- Zwölf Sterne statt tausenden Kreuzen: Seit es die EU gibt, gibt es keine Weltkriege mehr. Aber liegt die Sache wirklich so einfach?
Es
ist das älteste Narrativ zur Begründung des europäischen
Integrationsprozesses, und es wird bis heute immer wieder gern
erzählt: Die Europäische Union hat uns den Frieden gebracht. Schon
als am 9. Mai 1950 der französische Außenminister Robert Schuman
die
Gründung einer deutsch-französischen Montanunion vorschlug (der
berühmte Schuman-Plan, der als Geburtsstunde der heutigen EU gilt),
war sein zentrales Argument, dass durch die Zusammenlegung der Kohle-
und Stahlproduktion ein neuer Krieg zwischen den beiden Ländern
„nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich“ gemacht
werden sollte.
Aber
auch zwei Generationen und einen
Nobelpreis später fehlt diese Idee in kaum einer
europapolitischen Sonntagsrede. Von Jean-Claude
Juncker (CSV/EVP) über Joachim
Gauck bis hin zu David
Cameron (Cons./AEKR) greifen Politiker jeder Couleur gern auf das
Friedensargument zurück, es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel Pax
Europaea, und in den
sozialen Netzwerken kursiert seit einigen Monaten eine Grafik, in der
auf einem schwarz-weißen Zeitstrahl markiert
ist, wann die „ursprünglichen EU-Mitglieder“ (gemeint
sind wohl Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxländer)
untereinander „größere Konflikte“ ausgetragen haben und wann
Frieden herrschte. Bis zum 19. Jahrhundert überwiegen die dunklen
Anteile, Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es noch einmal zwei dicke
schwarze Streifen für die beiden Weltkriege. Und dann: eine lange
weiße Fläche, in der die Europafahne steckt.
— Sandra Fiene Privat (@EUfiene) 23. Juni 2016
Integration führt zu Frieden
Was
aber ist von diesem Friedensnarrativ zu halten? Kritiker wenden gern
dagegen ein, dass es ja auch in jüngerer Zeit noch eine ganze Reihe
von Kriegen auf dem europäischen Kontinent gab – etwa im
Jugoslawien der 1990er Jahre oder in der Ukraine heute. Indessen
trägt dieser Einwand nicht so recht, denn all diese Kriege fanden
außerhalb der Europäischen Union statt. Als Argument für die
europäische Integration lässt sich sinnvollerweise nur feststellen,
dass die EU Konflikte zwischen ihren Mitgliedstaaten
verhindert. Und
das trifft empirisch offensichtlich zu.
Mehr
noch: Auch die Wirkmechanismen,
durch die Integration zu Frieden führt, sind
plausibel und nachvollziehbar. Wie
Robert Schuman 1950
argumentierte, führt
ein gemeinsamer Markt
zu mehr zwischenstaatlicher Arbeitsteilung, sodass kein europäischer
Staat mehr allein all die Güter produziert, die er zur Kriegführung
gegen seine Nachbarn benötigen würde. Zugleich
bekommen einflussreiche
Wirtschaftsakteure ein Eigeninteresse
daran, den Frieden zu wahren, um ihre Handelsbeziehungen nicht zu
gefährden. Jenseits
der rein wirtschaftlichen
Integration bewirken die
offenen Grenzen in Europa auch einen gesellschaftlichen Austausch,
durch den nationalistische
Vorurteile und Feindbilder abgebaut werden.
Und natürlich helfen
auch die
EU-Institutionen, da sie
einen Rahmen schaffen, um
Konflikte zwischen
Mitgliedstaaten friedlich und
allein mit
den Mitteln
des Rechts beizulegen.
Demokratie
führt zu Frieden
Und
dennoch gibt es ein
gravierendes Problem mit der
These, dass wir den Frieden in Europa
der EU zu verdanken hätten. Denn
wie jeder Politikwissenschaftler weiß, genügt
es für den Friedenserhalt
zwischen zwei Staaten
eigentlich schon, dass beide
Demokratien sind. Wie
dieser sogenannte
„demokratische
Frieden“ genau
entsteht, ist bis
heute unklar. Eine
gängige These (die
auf Immanuel Kants Zum ewigen Frieden zurückgeht)
lautet, dass unter
Kriegen vor allem die einfachen Bürger zu leiden haben. Wenn
Entscheidungen nicht von einer kleinen Elite, sondern demokratisch
getroffen werden, wird sich deshalb stets eine Mehrheit gegen den
Krieg entscheiden – jedenfalls
sofern
auch das andere Land eine Demokratie ist und
die Bürger deshalb erwarten können, dass es derselben Rationalität
folgt.
Doch
was auch immer seine genauen
Wirkmechanismen sind:
Auf jeden Fall ist der
„demokratische Frieden“ eine
der empirisch am besten
belegten Theorien der Internationalen Beziehungen überhaupt.
Seitdem es Staaten gibt, die
man als Demokratien bezeichnen kann, haben diese so gut wie niemals
untereinander
Krieg geführt. Gegenbeispiele
gibt es nur
sehr wenige, und nur
bei Ländern,
deren
demokratische Institutionen
deutlich schwächer waren als
die der
heutigen EU-Mitgliedstaaten.
Der
Frieden in Europa ist also
überdeterminiert: Es gibt
gleich mehrere Faktoren,
die gut erklären können, warum es unter den EU-Mitgliedsländern
seit 1945 keine Kriege mehr gegeben hat. Welchen
Anteil die
europäische Integration
daran wirklich hatte, lässt
sich deshalb nicht
genau bestimmen.
Aber man darf wohl annehmen,
dass der entscheidende Grund
doch eher die Ausbreitung
der Demokratie war.
Integration führt zu (nationaler) Demokratie
Allerdings lohnt es sich, noch einige weitere Zusammenhänge in den
Blick zu nehmen: Auch die Ausbreitung der Demokratie fiel schließlich
nicht vom Himmel. Vielmehr dürfte neben verschiedenen anderen
Faktoren die europäische Einigung selbst einigen Beitrag dazu
geleistet haben, dass die Staaten Europas nach und nach zu einer
demokratischen Regierungsform übergingen. Das gilt natürlich nicht
für die Länder, die bereits vor 1945 Demokratien waren. Doch schon
für Deutschland oder Italien war in der Nachkriegszeit die
Einbindung in eine überstaatliche Struktur hilfreich, um die junge
Demokratie zu stabilisieren.
Noch sehr viel deutlicher ist der Einfluss der EU auf die
Demokratisierung von Ländern, die ihr noch nicht angehören, aber
auf einen Beitritt hoffen: Griechenland, Spanien
und Portugal in den 1970er Jahren, der ehemalige Ostblock in den
1990ern und der westliche Balkan bis heute. Die EU verspricht ihren
Beitrittskandidaten Zugang zu einem enormen Binnenmarkt, fordert aber
im Gegenzug, dass das Beitrittsland demokratisch wird und die
Menschenrechte sowie Rechtsstaatsprinzipien achtet. Sie setzt damit
einen machtvollen Anreiz für den Aufbau nationaler Demokratien in
ganz Europa und trägt so indirekt auch dazu bei, dass der Kontinent
den „demokratischen Frieden“ genießt.
Frieden
führt zu wirtschaftlicher Integration
Aber
was treibt eigentlich die europäische Integration an? Auch da gibt
es natürlich eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren. Ein
wichtiger Aspekt scheint jedoch zu sein, dass Staaten, die im Frieden
miteinander leben (und erst recht, wenn es sich um Demokratien
handelt), ganz allgemein dazu neigen, sich wirtschaftlich füreinander
zu öffnen. Unternehmen, die
auf die Erschließung neuer Absatzmärkte hoffen, und Verbraucher,
für die eine
Marktöffnung niedrigere Preise bringt,
bilden eine starke Freihandelslobby, die sich politisch nicht immer,
aber sehr häufig durchsetzt – jedenfalls
solange ihr kein
militärischer Konflikt in
die Quere kommt.
Dies
wird deutlich, wenn man sich mit der Geschichte
der Globalisierung beschäftigt. Die lange Friedenszeit unter den
europäischen Staaten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ging
mit einem ersten großen Globalisierungsschub einher, der erst
durch den Ausbruch des Ersten
Weltkriegs jäh unterbrochen wurde. Nach
dem Zweiten Weltkrieg gewann die weltweite Wirtschaftsverflechtung
dann zum zweiten Mal
an Fahrt, blieb allerdings
bis 1990 durch
die Ost-West-Konfrontation
gehemmt, bis sie nach dem
Ende des Kalten Krieges auf ihr
heutiges Ausmaß anstieg.
Eine
Positivspirale?
So gesehen ist die Integration also nicht nur eine Ursache, sondern
auch eine Folge des lang anhaltenden Friedens in Europa. Die stabile
politische Ordnung Westeuropas nach 1945 erlaubte es, nach und nach
wirtschaftliche Grenzen abzubauen, einen Binnenmarkt zu errichten und
immer weiter zu vertiefen, ohne dass diese Entwicklung durch
militärische Konflikte unterbrochen worden wäre. Fast könnte man
das Verhältnis zwischen Integration, nationaler Demokratie und
Frieden als einen circulus virtuosus beschreiben: eine
Positivspirale, bei der alle drei Aspekte sich gegenseitig
verstärken.
Allerdings nur fast. Denn der Effekt, dass friedliche Staaten zur
Integration neigen, gilt zunächst einmal nur für die
wirtschaftliche Integration. Wirtschaftliche Integration
allein macht Staaten jedoch nicht demokratisch – und bietet deshalb
auch keine Garantie für eine dauerhafte Stabilisierung des Friedens,
wie das Beispiel der ersten Globalisierung mit dem darauffolgenden
Weltkrieg zeigt.
Nur wirtschaftliche Integration schadet der Demokratie
Mehr noch: Das von Dani Rodrik beschriebene Globalisierungstrilemma
(das regelmäßigen Lesern dieses Blogs bereits
vertraut
sein
dürfte)
verweist darauf, dass eine nur wirtschaftliche Integration der
nationalen Demokratie sogar abträglich ist. Staaten, die
wirtschaftlich eng miteinander verflochten sind, werden auch
politisch voneinander abhängig. Der dadurch entstehende Verlust von
Handlungsspielräumen kann die nationale Demokratie einschränken,
bis sie nur noch eine Farce ist: Es gibt zwar weiterhin Wahlen, aber
es stehen dabei keine realen Entscheidungsalternativen mehr zur
Verfügung.
Ob aber unter diesen Umständen die Mechanismen des „demokratischen
Friedens“ noch wirksam sind, ist mindestens zweifelhaft. Der oben
beschriebene circulus virtuosus hat deshalb ein kaputtes
Glied: Nationale Demokratie führt zu Frieden, Frieden führt zu
wirtschaftlicher Integration – doch wenn die wirtschaftliche
Integration die Demokratie aushöhlt, dann könnte zuletzt auch der
Frieden wieder gefährdet sein.
Der Ausweg: politische Integration
Doch aus dem Rodrik-Trilemma gibt es einen Ausweg: Um den Verlust von
nationalen Handlungsspielräumen zu kompensieren, muss die wirtschaftliche Integration von einer
gleichwertigen politischen Integration begleitet werden. Wenn die
Demokratie auf nationaler Ebene nicht mehr möglich ist, dann muss
sie auf supranationaler Ebene neu errichtet werden.
Solche politischen Integrationsprozesse sind historisch eher selten,
und anders als die wirtschaftliche Integration scheinen sie sich kaum
je „von selbst“ zu ergeben. Der Aufbau der USA, bei dem die
dreizehn demokratischen Gründungsstaaten in einer gemeinsamen
demokratischen Union aufgingen, ist das eindrücklichste historische
Beispiel (wobei auch die US-Demokratie zunächst so defizitär war,
dass sie den amerikanischen Bürgerkrieg nicht verhindern konnte).
Das
beste Modell für eine dauerhafte Friedensordnung
Was aber den Frieden in Europa betrifft, so dürfte gerade
hier die größte Leistung der Europäischen Union liegen. Die EU
war eben niemals ein rein wirtschaftliches Integrationsprojekt,
sondern ging von Anfang an mit dem Aufbau supranationaler politischer
Institutionen einher. Mit all ihren Schwächen und Defiziten bieten
diese die beste Chance darauf, dass auch ein wirtschaftlich
verflochtenes Europa weiterhin demokratisch sein kann – und somit
auch in Zukunft der Zusammenhang zwischen Integration, Frieden und
Demokratie erhalten bleibt.
Hat die EU den Frieden in Europa gebracht? Die Wirklichkeit ist
natürlich viel zu komplex, um diese Frage mit einem einfachen Ja zu
beantworten. Aber vieles spricht dafür, dass ein wirtschaftlich
integriertes, demokratisches Mehrebenensystem das beste Modell für
eine dauerhaft stabile Friedensordnung ist. Und ein solches Modell
ist in Europa nur möglich im Rahmen der Europäischen Union.
Bild: By abejorro34 [CC BY-NC 2.0], via Flickr.
Dass es viele Faktoren für den Frieden in Europa gab und gibt, stimmt.
AntwortenLöschenHierzu gehört unter anderem ein wachsender Wohlstand für die breite Masse der Bevölkerung. Nachdem durch die schlechte Politik in Europa genau das nicht mehr gewährleistet ist, schwindet auch die Zustimmung zur EU und die Kriegsgefahr wächst wieder.
Der normale Deutsche oder Franzose merkt einfach, dass er in diesem Europa zunehmend verarmt. Wer heute 55 oder 60 ist und nicht gerade auf überdurchschnittliche Lohnzahlungen zurückblicken kann, der weiß, dass er sein restliches Leben an der Armutsgrenze leben wird – in Deutschland genauso wie in Frankreich, Spanien, Polen, Ungarn oder Griechenland. Das war vor 20, 30 Jahren noch anders. Dafür sieht man umgekehrt, wie die Reichen in ganz Europa z.B. dank großzügiger Steuergeschenke immer reicher werden oder wie sich die (ehemaligen) EU-Spitzen verhalten ( http://www.mister-ede.de/politik/das-elitenversagen-in-europa/5393 ).
Ich fürchte allerdings, ohne sozialen Frieden werden die europäischen Demokratien und der europäische Frieden ins Wanken kommen, wie auch das Brexit-Votum zeigt.
Kleiner Klugscheißer-Punkt: Schon Kant verlässt sich nicht nur auf die Demokratie, sondern setzt auf eine Lösungstrias aus republikanischer Gesinnung aller Staaten (weltweite Demokratisierung), eines Friedensbundes (Verrechtlichung der internationalen Beziehungen) und der Macht des internationalen Handels (globale Interdependenz). Wichtig ist das m.E. deswegen, weil – wie du richtig schreibst – keine „Überdeterminierung des Friedens“ in der EU besteht, sondern sich alle Aspekte gegenseitig bedingen.
AntwortenLöschenWenn wir Kant schon so viel prognostische Fähigkeiten zugestehen, sollten wir aber vlt auch die andere Seite nicht unter den Tisch fallen lassen: Er wehrt sich gleichzeitig vehement gegen die Idee einer Weltrepublik, also einer zu starken Supranationalisierung, die er mit einem „seelenlosen Despotism“ (AA VIII, S. 367) gleichsetzt. Ich will hier nicht näher auf seine Kritik eingehen, aber bei aller zunehmenden politischen Integration, die ich für die EU ebenso wie du befürworte, wäre es m.E. notwendig, die Kompetenz-Kompetenz-Frage zu stellen und auch zu beantworten. Andernfalls geht erstens der bisherige Schlingerkurs mit dem Gerede über „Pfadabhängigkeit“ einfach so weiter. Und zweitens führt eine solche schleichende Integration möglicherweise zu eruptiven Gegenreaktionen wie dem Brexit. Auch der amerikanische Sezessionskrieg entzündet sich ja genau an der Frage, ob letztlich die Staaten oder die Union souverän sind.
Fazit: Eine weitere politische Integration sollte m.E. von einem geteilten Verständnis darüber begleitet werden, wo die Reise hingehen soll, welche Kompetenzen auf welcher Ebene liegen sollen und wer letztendlich darüber entscheidet. Mir ist schon klar, dass das in der politischen Praxis eher unwahrscheinlich ist, aber eine derartige (politische) Debatte vermisse ich eigentlich seit dem gescheiterten Verfassungsreferendum.
Lieber Wulf, das bist jetzt aber du und nicht ich, der Kant zum friedenspolitischen Universalkronzeugen macht... Ich hatte nur geschrieben, dass eines der heute in der Politikwissenschaft diskutierten Argumente auf Kant zurückgeht. Aber natürlich ist die Friedensforschung nicht vor 220 Jahren stehen geblieben, und so sollte man auch nicht alles, was Kant zu sagen hatte, für bare Münze nehmen. (Zum Beispiel wendet Kant gegen die Idee einer supranationalen Gerichtsbarkeit ein, dass "die Art, wie Staaten ihr Recht verfolgen, nie [...] der Prozeß, sondern nur der Krieg sein kann" – eine Vorstellung die inzwischen wohl als widerlegt gelten darf.)
LöschenIndessen gebe ich dir natürlich vollkommen recht, dass wir über Ziel und Zweck der europäischen Integration eine politische Debatte brauchen. Das ist ja nicht zuletzt der Grund dafür, dass es dieses Blog gibt.
@Manuel Müller
LöschenDas mit dem Prozess und dem Krieg ist interessant. Warum wohl bloß die Veto-Mächte des UN-Sicherheitsrats in so viele Kriege verwickelt sind? Vielleicht liegt Kant für die heutige Zeit ja doch noch richtig.
@Wulf Loh
Mit der „Europäischen Föderation“ habe ich meine Präferenz für den Weg der europäischen Einigung niedergeschrieben. Ich bin ganz Ihrer Meinung. Der Diskurs über die Weiterentwicklung Europas (und ich sage jetzt mal bewusst nicht EU) sollte dringend geführt werden.