits
bringt es die Dynamik der europäischen Integration mit sich, dass
die europäische Gesellschaft staatenübergreifend zusammenwächst
und nationale Grenzen im Alltag der Bürger immer öfter
verschwimmen. Gauck musste sich deshalb entscheiden, an wen er sich
mit seiner Rede eigentlich wenden und was er darin erklären wollte:
„Europa“ als Teil der deutschen Außenpolitik, die er als
Staatsoberhaupt vertritt? Oder „Europa“ als gemeinsames
politisches System aller Unionsbürger, in dem er selbst jedoch keine
besonders wichtige Rolle einnimmt?
Der Bundespräsident aber löste dieses Dilemma in seiner gesamten Rede nicht auf, mehr
noch: er sprach es nicht einmal an. Einerseits erklärte er, er wolle
„als bekennender Europäer“ sprechen, und vermied jeden Bezug auf
sein nationales Amt. Andererseits aber erinnerte er auch daran, wie
„wir im Januar den 50. Jahrestag des Elysée-Vertrags gefeiert
haben“ – ein ausschließlich deutsch-französisches Jubiläum,
und nicht gerade eines, das für die Idee einer supranationalen Gemeinschaft steht. Auch als er, an „Engländer, Waliser, Schotten, Nordiren
und neue Bürger Großbritanniens“ gewandt, ausrief: „Wir möchten
Euch weiter dabeihaben!“, war nicht so ganz klar, um was für ein
„Wir“ es sich eigentlich handelte. Und als es am Ende der Rede
darum ging, dass „wir Deutschen“ aufgrund der Erfahrungen nach
dem Zweiten Weltkrieg „tief in unserem Inneren“ ganz besonders
mit Europa verbunden seien, da hatte Gauck gänzlich zu einer
nationalen Perspektive zurückgefunden.
Nun
könnte man dem Bundespräsidenten zugute halten, dass es gerade eine
der Aussagen seiner Rede war, dass die Zugehörigkeit zu Europa und
zu einem Nationalstaat nicht im Widerspruch zueinander stehen müssen:
„Europäische Identität löscht weder regionale noch nationale
Identität, sondern existiert neben diesen.“ Doch der
sozialpsychologische Gemeinplatz, dass derselbe Mensch sich mehreren
politischen Kollektiven gleichzeitig zugehörig fühlen kann,
bedeutet noch nicht, dass man zwischen diesen Identitäten nicht
unterscheiden sollte. Im Gegenteil: Ob wir Europapolitik in erster
Linie als innere Angelegenheit der europäischen Bürgerschaft oder
als Teil der Außenpolitik der nationalen Staatsvölker verstehen,
hat elementare Auswirkungen auf die Frage, wie das institutionelle
Gleichgewicht zwischen den EU-Organen gestaltet sein sollte. Gaucks
Mäandern zwischen einem nationalen und einem europäischen „Wir“
übertünchte dieses Problem, statt eine Antwort darauf zu geben.
Die Quelle der
europäischen Identität
Worum
aber ging es nun eigentlich in der Rede? Seinem eigenen Bekenntnis
nach wollte der Bundespräsident sich in dem Vortrag „vergewissern,
was Europa bedeutet hat und bedeutet und welche Möglichkeiten es
weiter in sich trägt“. Hierfür zog er zunächst einen großen
historischen Bogen über Jean Monnet zu Walther Rathenau und zurück
bis zur Eurokrise, um schließlich zu konstatieren, dass zwar die
Europaskepsis zunehme, aber die Mehrheit sich dennoch bewusst sei,
dass die EU „große politische und wirtschaftliche Vorteile“
biete. Dieser Gegensatz sei „nur auf den ersten Blick
widersprüchlich“; was er auf den zweiten Blick sei, wurde leider
nicht erklärt.
Anschließend
ging es dann ausführlich um die europäische Identität. Diese
würden die Europäer vor allem dann verspüren, wenn sie sich
außerhalb des eigenen Kontinents befänden. Im Inneren hingegen sehe
es etwas problematischer aus: Einen „Gründungsmythos nach Art
einer Entscheidungsschlacht“ oder „einer erfolgreichen
Revolution“ habe Europa nicht, und auch wenn es stattdessen auf
Frieden, Freiheit und Erasmus zurückblicken könne, gebe es nun
einmal keine „europäische Nation“. Als „identitätsstiftende
Quelle“ könne allenfalls ein „im Wesen zeitloser Wertekanon“
dienen, Dinge wie „Demokratie und Rechtsstaatlichkeit“,
„Gleichheit, Menschenrechte und Solidarität“. Und bevor nun
irgendjemand den Einwand erheben konnte, dass es sich dabei doch
eigentlich um universelle und von Menschen auf der ganzen Welt
geteilte Werte handelte, schob Gauck noch rasch hinterher, dass sich
die europäische Identität „nicht durch die negative Abgrenzung
vom anderen“ definiere – freilich nur um einige Minuten später
recht unbeschwert zu erklären, dass sich „in der globalisierten
Welt von heute mit den großen neuen Schwellenländern […] im
besten Fall ein vereintes Europa als Global Player behaupten“
könne.
Institutioneller
Rahmen
Nachdem
das Identitätsproblem damit, wenn auch nicht gänzlich befriedigend,
gelöst war, wandte sich Gauck konkreteren Fragen zu: dem
institutionellen Rahmen der Europäischen Union. Dieser werde gerade
„intensiv diskutiert“, wobei einige eine „föderale Union“
und die „Erweiterung der Rechte des Europaparlaments“ anstrebten
(übrigens das einzige Mal in der Rede, dass eines der
supranationalen EU-Organe genannt wurde). Andere wollten lediglich
den „Status quo“ wahren, wieder andere „die europäische Ebene
am liebsten reduzieren“. Gauck selbst sprach sich für eine
„weitere innere Vereinheitlichung“ aus, wollte sich jedoch in der
laufenden Debatte nicht vorschnell festlegen und lieber innehalten,
„um uns gedanklich und emotional zu rüsten für den nächsten
Schritt, der Neues von uns verlangt“. Denn „Takt und Tiefe der
europäischen Integration werden letztlich von den Bürgerinnen und
Bürgern bestimmt“ – aha.
Mehr
als Exkurs folgte dann ein Appell an die britischen Bürger, doch bitte Mitglieder der Union zu bleiben, und eine Versicherung an „alle
Bürgerinnen und Bürger in den Nachbarländern“, dass sie vor der
derzeitigen Rolle Deutschlands im Integrationsprozess keine Angst zu
haben brauchten. Niemand hier strebe ein „deutsches Diktat“ an,
und wenn die Bundesregierung in der Eurokrise die südeuropäischen
Mitgliedstaaten gegen den mehrheitlichen Willen der dortigen
Bevölkerung auf einen ökonomisch unsinnigen Austeritätskurs
gezwungen habe, so wolle sie damit nur ihre eigenen guten Erfahrungen
bei der Hartz-IV-Einführung weitergeben. (Letzterer Satz war in der
Rede etwas anders formuliert.)
Dass
die Angst vor einem deutschen Übergewicht im Europäischen Rat
durchaus auch strukturelle Gründe hat, denen durch institutionelle Reformen abgeholfen werden müsste, wurde von Gauck nicht weiter thematisiert – so wenig
wie all die anderen demokratischen Unzulänglichkeiten der heutigen
EU. Als Hauptproblem identifizierte er stattdessen die „unzureichende
Kommunikation innerhalb Europas“, die dazu führe, dass den Bürgern
in jedem der 27 Mitgliedstaaten in ihren Medien eine andere
Perspektive auf die gemeinsame Politik vermittelt werde.
Europäische
Öffentlichkeit
Diese
Diagnose eines europäischen Öffentlichkeitsdefizits ist freilich
nicht ganz neu – in den Sozialwissenschaften wird dieses Problem
bereits seit rund zwanzig Jahren diskutiert, und sogar ich selbst habe dazu vor
einiger Zeit einmal eine Konferenz organisiert. Umso trivialer waren die
Lösungsansätze, die der Bundespräsident vorschlug: mehr
Mehrsprachigkeit für alle (aber welcher Schüler hat heutzutage
keinen Englischunterricht?), einen gesamteuropäischen Fernsehkanal
(aber warum sollte der erfolgreicher sein als das 1993 gegründete
Euronews?) und überhaupt mehr
Medienberichte über europapolitische Themen. Kein Wort fiel hingegen
über den Zusammenhang zwischen der institutionellen Ausgestaltung
des politischen Systems und der Art, wie die Medien darüber
berichten – kein Wort darüber, dass politische Verfahren die öffentliche Debatte vorstrukturieren und dass wir
eine „europäische Agora“, wie sie Gauck vorschwebt, ohne eine
echte Opposition im Europäischen Parlament und ohne Europawahlen,
deren Ergebnisse auch wirklich über die weitere Richtung der EU
entscheiden, wohl nie bekommen werden.
Stattdessen
fand Gauck in der Schlussphase der Rede noch einmal zu einem seiner
Lieblingsthemen: die „Bürgergesellschaft“. „Frage
nicht, was Europa für Dich tun kann, frage vielmehr, was Du für
Europa tun kannst!“, appellierte er, und für alle, denen dieser
Satz zu abgedroschen klang, brach er ihn gleich noch auf drei, nun
ja, konkrete Forderungen an die Bürger herunter: „Sei nicht
gleichgültig!“, „Sei nicht bequem!“ und „Erkenne deine
Gestaltungskraft!“ Na, wenn es weiter nichts ist … Und doch
blieb beim Zuhörer ein leises Gefühl zurück, dass die
Legitimationsprobleme der Europäischen Union womöglich doch ein
bisschen tiefer gehen, als dass man sie allein auf ignorante Medien oder
faule Bürger zurückführen könnte.
Standardnarrative in
staatstragendem Tonfall
Es
gibt zur europäischen Einigung eine Reihe von Standardnarrativen,
und Joachim Gauck hat sie in seiner viel erwarteten Europa-Rede mit
pastoraler Stimme und staatstragendem Tonfall sauber vorgetragen. Das
ist mehr, als die meisten deutschen Politiker in den vergangenen
Jahren getan haben, und vielleicht schon deshalb ein Verdienst; der
Spiegel-Online-Kommentator Severin Weiland zum Beispiel ist
ganz enthusiastisch deswegen. Doch wirklich vorangebracht hat diese
Ansprache die europapolitische Debatte wohl nicht. Antworten auf die
zentrale Frage, wie unser gemeinsames politisches System in Zukunft
aussehen könnte, werden wir Europäer woanders suchen müssen.
Bild: By Tohma (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.
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