18 Februar 2013

No Big Deal: Eine transatlantische Freihandelszone wird die Welt nicht verändern

Ob diese drei Herren noch im Amt sein werden, wenn die transatlantische Freihandelszone einmal in Kraft tritt?
Die EU will sie. Die USA wollen sie. Und schon 2015 soll sie in Kraft treten: Seit Präsident Barack Obama sich Anfang der Woche in seiner Rede zur Lage der Union (Wortlaut) zu dem Ziel einer europäisch-amerikanischen Freihandelszone bekannt hat, beflügelt das Thema die Phantasie der Transatlantiker. Beobachten wir gerade eine Rückbesinnung auf alte Allianzen und den Wiederaufstieg des Westens auf der weltpolitischen Bühne? Oder geht es um einen fundamentalen Umbruch in den globalen Handelsbeziehungen, um den Anfang vom Ende der Welthandelsorganisation WTO, wie wir sie kennen? Und was ist eigentlich der Zweck des ganzen Projekts?

Es sind vor allem zwei Dinge, die ihre Befürworter von der Freihandelszone erhoffen. Doch es sieht nicht so aus, als könnte sie diese Hoffnungen am Ende auch erfüllen.

Wachstumsschub durch den Abbau von Handelshemmnissen

Das erste der beiden Ziele sprach Barack Obama selbst in seiner Rede an, als er erklärte, dass „fairer und freier Handel über den Atlantik Millionen gut bezahlter amerikanischer Jobs“ schaffen werde: Wie jeder VWL-Student weiß, sind offene Märkte gut für das Wirtschaftswachstum, und zwar für beide Partner eines Freihandelsabkommens. Gewiss, diese Vorteile sind zwischen den Branchen manchmal recht einseitig verteilt, und etliche Unternehmen würden die verstärkte Konkurrenz von der anderen Seite des Atlantiks nicht überleben. Aber über die gesamte Volkswirtschaft betrachtet ist der Abbau von Zöllen praktisch immer profitabel – und die Ungleichgewichte müsste man eben durch Umverteilung auffangen.

Allerdings haben in den letzten fünfundsechzig Jahren (seit Abschluss des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT 1948 und vor allem seit Gründung der WTO 1994) eine Vielzahl von Welthandelsrunden ohnehin zu einer ständigen Reduzierung von Importzöllen geführt, sodass diese heutzutage für die Wirtschaftsentwicklung kaum noch von Bedeutung sind. So schrieb der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman erst vor einer Woche in seinem Blog vom „Tod des Protektionismus“ und verwies dabei auf eine Studie der amerikanischen Außenhandelskommission, derzufolge die sofortige Abschaffung sämtlicher noch existierender Importzölle und -quoten den USA einen Wohlfahrtsgewinn von gerade einmal 0,01% des Bruttoinlandsprodukts verschaffen würde.

Einen relevanten Unterschied könnte das Freihandelsabkommen also allenfalls dadurch machen, dass es die heute oft noch recht unterschiedlichen Industrienormen und Standards der EU und der USA etwa beim Umwelt- und Verbraucherschutz, beim geistigen Eigentum oder bei der Produktsicherheit vereinheitlichen würde. Diese unterschiedlichen Standards wirken bislang teilweise als faktische Handelshemmnisse, etwa wenn in den USA erzeugte Lebensmittel nicht den EU-Gesundheitsnormen entsprechen. Mindestens jedoch sind sie für Unternehmen ein bürokratisches Hindernis, da sie oft für dasselbe Produkt auf jedem der beiden Märkte eine gesonderte Zulassung beantragen müssen. Es sind deshalb vor allem diese Barrieren, von deren Abschaffung sich die Befürworter des Freihandelsabkommens einen Wachstumsschub von bis zu 1,5% des Bruttoinlandsprodukts erwarten.

Weltpolitischer Einfluss durch einen gemeinsamen Absatzmarkt

Bedeutungsverlust: Anteil der EU und der USA an den weltweiten Importen.
Die Industrienormen und Standards stehen auch im Mittelpunkt des zweiten Grunds, der aus Sicht der amerikanischen und europäischen Politiker für die Freihandelszone spricht – und der für feierliche Ansprachen etwas schlechter geeignet ist, in der Praxis aber keine geringere Rolle spielen dürfte als der erste. Die Definition von Produktnormen ist nämlich nicht nur eine technische, sondern auch eine politische Entscheidung, die oft große Verteilungseffekte haben kann. Infolgedessen haben alle Staaten ein Interesse daran, dass möglichst ihre eigenen Normen sich auch international durchsetzen. Wesentlich für die Frage, wie viel wirtschaftspolitischen Einfluss ein Land auf globaler Ebene ausüben kann, ist aber vor allem die Größe seines Absatzmarktes – einfach weil Drittstaaten, die ihre Waren dort verkaufen wollen, sich an den Standards orientieren müssen, die das Importland ihnen vorgibt. In der Vergangenheit hatten sowohl die EU als auch die USA immer einen so hohen Anteil an der globalen Wirtschaft, dass Unternehmen auf der ganzen Welt nicht umhin kamen, ihre jeweiligen Vorgaben zu erfüllen. Inzwischen jedoch beginnen Schwellenländer wie China, Indien oder Brasilien aufzuschließen, während der europäische und amerikanische Anteil an den Weltimporten seit Jahren rückläufig ist. Wenn aber der Rest der Welt die EU und die USA nicht mehr unbedingt als Kunden benötigt, sinkt mit der Zeit auch deren politischer Einfluss.

Doch wenngleich die EU und die USA jeder für sich an Bedeutung verlieren, würden sie gemeinsam noch immer ein größeres Gewicht aufbringen, als es jeder Einzelne von ihnen je hatte. Wenn durch das transatlantische Freihandelsabkommen also ein gemeinsamer Absatzmarkt mit einheitlichen Standards entsteht, so wäre dieser für den Rest der Welt weiterhin unumgänglich. Im besten Fall könnte es den Europäern und Amerikanern zuletzt gelingen, ihre bilateral ausgehandelten Normen auch allen anderen aufzudrängen – sei es im Rahmen der WTO oder über gesonderte Abkommen mit Drittstaaten etwa in Afrika und Südamerika. Nicht umsonst wurde die transatlantische Freihandelszone deshalb auch als „Handels-NATO“ bezeichnet: ein Bündnis der westlichen Länder, um sich für den globalen Machtkampf zu rüsten und ihre gemeinsamen Interessen gegenüber den aufstrebenden Schwellenländern zu verteidigen.

Vorbild Binnenmarktprojekt?

Sowohl für den erhofften Wachstumsschub als auch für den weltpolitischen Einfluss ist es also notwendig, dass sich die EU und die USA auf gemeinsame Standards einigen. Die Agenda ihrer Verhandlungen erinnert deshalb in gewisser Weise an das berühmte „Binnenmarktprojekt“, mit dem die EG-Mitgliedstaaten in der Zeit von 1986 bis 1993 ihre zuvor jeweils nationalen Produktstandards aneinander anglichen, indem sie – von der Abgasrichtlinie bis zur Gurkenkrümmungsverordnung – neue, europaweite Normen schufen. Tatsächlich führte das Binnenmarktprojekt zu einer starken Vereinfachung des innereuropäischen Handels und stärkte die EU auf der internationalen Bühne. Könnte das transatlantische Abkommen denselben Effekt erzielen?

Offen gesagt: Ich glaube nicht. Denn der Vergleich zwischen dem Binnenmarktprojekt und den transatlantischen Verhandlungen zeigt auch einen wesentlichen Unterschied: Die EG schaffte 1986 in der Einheitlichen Europäischen Akte eigens für den Binnenmarkt das nationale Vetorecht ab, um zu verhindern, dass einzelne Mitgliedstaaten das Bemühen um einen gemeinsamen Standard blockieren konnten. Und auch nach 1993 sorgt das Mehrheitsverfahren dafür, dass die EU recht schnell zu neuen gemeinsamen Regelungen finden kann, wenn diese notwendig werden.

Die Freihandelszone wird zu schwerfällig sein

Das transatlantische Freihandelsabkommen hingegen wäre ein völkerrechtlicher Vertrag, dem nicht nur die US-Regierung und die Europäische Kommission zustimmen müssten, sondern der auch einer Ratifikation durch den amerikanischen Kongress, das Europäische Parlament und den Rat der EU bedürfte. Die Anzahl der Veto-Spieler ist also viel größer, und angesichts der zahlreichen und gravierenden Interessengegensätze, die bei der Vereinheitlichung von hunderten von Einzelnormen zu Tage treten dürften, ist zu erwarten, dass die Verhandlungen sich jedenfalls über lange Jahre hinziehen werden – falls sie überhaupt erfolgreich sind und nicht unter dem Druck einflussreicher Lobbygruppen zu Fall gebracht werden wie 2012 das Antipiraterieabkommen ACTA. Die ACTA-Gegner jedenfalls laufen sich auch für den Kampf gegen das Freihandelsabkommen bereits warm.

In der Zeit aber, in der die europäischen und die amerikanischen Politiker um eine Einigung ringen, wird sich natürlich auch die wirtschaftliche Welt weiterentwickeln. Neue Branchen werden entstehen und neue Technologien erfunden werden, die wiederum neue Industriestandards erforderlich machen. Wenn die gemeinsamen transatlantischen Normen endlich in Kraft getreten sind, könnte ein Teil von ihnen deshalb schon bald wieder veraltet sein: im besten Falle irrelevant, im schlechteren selbst ein bürokratisches Hindernis. Aber sie zu überarbeiten würde dann wiederum ein neues Abkommen erforderlich machen, in dem wieder beide Parlamente ein Vetorecht hätten und es wieder zu langen Verhandlungen käme.

Kurz gesagt: Die transatlantische Freihandelszone erscheint mir in der Form, wie sie jetzt geplant wird, viel zu schwerfällig, als dass sie die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen könnte. Allenfalls wäre es möglich, die am stärksten umstrittenen Politikfelder einfach auszusparen, sodass in einigen Jahren ein begrenztes Abkommen steht, das den ein oder anderen verbliebenen Zoll abschafft und die ein oder andere Norm vereinheitlicht. Aber der ganz große transatlantische Binnenmarkt, der unsere Wirtschaft in neuen Schwung versetzt und unsere Machtstellung in der Welt sichert, wird auf diese Weise nicht entstehen.

Eine supranationale Atlantische Union?

Eine Lösung freilich gäbe es, wenn der EU und den USA das Ziel tatsächlich wichtig wäre: Statt auf die Harmonisierung des materiellen Rechts könnten sich die beiden Länder auf institutionelle Reformen konzentrieren. Statt selbst alle gemeinsamen Normen einzeln auszuhandeln, könnten sie zum Beispiel einen gemeinsamen Ausschuss schaffen, dessen Mitglieder von beiden Seiten einvernehmlich ernannt und mit der Festlegung dieser Industriestandards beauftragt werden. Die Beschlüsse dieses Ausschusses könnten dann automatisch in Kraft treten, sofern nicht die Regierungen oder Parlamente beider Länder (also Kommission und US-Regierung oder Europaparlament und Kongress) sie ablehnen. Damit hätte niemand mehr allein ein Vetorecht, um Entscheidungen zu blockieren; mit dem gemeinsamen Ausschuss wäre eine effiziente transatlantische Institution geschaffen, die vermutlich in recht kurzer Zeit Erfolge bei der Angleichung der Standards zeigen würde.

Aber natürlich würde der Ausschuss dann innerhalb kurzer Zeit auch eine Menge Kritik aus der Bevölkerung auf sich ziehen: Die einen würden ihn beispielsweise für zu restriktiv halten und sich beschweren, dass er mit seinen hohen Verbraucherschutzauflagen die Landwirtschaft unnötig verteuere. Die anderen fänden ihn zu liberal, da sein Umweltstandard für Kfz-Motoren zu viele Ausnahmen bei Geländewagen vorsähe. Manche würden sich dafür einsetzen, dass er möglichst viele Regeln erlässt, um der Konkurrenz aus China und Indien den Marktzugang zu erschweren. Wieder andere wären dafür, aus Gründen des Bürokratieabbaus möglichst alle Normen einfach abzuschaffen. Am Ende ginge es dem gemeinsamen Ausschuss dann so wie der EG nach 1986: Als die Harmonisierung der Industriestandards sich im Alltag der Menschen bemerkbar machte, wurde immer öfter der Vorwurf laut, die Gemeinschaft sei nicht genügend demokratisch legitimiert. Um dem entgegenzutreten, erhielt im Vertrag von Maastricht 1992 das Europäische Parlament erstmals ein Mitentscheidungsrecht bei der Binnenmarkt-Gesetzgebung. Auf die gleiche Weise könnten EU und USA sich schließlich genötigt sehen, dem gemeinsamen Ausschuss ein supranationales Atlantisches Parlament an die Seite zu stellen.

Und dann würden, wiederum nach ein paar Jahren, der gemeinsame Ausschuss und das Atlantische Parlament Lust verspüren, sich nach neuen Tätigkeitsfeldern umzusehen. Denn wenn sie schon die Normen für den atlantischen Binnenmarkt festlegen, warum sollten sie sich dann nicht auch um gemeinsame Sozialstandards kümmern? Oder um die gemeinsame Außenhandelspolitik? Oder die Außenpolitik überhaupt? Und nach und nach würden EU und USA in einer supranationalen Atlantischen Union verschmelzen …

Aber nein, dazu wird es natürlich nicht kommen – denn für eine solche Souveränitätsübertragung ist den Europäern und Amerikanern das Ziel eines gemeinsamen Marktes mit einheitlichen Industriestandards derzeit dann doch nicht wichtig genug. Weder der US-Kongress noch das Europäische Parlament werden deshalb auf ihr Vetorecht verzichten, geschweige denn ein neues überstaatliches Gremium einrichten wollen. Und so werden wir stattdessen wohl nur erleben, wie demnächst mit viel transatlantischem Pathos die offiziellen Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen beginnen, das am Ende vielleicht die ein oder andere Handelserleichterung bringen, aber jedenfalls nicht die Welt verändern wird.

Bild: By White House [Public domain], via Wikimedia Commons; eigene Grafik (Datenquelle: Eurostat).

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