21 März 2023

Mehr Demokratie durch mehr Mehrheitsentscheide: Warum die Abschaffung nationaler Vetorechte die Legitimität der EU erhöht

Von Julian Plottka
Meeting of the European Council
„Wenn nationale Vetorechte zu Entscheidungsblockaden führen, kann die EU nicht mehr responsiv gegenüber den Anliegen der Bürger:innen handeln.“

Nicht erst seit die Ukraine und Moldau im Jahr 2022 eine EU-Beitrittsperspektive erhalten haben, steht die Frage nach der Handlungsfähigkeit der Europäischen Union im Zentrum ihrer Reformdebatte. Wie lassen sich ein „geopolitisches Europa“ im Äußeren und die notwendige Transformation im Inneren mit 27 oder mehr Mitgliedstaaten und wachsender Entscheidungskomplexität erreichen?

Lange galt eine flexible oder differenzierte Integration als Mittel der Wahl, um eine Union, in der nicht alle Mitgliedstaaten die Vertiefung wollen, fortentwickeln zu können. Auch die Minilateralisierung von europapolitischen Initiativen ist angedacht worden. Spätestens seit der Konferenz zur Zukunft Europas gilt jedoch dem Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, also dem Verzicht auf ein mitgliedstaatliches Veto, erhöhte Aufmerksamkeit.

Trade-off zwischen Demokratie und Effizienz?

Dabei wird die Frage des Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU oft als ein Trade-off zwischen Demokratie und Effizienz europäischer Politik diskutiert. Die intergouvernementale, zweite Säule der demokratischen Legitimation der EU gilt als die stärkere, da das nationale Veto die Durchsetzung demokratisch getroffener Entscheidungen der nationalen Ebene sichert.

Der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen gilt dabei als in doppelter Weise effizient: Einerseits, weil die Einführung mithilfe der Passerelle-Klausel ohne große Vertragsreform möglich ist, und andererseits, weil der Schatten einer Mehrheitsentscheidung die Kompromissfindung im Rat erheblich erleichtert. Entscheidungen müssen nicht immer der kleinste gemeinsame Nenner sein, wenn Staaten mit abweichenden Positionen Gefahr laufen, überstimmt zu werden. Aus dieser Sicht bedeutet die Abschaffung von Vetorechten also mehr Effizienz, die durch eine Schwächung der demokratischen Legitimation der EU erreicht wird.

Unberücksichtigt bleibt in dieser Perspektive jedoch die Frage, ob Mehrheitsentscheidungen nicht auch dazu geeignet sind, die demokratische Legitimation der EU zu stärken. Dazu können vier Argumente dargelegt werden: Erstens, Mehrheitsentscheidungen stärken die Output-Legitimation der EU. Zweitens, Mehrheitsentscheidungen dämmen das „andere Demokratiedefizit“ der EU ein, das durch Defekte der politischen Systeme auf der nationalen Ebene entsteht. Drittens, Mehrheitsentscheidungen machen den Rat der EU transparenter. Viertens, die Wirksamkeit des Vetos zur Durchsetzung nationaler Interessen ist ein Selbstbetrug kleiner und mittlerer Mitgliedstaaten. Die vier Argumente werden im Folgenden im Detail diskutiert und erörtert.

1. Handlungsunfähige Politik kann nicht responsiv sein

Die Kernannahme der These vom substanziellen Demokratiedefizit der EU ist, dass das politische System der EU nicht demokratisierbar sei, weil der EU ein Demos, also ein Staatsvolk fehle. Demoi gebe es nur auf nationaler Ebene, weshalb – so sieht es auch das deutsche Verfassungsgericht – die Hauptquelle der demokratischen Legitimation europäischer Politik weiterhin die nationalen Parlamente seien. Mit jeder Kompetenzübertragung an die EU verschärfe sich das Demokratiedefizit, weil Entscheidungsrechte der nationalen politischen Institutionen durch bloße Mitwirkungsrechte auf europäischer Ebene ersetzt werden. Das nationale Veto ist aus dieser Sicht gewissermaßen die Notbremse, um Entscheidungen gegen nationale Interessen zu verhindern.

Diese Perspektive geht jedoch in ihrer formalistischen Sicht auf die Kompetenzordnung im europäischen Mehrebenensystem fehl. Neben der Frage, welche Ebene formell über eine Entscheidungskompetenz verfügt, stellt sich im Sinne des Subsidiaritätsprinzips immer auch die Frage, ob die jeweilige Ebene diese Kompetenz auch substanziell ausfüllen kann. Eine formelle Entscheidung, die wirkungslos bleibt, mag zwar formell entsprechend demokratischen Spielregeln beschlossen worden sein. Sie ist aber dennoch nicht responsiv gegenüber den Wähler:innen, da deren Anliegen nicht umgesetzt werden können.

Eine blockierte EU hilft den Bürger:innen nicht

Wenn nun der Fortbestand nationaler Vetorechte zu Entscheidungsblockaden auf europäischer Ebene führt und die EU dadurch handlungsunfähig wird, verschiebt sich das Problem der substanziellen Kompetenz auf die supranationale Ebene. Die EU wäre zwar substanziell handlungsfähiger als ihre Mitgliedstaaten, doch das Instrument, das die Mitwirkungsrechte der nationalen demokratischen Institutionen an EU-Entscheidungen sichern sollte, verhindert, dass die EU responsiv gegenüber den Anliegen der Bürger:innen handeln kann.

Dies zeigt sich besonders für die immer noch stark intergouvernemental geprägte Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dass im Angesicht des russischen Angriffs auf die Ukraine unerwartete Handlungsfähigkeit erzwungen wurde, ist noch kein Gegenbeweis, da ein politisches System auch außerhalb existenzieller Krisen handlungsfähig und responsiv sein muss.

2. Das „andere Demokratiedefizit“ delegitimiert Ratsentscheidungen

Der These vom substanziellen Demokratiedefizit der EU liegt weiter die Prämisse zu Grunde, dass alle Mitgliedstaaten der EU funktionierende Demokratien seien. Weltweit zu beobachtende Autokratisierungstendenzen haben aber auch in der EU zu einem „authoritarian equilibrium“ geführt, in dem sich in verschiedenen Mitgliedstaaten autoritäre Parteien an der Regierung halten können.

Gemessen am Index des Instituts Varieties of Democracy (V-Dem) wird Ungarn bereits seit 2018 als elektorale Autokratie und nicht mehr als Demokratie klassifiziert. Andere Indizes stufen Ungarn als „defekte Demokratie“ oder „hybrides Regime“ ein. Im V-Dem Democracy Report 2022 zählen Ungarn, Polen und Slowenien zu den sich am schnellsten autokratisierenden Staaten, im Bericht von 2023 ist Griechenland in diese Gruppe „abgestiegen“.

Für die ungarischen Parlamentswahlen 2022 kommt die Wahlbeobachtermission der OSZE zu dem Ergebnis, dass die Wahlen zwar frei, aber aufgrund eines starken Bias zu Gunsten der regierenden Partei Fidesz nicht fair waren. Die Regierung hatte einen deutlichen Vorteil in den Wahlkampagnen, die Wahlkampffinanzierung war nicht transparent und wurde unzureichend kontrolliert und die Wahlberichterstattung fiel einseitig zu Gunsten der Regierung aus, sodass die Wähler:innen keine informierte Wahlentscheidung haben treffen können.

Zugeständnisse per Vetodrohung

Die Präsenz autoritärer nationaler Regierungen in den europäischen Institutionen wird unter dem Begriff des „anderen Demokratiedefizit der EU“ diskutiert. In der bisherigen Debatte darüber liegt der Fokus primär auf den Ursachen der Autorisierung und der Unfähigkeit der EU, die nationalen Demokratiedefizite zu beheben. In zunehmendem Maße stellt sich jedoch auch die Frage nach den legitimatorischen Folgen, die eine nicht demokratisch gewählte Regierung für die europäische Politik hat. Sie lassen sich besonders gut an der Einigung über die Verordnung 2020/2092 über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union zeigen.

Der Konditionalitätsmechanismus wurde von der Kommission bereits im Mai 2018 in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vorgeschlagen. Auch wenn Ungarn und Polenvehement gegen den Mechanismus opponierten, hätte dieser mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können. Allerdings drangen die „sparsamen vier“ (bzw. später fünf) Staaten im Sommer 2020 darauf, die Rechtsstaatskonditionalität mit dem neuen mehrjährigen Finanzrahmen zu verbinden, der nur einstimmig beschlossen werden kann.

Durch diese Verknüpfung bekamen Polen und Ungarn eine Chance, mithilfe von Vetodrohungen Zugeständnisse beim Konditionalitätsmechanismus zu erzwingen. In der Folge verzögerte die Europäische Kommission nach dem Inkrafttreten der Verordnung am 1. Januar 2021 deren Anwendung und wurde vom Europäischen Parlament wegen Untätigkeit verklagt.

Europäische Demokratie schützen

Im dem geschilderten Fall ist es also einer nicht demokratisch gewählten Regierung gelungen, mithilfe des Einstimmigkeitserfordernisses Zugeständnisse zu erzwingen, die sowohl dem gesamteuropäischen Interesse als auch den nationalen Interessen der anderen Mitgliedstaaten entgegenliefen. Aus Perspektive der europäischen Steuerzahler:innen stellt das Vetorecht der ungarischen Regierung im Rat der EU und im Europäischen Rat ein nicht hinnehmbares Demokratiedefizit dar.

Hier wäre die Bedeutung des Artikel-7-Verfahrens neu zu bewerten: Die Aussetzung der Stimmrechte eines undemokratischen Mitgliedstaates ist nicht nur eine Strafmaßnahme, um die betreffende Regierung zu Reformen zu zwingen, sondern auch eine gebotene Schutzmaßnahme für die demokratische Repräsentation der Bürger:innen aller demokratischen Mitgliedstaaten. Da jedoch das Artikel-7-Verfahren (wiederum durch das Einstimmigkeitserfordernis) de facto nicht zur Verfügung steht, stellt der Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen das leichtere Mittel zum Schutz der Demokratie auf europäischer Ebene dar.

3. Geheimverhandlungen widersprechen demokratischen Standards

Das Demokratiedefizit, das durch die Beteiligung nicht demokratisch gewählter Regierungen entsteht, wird durch die Konstruktion des Ratssystems weiter verschärft. Bis heute arbeitet der Rat der EU nicht wie eine zweite Kammer der europäischen Legislative, sondern eher wie eine ständige internationale Konferenz der Mitgliedstaaten. In den aktuell mehr als 150 vorbereitenden Arbeitsgruppen und Ausschüssen des Rates tagen politisch nicht verantwortliche Beamt:innen der nationalen Regierungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Als nationale Diplomat:innen unterliegen die Mitglieder der Ratsarbeitsgruppen und -ausschüsse auch unter dem neuen Interinstitutionellen Abkommen keinen Pflichten im Rahmen des europäischen Transparenzregisters.

Dies verhindert, dass Bürger:innen ihre nationalen Regierungen für Entscheidungen im Rat zur Verantwortung ziehen können. Tatsächlich nehmen Regierungen öffentlich zuweilen andere Positionen ein als in den Ratsverhandlungen, wie beispielsweise in der Debatte über das sogenannte Country-by-country-Reporting multinationaler Unternehmen für die portugiesische Regierung nachgewiesen wurde.

Es fehlt an Verantwortung und Transparenz

Die Entscheidungsverfahren in diesen Gremien entsprechen deshalb nicht den Verfahrensstandards demokratischer Entscheidungsprozesse: Die Entscheidungstragenden sind in dem Sinne nicht politisch verantwortlich, dass sie der Öffentlichkeit gegenüber Rechenschaft über die Gründe ihrer Entscheidungen ablegen müssen. Die Entscheidungen sind nicht transparent, da die Öffentlichkeit wenig bis gar nichts über die laufenden Verhandlungen erfährt. Die Entscheidungsverfahren sind nicht offen in dem Sinne, dass Bürger:innen und Stakeholder Zugang zu den Entscheidungstragenden haben. In der Folge sind die Prozesse auch nicht inklusiv, da die beschränkte Zugänglichkeit zu den Beamt:innen in den Ratsarbeitsgruppen keine repräsentative Einbeziehung unterschiedlicher Interessen erlaubt.

Das zentrale Argument, mit dem diese Struktur europäischer Entscheidungsprozesse gerechtfertigt wird, ist die Erhöhung der Entscheidungseffizienz. Müssten die beteiligten Beamt:innen im Namen der nationalen Regierungen Rechenschaft über ihre Entscheidungen ablegen, würden sich die Verhandlungsspielräume einengen und Kompromisse erschwert.

Konsenskultur als Problem

Genau dieses Problem würde jedoch durch die Einführung und konsequente Anwendung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in allen Bereichen gelöst. Erst die Fortführung der Konsenskultur im Rat – der im Jahr 2021 87,6 Prozent aller Entscheidungen, für die die qualifizierte Mehrheit galt, einstimmig beschloss – erzeugt das Problem, da sie Regierungen unter Druck setzt, sich im Rat auf Kompromisse einzulassen, die sie öffentlich ablehnen.

Jenseits einer Reform des Ratssystems mit seinen Ausschüssen und Arbeitsgruppen würde eine konsequente Anwendung und Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen die demokratische Legitimation des Rates im Sinne von Transparenz und Rechenschaftspflicht stärken.

4. Selbstbetrug der kleinen Staaten: Das Veto sichert keinen Einfluss

Besonders skeptisch stehen der Ausweitung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen die kleineren und mittleren Mitgliedstaaten gegenüber, die ihr Vetorecht als Schutz gegen ein befürchtetes deutsch-französisches Direktorium in der Europapolitik betrachten. Tatsächlich können, wie zuvor für das Beispiel des Konditionalitätsmechanismus gezeigt, im Einzelfall mithilfe des Vetos Kompromisse erzwungen werden.

Grundsätzlich gilt jedoch auch im Rat, wie für die meisten Entscheidungsverfahren: Je früher eine Position in das Entscheidungsverfahren eingespeist wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Einflussnahme. In einem späten Verfahrensstadium mittels Vetodrohung Kompromisse zu erzwingen, bedarf dagegen erheblichen politischen Gewichts und vor allem einer glaubhaften Vetoposition. Der blockierende Staat muss bei einer Nichtentscheidung gegenüber einem Beschluss bessergestellt sein – andernfalls läuft eine Vetodrohung ins Leere.

Ein politischer Treppenwitz

Ob jedoch gerade die kleineren und mittleren Mitgliedstaaten diese Bedingungen erfüllen, ist zu bezweifeln. Im Gegenteil sind es eher die großen Mitgliedstaaten, die über politische und wirtschaftliche Macht mit höherer Wahrscheinlichkeit auch in einem späteren Stadium noch Einfluss nehmen könnten.

Angesichts dessen scheint sich in der Frage des Übergangs zur qualifizierten Mehrheitsentscheidung auf europäischer Ebene ein Treppenwitz anzubahnen: Mit Deutschland und Frankreich sind ausgerechnet die Mitgliedstaaten, die Vetodrohungen am effektivsten einsetzen können, für eine Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen, während sich die Staaten, deren Drohpotenzial am geringsten ist, am deutlichsten gegen Reformen aussprechen.

Vielleicht bietet jedoch die aktuelle außenpolitische Lage ein Möglichkeitsfenster: Insbesondere den zentral- und nordeuropäischen Staaten dürfte aktuell daran gelegen sein, dass weder Deutschland noch Ungarn Entscheidungen in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik blockieren können. Sollte sich aus dieser Konstellation ein Momentum für eine allgemeine Ausweitung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen ergeben, wäre das nicht nur für die Handlungsfähigkeit der EU, sondern auch für die europäische Demokratie ein Gewinn.

Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Passau und an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Dieser Beitrag ist Teil des Themenschwerpunkts „Überstaatliches Regieren zwischen Diplomatie und Demokratie – aktuelle Debatten um die Reform der EU“, der in Zusammenarbeit mit dem Online-Magazin Regierungsforschung.de erscheint.


Bild: Europäischer Rat: Krystian Maj / KPRM [Public Domain], via Flickr; Porträt Julian Plottka: privat [alle Rechte vorbehalten]; Europaflagge: Arno Mikkor (EU2017EE) [CC BY 2.0], via Flickr.

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