- Ob diese drei Herren noch im Amt sein werden, wenn die transatlantische Freihandelszone einmal in Kraft tritt?
Die EU will sie. Die USA
wollen sie. Und schon 2015 soll sie in Kraft treten: Seit Präsident
Barack Obama sich Anfang der Woche in seiner Rede zur Lage der Union
(Wortlaut)
zu dem Ziel einer europäisch-amerikanischen Freihandelszone bekannt hat,
beflügelt das Thema die Phantasie der Transatlantiker. Beobachten
wir gerade eine Rückbesinnung auf alte Allianzen und den
Wiederaufstieg des Westens auf der weltpolitischen Bühne? Oder
geht es um einen fundamentalen Umbruch in den globalen
Handelsbeziehungen, um den Anfang vom Ende der
Welthandelsorganisation WTO, wie wir sie kennen? Und was ist
eigentlich der Zweck des ganzen Projekts?
Es sind vor allem zwei Dinge, die ihre Befürworter von der Freihandelszone erhoffen. Doch es sieht nicht so aus, als könnte sie diese Hoffnungen am Ende auch erfüllen.
Wachstumsschub durch
den Abbau von Handelshemmnissen
Das erste der beiden Ziele sprach Barack Obama selbst in seiner Rede an, als er
erklärte, dass „fairer und freier Handel über den Atlantik
Millionen gut bezahlter amerikanischer Jobs“ schaffen werde: Wie
jeder VWL-Student weiß, sind offene Märkte gut für das Wirtschaftswachstum, und zwar für beide
Partner eines Freihandelsabkommens. Gewiss, diese Vorteile sind
zwischen den Branchen manchmal recht einseitig verteilt, und etliche
Unternehmen würden die verstärkte Konkurrenz von der anderen Seite
des Atlantiks nicht überleben. Aber über die gesamte
Volkswirtschaft betrachtet ist der Abbau von Zöllen praktisch immer
profitabel – und die Ungleichgewichte müsste man eben durch
Umverteilung auffangen.
Allerdings haben in den letzten fünfundsechzig Jahren (seit
Abschluss des Allgemeinen Zoll- und
Handelsabkommens GATT 1948 und vor allem seit Gründung der WTO 1994)
eine Vielzahl von Welthandelsrunden ohnehin zu einer ständigen
Reduzierung von Importzöllen geführt, sodass diese heutzutage für
die Wirtschaftsentwicklung kaum noch von Bedeutung sind. So schrieb
der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman erst vor einer Woche in
seinem Blog vom „Tod des Protektionismus“ und verwies dabei auf
eine Studie
der amerikanischen Außenhandelskommission, derzufolge die sofortige Abschaffung
sämtlicher noch existierender Importzölle und -quoten den USA einen
Wohlfahrtsgewinn von gerade einmal 0,01% des Bruttoinlandsprodukts
verschaffen würde.
Einen relevanten
Unterschied könnte das Freihandelsabkommen also allenfalls dadurch
machen, dass es die heute oft noch recht unterschiedlichen
Industrienormen und Standards der EU und der USA etwa beim Umwelt-
und Verbraucherschutz, beim geistigen Eigentum oder bei der
Produktsicherheit vereinheitlichen würde. Diese unterschiedlichen
Standards wirken bislang teilweise als faktische Handelshemmnisse,
etwa wenn in den USA erzeugte Lebensmittel nicht den
EU-Gesundheitsnormen entsprechen. Mindestens jedoch sind sie für
Unternehmen ein bürokratisches Hindernis, da sie oft für dasselbe Produkt auf jedem
der beiden Märkte eine gesonderte Zulassung beantragen müssen. Es
sind deshalb vor allem diese Barrieren, von deren Abschaffung sich
die Befürworter des Freihandelsabkommens einen Wachstumsschub von bis zu 1,5% des Bruttoinlandsprodukts erwarten.
Weltpolitischer
Einfluss durch einen gemeinsamen Absatzmarkt
Die Industrienormen und
Standards stehen auch im Mittelpunkt des zweiten Grunds, der aus
Sicht der amerikanischen und europäischen Politiker für die
Freihandelszone spricht – und der für feierliche Ansprachen etwas
schlechter geeignet ist, in der Praxis aber keine geringere Rolle
spielen dürfte als der erste. Die Definition von Produktnormen ist
nämlich nicht nur eine technische, sondern auch eine politische
Entscheidung, die oft große Verteilungseffekte haben kann.
Infolgedessen haben alle Staaten ein Interesse daran, dass möglichst
ihre eigenen Normen sich auch international durchsetzen. Wesentlich für die
Frage, wie viel wirtschaftspolitischen Einfluss ein Land auf globaler
Ebene ausüben kann, ist aber vor allem die Größe seines
Absatzmarktes – einfach weil Drittstaaten, die ihre Waren dort
verkaufen wollen, sich an den Standards orientieren müssen, die das
Importland ihnen vorgibt. In der Vergangenheit hatten sowohl die
EU als auch die USA immer einen so hohen Anteil an der globalen
Wirtschaft, dass Unternehmen auf der ganzen Welt nicht umhin kamen,
ihre jeweiligen Vorgaben zu erfüllen. Inzwischen jedoch beginnen
Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien aufzuschließen,
während der europäische und amerikanische Anteil an den
Weltimporten seit Jahren rückläufig ist. Wenn aber der Rest der
Welt die EU und die USA nicht mehr unbedingt als Kunden benötigt,
sinkt mit der Zeit auch deren politischer Einfluss.
Doch wenngleich die EU
und die USA jeder für sich an Bedeutung verlieren, würden sie
gemeinsam noch immer ein größeres Gewicht aufbringen, als es
jeder Einzelne von ihnen je hatte. Wenn durch das transatlantische
Freihandelsabkommen also ein gemeinsamer Absatzmarkt mit
einheitlichen Standards entsteht, so wäre dieser für den Rest der
Welt weiterhin unumgänglich. Im besten Fall könnte es den Europäern
und Amerikanern zuletzt gelingen, ihre bilateral ausgehandelten
Normen auch allen anderen aufzudrängen – sei es im Rahmen der WTO
oder über gesonderte Abkommen mit Drittstaaten etwa in Afrika und
Südamerika. Nicht umsonst wurde die transatlantische Freihandelszone
deshalb auch als „Handels-NATO“ bezeichnet: ein Bündnis der
westlichen Länder, um sich für den globalen Machtkampf zu rüsten
und ihre gemeinsamen Interessen gegenüber den aufstrebenden
Schwellenländern zu verteidigen.
Vorbild Binnenmarktprojekt?
Sowohl
für den erhofften Wachstumsschub als auch für den weltpolitischen
Einfluss ist es also notwendig, dass sich die EU und die USA auf
gemeinsame Standards einigen. Die Agenda ihrer Verhandlungen erinnert
deshalb in gewisser Weise an das berühmte „Binnenmarktprojekt“,
mit dem die EG-Mitgliedstaaten in der Zeit von 1986 bis 1993 ihre
zuvor jeweils nationalen Produktstandards aneinander anglichen, indem
sie – von der Abgasrichtlinie bis zur Gurkenkrümmungsverordnung –
neue, europaweite Normen schufen. Tatsächlich führte das
Binnenmarktprojekt zu einer starken Vereinfachung des
innereuropäischen Handels und stärkte die EU auf der
internationalen Bühne. Könnte das transatlantische Abkommen
denselben Effekt erzielen?
Offen
gesagt: Ich glaube nicht. Denn der Vergleich zwischen dem
Binnenmarktprojekt und den transatlantischen Verhandlungen zeigt auch
einen wesentlichen Unterschied: Die EG schaffte 1986 in der
Einheitlichen Europäischen Akte eigens für den Binnenmarkt das nationale Vetorecht ab, um zu verhindern, dass
einzelne Mitgliedstaaten das Bemühen um einen gemeinsamen Standard
blockieren konnten. Und auch nach 1993 sorgt das Mehrheitsverfahren
dafür, dass die EU recht schnell zu neuen gemeinsamen Regelungen
finden kann, wenn diese notwendig werden.
Die Freihandelszone
wird zu schwerfällig sein
Das
transatlantische Freihandelsabkommen hingegen wäre ein
völkerrechtlicher Vertrag, dem nicht nur die US-Regierung und die
Europäische Kommission zustimmen müssten, sondern der auch einer
Ratifikation durch den amerikanischen Kongress, das Europäische
Parlament und den Rat der EU bedürfte. Die Anzahl der
Veto-Spieler ist also viel größer, und angesichts der zahlreichen und gravierenden Interessengegensätze, die bei der
Vereinheitlichung von hunderten von Einzelnormen zu Tage treten
dürften, ist zu erwarten, dass die Verhandlungen sich jedenfalls
über lange Jahre hinziehen werden – falls sie überhaupt
erfolgreich sind und nicht unter dem Druck einflussreicher
Lobbygruppen zu Fall gebracht werden wie 2012 das
Antipiraterieabkommen ACTA. Die ACTA-Gegner jedenfalls laufen sich auch für den Kampf gegen das Freihandelsabkommen bereits warm.
In der Zeit aber, in der die europäischen
und die amerikanischen Politiker um eine Einigung ringen, wird sich
natürlich auch die wirtschaftliche Welt weiterentwickeln. Neue
Branchen werden entstehen und neue Technologien erfunden werden, die
wiederum neue Industriestandards erforderlich machen. Wenn die
gemeinsamen transatlantischen Normen endlich in Kraft getreten sind,
könnte ein Teil von ihnen deshalb schon bald wieder veraltet sein:
im besten Falle irrelevant, im schlechteren selbst ein bürokratisches
Hindernis. Aber sie zu überarbeiten würde dann wiederum ein neues
Abkommen erforderlich machen, in dem wieder beide Parlamente ein
Vetorecht hätten und es wieder zu langen Verhandlungen käme.
Kurz
gesagt: Die transatlantische Freihandelszone erscheint mir in der
Form, wie sie jetzt geplant wird, viel zu schwerfällig, als dass sie
die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen könnte. Allenfalls wäre es
möglich, die am stärksten umstrittenen Politikfelder einfach
auszusparen, sodass in einigen Jahren ein begrenztes Abkommen steht,
das den ein oder anderen verbliebenen Zoll abschafft und die ein oder
andere Norm vereinheitlicht. Aber der ganz große transatlantische
Binnenmarkt, der unsere Wirtschaft in neuen Schwung versetzt und
unsere Machtstellung in der Welt sichert, wird auf diese Weise nicht
entstehen.
Eine supranationale
Atlantische Union?
Eine
Lösung freilich gäbe es, wenn der EU und den USA das Ziel
tatsächlich wichtig wäre: Statt auf die Harmonisierung des materiellen Rechts könnten sich die beiden Länder auf institutionelle Reformen konzentrieren.
Statt selbst alle gemeinsamen Normen einzeln auszuhandeln,
könnten sie zum Beispiel einen gemeinsamen Ausschuss schaffen, dessen
Mitglieder von beiden Seiten einvernehmlich ernannt und mit der
Festlegung dieser Industriestandards beauftragt werden. Die
Beschlüsse dieses Ausschusses könnten dann automatisch in Kraft
treten, sofern nicht die Regierungen oder Parlamente beider
Länder (also Kommission und US-Regierung oder Europaparlament und
Kongress) sie ablehnen. Damit hätte niemand mehr allein ein
Vetorecht, um Entscheidungen zu blockieren; mit dem gemeinsamen
Ausschuss wäre eine effiziente transatlantische Institution
geschaffen, die vermutlich in recht kurzer Zeit Erfolge bei der
Angleichung der Standards zeigen würde.
Aber
natürlich würde der Ausschuss dann innerhalb kurzer Zeit auch eine
Menge Kritik aus der Bevölkerung auf sich ziehen: Die einen würden
ihn beispielsweise für zu restriktiv halten und sich beschweren,
dass er mit seinen hohen Verbraucherschutzauflagen die Landwirtschaft
unnötig verteuere. Die anderen fänden ihn zu liberal, da sein
Umweltstandard für Kfz-Motoren zu viele Ausnahmen bei Geländewagen
vorsähe. Manche würden sich dafür einsetzen, dass er möglichst
viele Regeln erlässt, um der Konkurrenz aus China und Indien den
Marktzugang zu erschweren. Wieder andere wären dafür,
aus Gründen des Bürokratieabbaus möglichst alle Normen einfach
abzuschaffen. Am Ende ginge es dem gemeinsamen Ausschuss dann so wie
der EG nach 1986: Als die Harmonisierung der Industriestandards sich
im Alltag der Menschen bemerkbar machte, wurde immer öfter der
Vorwurf laut, die Gemeinschaft sei nicht genügend demokratisch
legitimiert. Um dem entgegenzutreten, erhielt im Vertrag von
Maastricht 1992 das Europäische Parlament erstmals ein
Mitentscheidungsrecht bei der Binnenmarkt-Gesetzgebung. Auf die
gleiche Weise könnten EU und USA sich schließlich genötigt sehen,
dem gemeinsamen Ausschuss ein supranationales Atlantisches Parlament
an die Seite zu stellen.
Und
dann würden, wiederum nach ein paar Jahren, der gemeinsame Ausschuss
und das Atlantische Parlament Lust verspüren, sich nach neuen
Tätigkeitsfeldern umzusehen. Denn wenn sie schon die Normen für den
atlantischen Binnenmarkt festlegen, warum sollten sie sich dann nicht
auch um gemeinsame Sozialstandards kümmern? Oder um die gemeinsame
Außenhandelspolitik? Oder die Außenpolitik überhaupt? Und nach und
nach würden EU und USA in einer supranationalen Atlantischen Union
verschmelzen …
Aber
nein, dazu wird es natürlich nicht kommen – denn für eine solche
Souveränitätsübertragung ist den Europäern und Amerikanern das Ziel eines gemeinsamen Marktes mit
einheitlichen Industriestandards derzeit dann doch nicht wichtig genug. Weder der US-Kongress noch das Europäische Parlament werden deshalb auf ihr Vetorecht verzichten, geschweige denn ein neues überstaatliches Gremium einrichten wollen. Und so werden wir stattdessen wohl nur erleben, wie demnächst mit viel transatlantischem Pathos die offiziellen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen beginnen, das am Ende vielleicht die ein oder andere
Handelserleichterung bringen, aber jedenfalls nicht die Welt verändern wird.
Bild: By White House [Public domain], via Wikimedia Commons; eigene Grafik (Datenquelle: Eurostat).
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