04 Oktober 2016

Machtspiele statt Argumente: Bei der Wahl des UN-Generalsekretärs rückt die Entscheidung näher

Update, 5. Oktober 2016: António Guterres hat bei der sechsten Probeabstimmung keine Gegenstimmen erhalten. Der Sicherheitsrat wird ihn deshalb am morgigen Donnerstag offiziell als neuen Generalsekretär vorschlagen. Die vollständigen Ergebnisse der Abstimmung sind hier zu finden.

Gäbe es kein Vetorecht, stünde António Guterres wohl schon als nächster UN-Generalsekretär fest.
Die Entscheidung rückt näher: Am morgigen Mittwoch findet im UN-Sicherheitsrat die nächste Probeabstimmung über die Wahl des neuen Generalsekretärs statt, und die Erwartung ist hoch, dass danach nicht mehr allzu viele folgen werden. Zum einen drängt ein wenig die Zeit, da das Mandat des derzeitigen Amtsinhabers Ban Ki-moon zum 31. Dezember ausläuft und sein Nachfolger (oder seine Nachfolgerin) zuvor noch die Möglichkeit haben soll, sich einige Wochen auf das Amt vorzubereiten. Zum anderen hält Russland, bisher der größte Blockierer einer Einigung, im Oktober die monatlich rotierende Präsidentschaft im Sicherheitsrat. Man kann davon ausgehen, dass es die Verhandlungen nun von dieser Einflussposition aus zu Ende führen will, sodass noch in diesem Monat mit einem Ergebnis zu rechnen ist.

Vetodrohungen werden deutlich

Um zum neuen Generalsekretär gewählt zu werden, benötigt ein Kandidat die Stimmen von mindestens neun der fünfzehn Mitglieder des Sicherheitsrats; außerdem darf keines der fünf ständigen Mitglieder – USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien – ein Veto einlegen. Zuvor finden aber noch sogenannte straw polls statt, also unverbindliche Probevoten, die die Stimmung im Sicherheitsrat ausloten sollen.

Die Abstimmung morgen ist bereits der sechste solche straw poll seit Ende Juli. Von den fünf bisherigen unterscheidet er sich jedoch dadurch, dass die Stimmzettel der fünf ständigen Mitglieder diesmal farblich gekennzeichnet sind. Dadurch wird deutlich, welchen Kandidaten ein Veto droht – oder ob einer von ihnen bereits die Unterstützung aller fünf Vetomächte genießt, die er für den offiziellen Wahlgang benötigt. (Für einen Überblick über das gesamte Verfahren und die Ergebnisse der bisherigen Probeabstimmungen siehe hier.)

Ohne Veto wäre der Sieger klar: António Guterres

Die bisherigen Probeabstimmungen zeigen ein buntes Kandidatenfeld mit einem klaren Spitzenreiter.
Ohne die Veto-Regelung freilich stünde der Sieger längst fest. Der frühere portugiesische Regierungschef und UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, António Guterres (PS/SI-PA), erreichte bei allen bisherigen Probeabstimmungen elf oder zwölf Unterstützungsstimmen und lag damit jeweils auf dem ersten Platz. Mehr noch: Bei dem letzten straw poll Ende September war er der einzige von allen Kandidaten, der auf die neun Stimmen kam, die für die Wahl notwendig sind. An seiner Fähigkeit, das Amt auszufüllen, gibt es keine ernsthaften Zweifel, und auch bei den UN-Mitarbeitern genießt er große Unterstützung. Nichts läge näher, als ihn möglichst bald auch offiziell zum neuen Generalsekretär zu wählen – wenn es das Vetorecht nicht gäbe.

Denn schon seit längerem hält sich das Gerücht, dass eine der beiden Gegenstimmen, die Guterres in den letzten straw polls erhielt, von der russischen Regierung stammt. Diese hat erst jüngst zum wiederholten Mal erklärt, dass sie als nächsten UN-Generalsekretär einen Osteuropäer sehen will. Begründet wird das damit, dass von den fünf UN-Regionalgruppen (Afrika, Asien, Lateinamerika, Osteuropa sowie Westeuropa und der Rest der Welt) nur Osteuropa noch niemals den Generalsekretär gestellt hat. Darüber hinaus wäre Guterres aber auch der erste Generalsekretär, der aus einem NATO-Mitgliedstaat stammt – für die russische Regierung zweifellos ein Grund mehr, ihn abzulehnen.

Russlands Favoriten

Schon eher nach dem russischen Geschmack wären der Serbe Vuk Jeremić (parteilos) und der Slowake Miroslav Lajčák (SMER/SI), die bei der letzten Probeabstimmung auf dem zweiten und dritten Rang landeten. Mit jeweils acht Unterstützerstimmen waren sie die einzigen Kandidaten neben Guterres, die im Sicherheitsrat insgesamt mehr Zustimmung als Ablehnung erhielten. Allzu gute Chancen dürften sie jedoch nicht haben. Denn sollte Guterres tatsächlich an einem russischen Veto scheitern, so dürften sich wohl die USA, Frankreich und Großbritannien dafür revanchieren, indem sie auch die russischen Favoriten durchfallen lassen.

Hinzu kommt, dass Jeremić und Lajčák jeweils auch persönlich einiges dazu beigetragen haben, um die westlichen Vetomächte zu verärgern. So wehrte sich Jeremić als serbischer Außenminister (2007-12) vehement gegen die Unabhängigkeit des Kosovo; während seiner Amtszeit als Präsident der UN-Generalversammlung 2012/13 verglich er die Kosovaren gar mit den mörderischen Orks aus der Hobbit-Sagenwelt. Auch wenn Jeremić sich zuletzt als entschlossener UN-Reformer präsentierte und sich damit auch die Unterstützung des Wall Street Journal sicherte, dürfte es ihm schwerfallen, diese verbalen Aggressionen wieder vergessen zu machen.

Ein slowakisch-russischer Deal

Der slowakische Außenminister Lajčák wiederum stand nach dem zweiten straw poll mit nur zwei Unterstützerstimmen schon einmal auf dem letzten Platz der Kandidatenliste – ehe sein Premierminister Robert Fico (SMER/SI) sich mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin (ER/–) traf und sich recht offen für ein Ende der Handelssanktionen aussprach, die die EU infolge der Ukraine-Krise gegen Russland verhängt hat.

Im Gegenzug sicherte Putin Fico öffentlich zu, dass er Lajčák unterstützen werde, was dann noch einige weitere Länder im Sicherheitsrat mitzog. Dass die USA, oder auch Frankreich und Großbritannien, sich auf diesen slowakisch-russischen Deal einlassen werden, darf man aber wohl getrost ausschließen. Selbst wenn Lajčák auf die notwendigen neun Stimmen kommen sollte, dürfte er deshalb am Nein der westlichen Vetomächte scheitern.

Bulgariens Kandidatinnenwechsel

Das große Thema der letzten Tage war aber ohnehin eine ganz andere Kandidatin: nämlich die Bulgarin Kristalina Georgieva (GERB/IDU), derzeit Vizepräsidentin der Europäischen Kommission. Anfang des Jahres war Georgieva noch daran gescheitert, für ihre Kandidatur die Unterstützung ihrer nationalen Regierung zu sichern. Stattdessen hatte Bulgarien die derzeitige UNESCO-Generaldirektorin Irina Bokova (BSP/SI-PA) nominiert, die schon zuvor immer wieder als Favoritin für das UN-Generalsekretärsamt genannt worden war.

Allerdings stieß Bokova auf unerwartet heftigen Widerstand der USA, die ihr vorwerfen, 2011 den Beitritt Palästinas zur UNESCO unterstützt zu haben. Und auch in den ersten straw polls schnitt sie schlechter ab als erwartet: Zuletzt erreichte sie nur noch die Zustimmung von sechs Sicherheitsratsmitgliedern, während sieben sie ablehnten. Ende September wechselte die bulgarische Regierung daraufhin ihre Kandidatin aus und unterstützt nun offiziell Georgieva. Bokova bleibt zwar auf eigene Faust weiterhin im Rennen, dürfte aber keine realistische Chance mehr auf das Amt haben.

Kristalina Georgieva: ideale Kompromisskandidatin?

Doch die Nominierung Georgievas hatte noch eine weitere, etwas merkwürdige Vorgeschichte. Schon Anfang September hatte es nämlich Gerüchte gegeben, nach denen die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/CDI-IDU) sich für Georgievas Kandidatur stark mache. Auf einem G20-Treffen in China habe sie in einem informellen Gespräch mit Vladimir Putin die Unterstützung der russischen Regierung gesichert. Außerdem seien Kroatien, Ungarn und Lettland bereit, Georgieva selbst zu nominieren, falls die bulgarische Regierung sich nicht zu einem Kandidatinnenwechsel entschließen würde.

Für kurze Zeit sah es deshalb so aus, als könnte Georgieva die ideale Kompromisskandidatin sein. Zum Teil wurde zwar kritisiert, dass sie bisher noch niemals ein Amt im UN-System innegehabt hat. An internationaler Erfahrung aber mangelt es ihr bestimmt nicht: Immerhin arbeitete sie von 1993 bis 2010 für die Weltbank und war seitdem Mitglied der Europäischen Kommission. Auch ihr aktueller Arbeitsschwerpunkt in der Kommission, wo sie für das Ressort Haushalt und Personal zuständig ist, ist ein Pluspunkt – ist doch die Personalpolitik des UN-Sekretariats eines der großen Themen für eine Reform der Vereinten Nationen.

Ein harsches Dementi

Dass Georgieva eine Frau ist und aus Osteuropa stammt, erfüllt zudem die Forderungen der starken Interessengruppen, die diese Merkmale als wichtigste Kriterien für die Generalsekretärswahl sehen. Könnte sie tatsächlich auf die Unterstützung Russlands zählen, so wäre sie sicherlich die stärkste Konkurrentin von António Guterres.

Doch ob sie diese Unterstützung hat, ist alles andere als sicher. Auf die Gerüchte Anfang September reagierte die russische Regierung jedenfalls mit einem ungewöhnlich harschen Dementi: Der deutsche Versuch, Bulgarien zu einem Kandidatinnenwechsel zu bewegen, sei „inakzeptabel“; die Behauptung, dass Russland das unterstützen würde, sei „gelogen“. Und auch als Bulgarien den Schritt vor wenigen Tagen schließlich vollzog, machte die russische Regierung ihre Unzufriedenheit deutlich.

Die wahrscheinlichste Lösung ist ein Kuhhandel

Die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass bei der Probeabstimmung morgen kein einziger Bewerber ohne Vetodrohung davonkommt. Im Mittelpunkt steht dabei, ganz wie zu Zeiten des Kalten Krieges, ein West-Ost-Gegensatz: Die Kandidaten, die die USA, Großbritannien und Frankreich unterstützen, werden von Russland abgelehnt – während die Kandidaten, die für Russland akzeptabel wären, auf mindestens ein westliches Veto stoßen würden.

Zum Teil wird deshalb bereits spekuliert, dass die Suche nach einem neuen UN-Generalsekretär in die Nachspielzeit gehen und Ban Ki-moons Mandat bis in das Jahr 2017 ausgedehnt werden könnte. Sogar krasse Außenseiter machen sich noch Hoffnungen auf das Amt: etwa der frühere australische Premierminister Kevin Rudd (ALP/PA), der bislang noch überhaupt nicht als Kandidat in Erscheinung getreten war.

Wahrscheinlicher ist aber wohl immer noch, dass es zuletzt zu einer Einigung kommt, bei der Russland seinen Widerstand gegen Guterres (oder Georgieva) aufgibt und dafür an anderer Stelle Zugeständnisse erreicht – sei es bei der Besetzung anderer hochrangiger Ämter im UN-System oder bei der Formulierung der nächsten Syrien-Resolution. Dass Russland derzeit im Sicherheitsrat den Vorsitz hat, könnte, wie gesagt, einem solchen Kuhhandel durchaus förderlich sein.

Machtspiele der Veto-Staaten statt öffentlicher Argumente

Doch wie auch immer das Gerangel zwischen den Großmächten schließlich endet, ein Verlierer steht jetzt schon fest: Von der Hoffnung auf ein strukturierteres, transparenteres und letztlich auch gerechteres Verfahren, die mit dieser Generalsekretärswahl verbunden war, ist nicht viel übrig geblieben. Gewiss: Anders als in früheren Jahren stellten sich alle Kandidaten diesmal einer Anhörung in der Generalversammlung, bei der sie öffentlich ihre Visionen für die Zukunft der Vereinten Nationen präsentierten. Auch die nachnominierte Kristalina Georgieva kam nicht um diese Prozedur herum.

Am Ende aber hängt auch diese Wahl eben nicht an den öffentlich ausgetauschten Argumenten der Kandidaten, sondern am Veto der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Der transparente Teil des Verfahrens war spätestens nach der dritten Probeabstimmung vorüber, als eine klare Mehrheit für António Guterres deutlich wurde. Alles, was wir seitdem erleben, sind diplomatische Machtspiele, in denen die Veto-Staaten ihre nationalen Eigeninteressen verteidigen.

Aber vielleicht wird es ja 2021 besser.

Am kommenden Dienstag, 11. Oktober, diskutiere ich ab 11 Uhr in einem Online-Hangout mit Tim Richter über das neue Verfahren und aktuelle Entwicklungen bei der Generalsekretärswahl. Tim Richter betreibt für die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) das Blog #YourNextSG. Das Hangout wird dort erst live und später als Aufzeichnung zu sehen sein. Mehr Informationen hier.

Bild: By European Parliament/Pietro Naj-Oleari [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

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