05 April 2017

Unterdessen in Ungarn und Polen: Wie geht es nach dem „Rechtsstaatlichkeitsverfahren“ weiter?

Trotz allem sind Viktor Orbán und Angela Merkel (EVP) bis heute Parteifreunde.
Die letzten Wochen waren für die Europäische Union wie eine Berg- und Talfahrt: Auf der einen Seite feierte sie am 25. März ihren 60. Geburtstag mit einer gemeinsamen Erklärung von 27 Staats- und Regierungschefs, begleitet von mehr als zehntausend Demonstranten, die mit einem March for Europe weitere Integrationsfortschritte forderten. Auf der anderen Seite reichte am 29. März die britische Regierung den lange erwarteten Austrittsantrag nach Artikel 50 EUV ein und eröffnete damit die Verhandlungen, die in zwei Jahren zum Brexit führen sollen.

Und dann gab es noch, von den Medien etwas weniger beachtet, neue Entwicklungen bei der Frage, ob die EU in ihren Mitgliedstaaten auch auf nationaler Ebene Demokratie und Rechtsstaatlichkeit garantieren kann. Und die Aussichten sind trüber denn je.

Viktor Orbáns Machtübernahme

Ein kurzer Rückblick: Die derzeitigen Sorgen der EU um die Demokratie in ihren Mitgliedstaaten begannen mit dem Regierungsantritt von Viktor Orbán in Ungarn im Mai 2010. Mit etwas mehr als der Hälfte der Stimmen hatte seine Partei Fidesz (EVP) fast vier Fünftel der Sitze im nationalen Parlament gewonnen und sah sich deshalb legitimiert und in der Lage, die konstitutionelle Basis des Landes von Grund auf umzugestalten. Innerhalb von nur anderthalb Jahren schränkte sie die Freiheit der Medien ein, brachte öffentlich-rechtliche Kulturinstitutionen auf Regierungskurs, überarbeitete zum eigenen Vorteil den Zuschnitt der Wahlkreise sowie das Gesetz zur Parteienfinanzierung und erließ schließlich gegen die Stimmen der Opposition eine neue Verfassung, die unter anderem die Rechte des Verfassungsgerichts einschränkte. Und das war erst der Anfang.

In der europäischen Öffentlichkeit sorgten diese Entwicklungen für einige Betroffenheit, doch entschlossene Gegenmaßnahmen der EU-Institutionen blieben aus. Denn Artikel 7 EUV enthält zwar grundsätzlich ein Verfahren, um Mitgliedstaaten, die gegen die Werte der EU (unter anderem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit) verstoßen, das Stimmrecht im Ministerrat zu entziehen oder andere „Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten“. Doch um solche Sanktionen zu verhängen, ist ein einstimmiger Beschluss aller anderen Mitgliedstaaten notwendig – eine Hürde, die so hoch schien, dass die europäischen Institutionen gar nicht erst den Anlauf wagten.

Deckung durch die Europäische Volkspartei

Gewiss: Als Ungarn 2012 auf europäische Finanzhilfen angewiesen war, versuchte die Europäische Kommission dies als Hebel für Zugeständnisse bei der Medienfreiheit zu nutzen; und als 2014 die Posten in der neu gewählten Europäischen Kommission verteilt wurden, wurde dem ungarischen Kandidaten Tibor Navracsics (Fidesz/EVP) auf Drängen des Europäischen Parlaments die Zuständigkeit für die Unionsbürgerschaft entzogen, sodass ihm nur das wenig profilierte Kulturressort blieb. Ansonsten aber setzte man in Brüssel auf das Prinzip Hoffnung. Schließlich handelte es sich bei Ungarn nur um einen einzelnen, mittelgroßen Mitgliedstaat, der vielleicht früher oder später wieder zur Vernunft kommen würde.

Dass die EU gegenüber der ungarischen Regierung keine härtere Gangart einschlug, lag freilich auch daran, dass die Fidesz der Europäischen Volkspartei angehört – also der Dachpartei der europäischen Christdemokraten, die seit 1999 die stärkste Fraktion im Europäischen Parlament, seit 2004 den Präsidenten der Europäischen Kommission und seit 2009 den Präsidenten des Europäischen Rates stellt. So nahm die EVP im Europäischen Parlament die ungarische Regierung immer wieder in Schutz und warf den übrigen Fraktionen, die Sanktionen forderten, „politische Hysterie“ vor. Noch vor wenigen Wochen erklärte der EVP-Vorsitzende Joseph Daul, Orbán sei das „enfant terrible“ der EVP-Familie, das man aber doch lieber „im Haus“ behalten wolle.

Der Fall Polen

Die Hoffnung, dass das ungarische Problem ein vorübergehender Einzelfall bleiben würde, zerschlug sich indessen spätestens Ende 2015, als bei der Parlamentswahl in Polen die rechtskonservative PiS eine absolute Mehrheit gewann und innerhalb weniger Wochen ganz ähnliche Maßnahmen ergriff wie zuvor die Fidesz in Ungarn. Auch in Polen wurden das Verfassungsgericht geschwächt, öffentlich-rechtliche Medien und Kulturinstitute auf Linie gebracht und die öffentliche Finanzierung kritischer NGOs in Frage gestellt.

Anders als die Fidesz hat die PiS allerdings kaum Freunde auf europäischer Ebene: Sie gehört nicht der EVP an, sondern der europaskeptisch-rechtskonservativen Allianz der Konservativen und Reformer in Europa (AKRE). Diese stellt zwar immerhin die drittgrößte Fraktion im Europäischen Parlament, umfasst aber außer der PiS nur ein weiteres nationales Schwergewicht – nämlich die britische Conservative Party, die durch das Brexit-Referendum mit ganz anderen Problemen beschäftigt ist. Infolgedessen zögerten auch prominente EVP-Politiker, die der Fidesz stets die Stange gehalten hatten, nicht mit heftiger Kritik an der PiS-Regierung in Warschau.

Nur einer stellte sich von Anfang an schützend vor die polnische Regierung: Viktor Orbán selbst kündigte im Januar 2016 an, er werde EU-Sanktionen gegen Polen „niemals unterstützen“ und gegebenenfalls im Ministerrat sein Veto dagegen einlegen.

Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren

Die Europäische Kommission setzte deshalb auch gegenüber Polen nicht auf eine Strategie der direkten Konfrontation, sondern des langsam eskalierenden Drucks: Mitte Januar 2016 leitete sie das sogenannte „Rechtsstaatlichkeitsverfahren“ ein, das sie erst zwei Jahre zuvor (auch in Reaktion auf die ungarische Krise) neu entwickelt hatte.

Dieses Rechtsstaatlichkeitsverfahren besteht in einer Art strukturierten Briefwechsel zwischen der Kommission und der betreffenden nationalen Regierung. Die Kommission äußert dabei ihre Bedenken, formuliert Empfehlungen und überprüft, ob die Regierung sie umsetzt. Die nationale Regierung wiederum kann sich bemühen, durch Erklärungen und eigene Maßnahmen die Bedenken der Kommission aus der Welt zu räumen. Oder sie lässt es einfach bleiben und wartet ab, was geschieht.

Vergebliche Hoffnung auf Einlenken

Denn letztlich ist das neue Rechtsstaatlichkeitsverfahren selbst folgenlos. Wenn der betreffende Mitgliedstaat bis zuletzt nicht auf den Weg der Demokratie zurückkehrt, bleibt als letzte Eskalationsstufe weiterhin nur Artikel 7 EUV. Die Hoffnung der Kommission lag deshalb vor allem darin, durch das strukturierte Verfahren öffentlichen Druck aufzubauen und dadurch die polnische Regierung zum Einlenken zu bringen.

Etwas mehr als ein Jahr später ist klar: Auch diese Hoffnung war vergebens. Nachdem im Lauf des Jahres 2016 mehrere Briefe zwischen Brüssel und Warschau hin- und hergeschickt wurden, ist das Rechtsstaatlichkeitsverfahren nun am Ende angekommen. Ein letzter Brief der polnischen Regierung vom 20. Februar 2017 brachte keine Fortschritte. Die Europäische Kommission steht damit vor der Entscheidung: Soll sie Artikel 7 anrufen und den Europäischen Rat um Sanktionen bitten – auf die Gefahr hin, an einem Veto Ungarns zu scheitern? Oder gibt sie klein bei und gesteht damit offen ein, dass sie keine Instrumente hat, um gegen Mitgliedstaaten, die die Werte der EU verletzen, wirksam vorzugehen?

Die Kommission wälzt die Verantwortung ab

In dieser Situation entschied sich der zuständige Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE) für eine Taktik, die die Kommission in heiklen Fragen zuletzt auch sonst gerne angewandt hat (siehe etwa hier und hier): Er versuchte die Verantwortung bei den Mitgliedstaaten abzuwälzen. In einer Rede vor dem Europäischen Parlament kündigte er an, die Kommission wolle nicht „der Held des Tages sein“ und ein Artikel-7-Verfahren auslösen. Stattdessen werde sie die Angelegenheit den nationalen Regierungschefs übergeben und „der Ratspräsidentschaft vorschlagen, das Thema bei der nächsten Gelegenheit aufzunehmen“.

Im Rat freilich stieß diese Ankündigung nicht gerade auf große Begeisterung. Am 25. März, dem Tag der EU-Geburtstagserklärung in Rom, erklärte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) in einem Fernsehinterview, sie wolle „erst mal in der Substanz mit den Ländern [Ungarn und Polen] sprechen“ und finde „Drohung jetzt nicht gut“. Man wird sich also bei Gelegenheit im Europäischen Rat über das Thema Rechtsstaatlichkeit unterhalten. Konkrete Sanktionsmaßnahmen aber stehen auch sieben Jahre nach Viktor Orbáns Machtübernahme noch immer nicht im Raum.

Ein Gesetz gegen die Central European University

Das Signal, das von solcher Untätigkeit ausgeht, ist fatal – und wurde von der ungarischen Regierung offenbar verstanden. Am vergangenen Montag beschloss das ungarische Parlament im Eilverfahren ein Gesetz, das vordergründig die Tätigkeit ausländischer Universitäten in Ungarn reguliert, de facto aber nur die Schließung der Central European University in Budapest zur Folge haben wird.

Die CEU, eine international profilierte Privatuniversität, wurde einst mit dem Ziel gegründet, die Demokratisierung der ostmitteleuropäischen Staaten wissenschaftlich zu begleiten. Zu ihren wichtigsten Geldgebern gehört der liberale Investor George Soros, Gründer der Open Society Foundations, den Orbán schon seit langem im Mittelpunkt einer großen linken Verschwörung zur Zerstörung des Nationalstaats sieht.

Das andere „Demokratiedefizit“ der EU

Ist Europa also völlig hilflos, wenn es um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen geht? Im Moment sieht es jedenfalls nicht gut aus, und ein jüngst erschienener Aufsatz des Politikwissenschaftlers R. Daniel Kelemen geht sogar so weit, die autoritären Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten als das eigentliche „Demokratiedefizit“ der EU anzusehen – ernsthafter und besorgniserregender als die unzureichende demokratische Legitimität der EU-Institutionen selbst.

Durch einen Vergleich mit anderen demokratisch-föderalen Systemen bietet Kelemen allerdings auch eine Perspektive für die Zukunft: Die beste Chance, durch ein Einschreiten der oberen Ebene regionalen Autoritarismus zu überwinden, besteht demnach darin, dass „die Verbündeten des Autokraten ihre Verbindung mit ihm als eine politische Belastung ansehen und Druck auf ihn ausüben, den Kurs zu ändern“. Mit anderen Worten: Erst wenn die europäischen Christdemokraten außerhalb Ungarns spüren, dass sie in der Öffentlichkeit für die Politik von Viktor Orbán mitverantwortlich gemacht werden, werden sie auch die Machtmittel nutzen, die sie ihm gegenüber zur Verfügung haben.

Druck auf die Europäische Volkspartei

Wird es dazu kommen? Wenigstens eines kann, trotz allem, vage optimistisch stimmen: Im Mittelpunkt des Protests, den die geplante Schließung der Central European University europaweit ausgelöst hat (und der sich unter dem Twitter-Hashtag #istandwithCEU mitverfolgen lässt), steht nicht mehr allein die Fidesz, sondern auch die Europäische Volkspartei. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller fand in der Süddeutschen Zeitung jüngst jedenfalls klare Worte gegenüber den Christdemokraten, die einst die „Gründerväter der europäischen Gemeinschaft“ waren und nun zulassen, wie „Europa langsam von innen zerstört“ wird. Noch expliziter wurde Cas Mudde, ebenfalls Politikwissenschaftler, der im Guardian die EVP dazu aufforderte, sich „zwischen Merkel und Orbán, zwischen liberaler Demokratie und illiberaler Demokratie“ zu entscheiden.

Dass die französischen Républicains oder die deutsche CDU durch Viktor Orbán ihre Aussichten bei den nationalen Parlamentswahlen dieses Jahr gefährdet sehen, dürfte trotzdem erst einmal ein frommer Wunsch bleiben. Aber immerhin: Wenn die europäischen Parteien in der Öffentlichkeit sichtbarer werden, kann das für die Demokratie nur nützlich sein – nicht nur auf europäischer, sondern auch auf nationaler Ebene.

Bild: European People's Party [CC BY 2.0], via Flickr.

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